Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International, Kampagnen

Afghanistan: Revolutionäre Feministinnen zur Machtübernahme der Taliban

Eingereicht on 29. August 2021 – 14:32

Die Afghan Women’s Mission (AWM) hat sich mit RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) in Verbindung gesetzt, um über deren Bedürfnisse in dieser schwierigen Zeit anzusprechen. In diesem kurzen Gespräch mit der AWM-Ko-Direktorin Sonali Kolhatkar erklärt RAWA die Situation vor Ort aus ihrer Sicht.

Sonali Kolhatkar: RAWA hat sich jahrelang gegen die US-Besatzung ausgesprochen, und jetzt, wo sie beendet ist, sind die Taliban zurück. Hätte Präsident Biden die US-Truppen auf eine Weise abziehen können, die Afghanistan in einer sichereren Situation als der jetzigen belassen hätte? Hätte er mehr tun können, um sicherzustellen, dass die Taliban nicht so schnell die Macht übernehmen können?

RAWA: In den letzten 20 Jahren war eine unserer zentralen Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung. Allerdings wäre es viel besser, wenn sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokraten gleich mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergiessen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie hat unser Land zum korruptesten, unsichersten, drogenmafiösesten und gefährlichsten Ort gemacht, vor allem für Frauen.

Wir haben dieses Resultat von Anfang an vorhergesehen. In den ersten Tagen der US-Besetzung Afghanistans erklärte RAWA am 11. Oktober 2001:

«Die Fortsetzung der US-Angriffe und die Zunahme der Zahl unschuldiger ziviler Opfer gibt nicht nur den Taliban einen Vorwand, sondern wird auch dazu führen, dass die fundamentalistischen Kräfte in der Region und sogar in der Welt gestärkt werden.»

Der Hauptgrund, warum wir gegen diese Besatzung waren, war die Stärkung des Terrorismus unter dem schönen Banner des «Kriegs gegen den Terror». Von den ersten Tagen an, als die Plünderer und Mörder der Nordallianz 2002 wieder an die Macht kamen, bis zu den letzten so genannten Friedensgesprächen, Abmachungen und Vereinbarungen in Doha und der Freilassung von 5000 Terroristen aus den Gefängnissen im Jahr 2020/21 war es ganz offensichtlich, dass auch der Rückzug kein gutes Ende nehmen würde.

Das Pentagon beweist, dass keine der Invasionen oder Einmischungen zu einem sicheren Zustand führte. Alle imperialistischen Mächte marschieren in Länder ein, um ihre eigenen strategischen, politischen und finanziellen Interessen zu verfolgen, versuchen aber durch Lügen und mit Hilfe der mächtigen Konzernmedien, ihre wahren Motive und Ziele zu verbergen.

Es ist ein Witz zu behaupten, Werte wie «Frauenrechte», «Demokratie», «Nationenbildung» usw. seien Teil der Ziele der USA/NATO in Afghanistan! Letztendlich scheint es, dass die USA in Afghanistan waren, um die Region in Instabilität und Terrorismus zu verwandeln, um die rivalisierenden Mächte, insbesondere China und Russland, einzukreisen und deren Wirtschaft durch regionale Kriege zu untergraben. Aber natürlich wollte die US-Regierung keinen so katastrophalen, schändlichen und peinlichen Abgang, der einen solchen Aufruhr hinterliess, dass sie gezwungen war, innerhalb von 48 Stunden erneut Truppen zu entsenden, um den Flughafen zu kontrollieren und ihre Diplomaten und Mitarbeiter sicher zu evakuieren.

Wir sind der Meinung, dass die USA Afghanistan aufgrund ihrer eigenen Schwächen verlassen haben und nicht, weil sie von ihren eigenen Geschöpfen, den Taliban besiegt wurden. Für diesen Rückzug gibt es zwei wichtige Gründe.

Der Hauptgrund ist die vielschichtige interne Krise in den USA. Die Anzeichen für den Niedergang des US-Systems zeigten sich in der schwachen Reaktion auf die Covid-19-Pandemie, die Anschläge auf dem Capitol Hill und die grossen Proteste der US-Öffentlichkeit in den letzten Jahren. Die politischen Entscheidungsträger sahen sich gezwungen, die Truppen abzuziehen, um sich auf brennende interne Probleme zu konzentrieren.

Der zweite Grund ist, dass der Afghanistankrieg ein ausserordentlich teurer Krieg war, dessen Kosten in die Billionen gehen, allesamt aus Steuergeldern finanziert. Dies hat die USA finanziell so stark belastet, dass sie Afghanistan verlassen mussten.

Die kriegstreiberische Politik beweist, dass es nie ihr Ziel war, Afghanistan sicherer zu machen, schon gar nicht jetzt, wo sie abziehen. Ausserdem wussten sie, dass der Abzug chaotisch verlaufen würde, und trotzdem haben sie ihn durchgezogen. Jetzt steht Afghanistan wieder im Rampenlicht, weil die Taliban an der Macht sind, aber das war schon in den letzten 20 Jahren so, und jeden Tag wurden Hunderte von Menschen getötet und unser Land zerstört, nur wurde nur selten darüber in den Medien berichtet.

Sonali Kolhatkar: Die Taliban-Führung sagt, sie werde die Rechte der Frauen respektieren, solange sie nicht das islamische Recht verletzen. Einige westliche Medien stellen dies in einem positiven Licht dar. Haben die Taliban nicht vor 20 Jahren das Gleiche gesagt? Glaubst Du, dass sich ihre Einstellung zu den Menschen- und Frauenrechten geändert hat?

RAWA: Die Medien versuchen nur, Salz in die Wunden unseres heimgesuchten Volkes zu streuen; es ist eine Schande, wie sie versuchen, die brutalen Taliban zu beschönigen. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass es keinen Unterschied zwischen ihrer Ideologie von 1996 und heute gibt. Und was sie über die Rechte der Frauen sagen, sind genau die Phrasen, die sie während ihrer früheren dunklen Herrschaft verwendet haben: die Umsetzung der Scharia.

In diesen Tagen haben die Taliban in allen Teilen Afghanistans eine Amnestie ausgerufen, und ihr Slogan lautet: «Was die Freude an der Amnestie bringen kann, kann die Rache nicht bringen». Aber in Wirklichkeit töten sie jeden Tag Menschen. Erst gestern wurde in Nangarhar ein Junge erschossen, nur weil er die dreifarbige afghanische Nationalflagge statt der weissen Taliban-Flagge trug. Sie haben vier ehemalige Armeeangehörige in Kandahar hingerichtet und den jungen afghanischen Dichter Mehran Popal in der Provinz Herat verhaftet, weil er auf Facebook Anti-Taliban-Beiträge verfasst hatte; sein Verbleib ist seiner Familie weiterhin unbekannt. Dies sind nur einige wenige Beispiele für ihre gewalttätigen Aktionen trotz der «netten» und geschliffenen Worte ihrer Sprecher.

Wir glauben jedoch, dass diese Behauptungen der Taliban nur vorgespielt werden, und dass sie damit nur versuchen, mehr Zeit zu gewinnen, bis sie sich selbst organisieren können. Die Dinge haben sich so schnell entwickelt, und sie versuchen, ihre Regierungsstruktur aufzubauen, ihren Geheimdienst zu schaffen und das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Laster zu gründen, das für die Kontrolle der kleinen Details des täglichen Lebens der Menschen zuständig ist, wie die Länge des Bartes, die Kleiderordnung und das Vorhandensein eines Mahram (männlicher Begleiter, nur Vater, Bruder oder Ehemann) für eine Frau. Die Taliban behaupten, dass sie nicht gegen die Rechte der Frauen sind, aber dann sollte es im Rahmen der islamischen/Sharia-Gesetze geschehen.

Die islamischen/Sharia-Gesetze sind vage und werden von islamischen Regimes unterschiedlich ausgelegt, um ihre eigenen politischen Ziele und Regeln vorwärts zu bringen. Ausserdem möchten die Taliban, dass der Westen sie anerkennt und ernst nimmt, und all diese Behauptungen sind Teil eines beschönigten Bildes von ihnen. Vielleicht werden sie nach ein paar Monaten sagen, dass wir Wahlen abhalten werden, da wir an Gerechtigkeit und Demokratie glauben! Diese Behauptungen werden niemals ihr wahres Wesen ändern, sie bleiben islamische Fundamentalisten: frauenfeindlich, unmenschlich, barbarisch, reaktionär, antidemokratisch und fortschrittsfeindlich. Mit einem Wort: Die Mentalität der Taliban hat sich nicht geändert und wird sich nie ändern!

Sonali Kolhatkar: Warum sind die Afghanische Nationalarmee und die von den USA unterstützte afghanische Regierung so schnell auseinandergefallen?

RAWA: Einige der vielen zentralen Gründe sind:

1) Alles wurde gemäss einer Vereinbarung zur Übergabe Afghanistans an die Taliban gemacht. Die US-Regierung, die mit Pakistan und anderen regionalen Akteuren verhandelte, hatte sich darauf geeinigt, eine Regierung zu bilden, die hauptsächlich aus Taliban besteht. Die afghanischen Soldaten waren also nicht bereit, in einem Krieg zu sterben, von dem sie wussten, dass er dem afghanischen Volk nichts nützt, denn schliesslich wird er hinter verschlossenen Türen geführt, um die Taliban an die Macht zu bringen. Zalmay Khalilzad ist in der afghanischen Bevölkerung wegen seiner verräterischen Rolle bei der Wiedereroberung der Macht durch die Taliban sehr verhasst.

2) Die meisten Afghanen wissen sehr wohl, dass der Krieg in Afghanistan nicht von den Afghanen und zum Wohle des Landes geführt wird, sondern von ausländischen Mächten für ihre eigenen strategischen Interessen, und die Afghanen nur der Treibstoff für diesen Krieg sind. Die Mehrheit der jungen Menschen schliesst sich den Streitkräften an, weil sie aufgrund von Armut und Arbeitslosigkeit kein Engagement und keine Moral haben, um zu kämpfen. Es ist erwähnenswert, dass die Vereinigten Staaten und der Westen 20 Jahre lang versucht haben, Afghanistan zu einem Konsumland zu machen, und das Wachstum der Industrie behindert haben. Diese Situation führte zu einer Welle von Arbeitslosigkeit und Armut und ebnete den Weg für die Rekrutierung der Marionettenregierung, der Taliban und die Ausweitung der Opiumproduktion.

3) Die afghanischen Streitkräfte waren nicht so schwach, dass sie innerhalb einer Woche besiegt werden konnten, aber sie erhielten vom Präsidenten den Befehl, die Taliban nicht zu bekämpfen und sich zu ergeben. Die meisten Provinzen wurden friedlich an die Taliban übergeben.

4) Das Marionettenregime von Hamid Karzai und Ashraf Ghani bezeichnete die Taliban seit Jahren als «unzufriedene Brüder» und entliess viele ihrer brutalsten Kommandeure und Anführer aus den Gefängnissen.  Die Aufforderung an die afghanischen Soldaten, gegen eine Truppe zu kämpfen, die nicht als «Feind», sondern als «Bruder» bezeichnet wird, hat die Taliban ermutigt und die Moral der afghanischen Streitkräfte beeinträchtigt.

5) Die Streitkräfte waren von einer nie dagewesenen Korruption geplagt. Die zahlreichen Generäle (zumeist ehemalige brutale Kriegsherren der Nordallianz), die in Kabul sassen, kassierten Millionen von Dollar, die sie sogar von der Verpflegung und dem Gehalt der an der Front kämpfenden Soldaten abzweigten. «Geistersoldaten» waren ein Phänomen, das von SIGAR aufgedeckt wurde. Hochrangige Beamte waren damit beschäftigt, ihre eigenen Taschen zu füllen; sie leiteten das Gehalt und die Verpflegung von Zehntausenden von nicht vorhandenen Soldaten auf ihre eigenen Bankkonten um.

6) Wann immer die Truppen im harten Kampf von den Taliban belagert wurden, wurden ihre Hilferufe von Kabul ignoriert. In zahlreichen Fällen wurden Dutzende von Soldaten von den Taliban massakriert, als sie wochenlang ohne Munition und Lebensmittel im Stich gelassen wurden. Daher war die Zahl der Opfer unter den Streitkräften sehr hoch. Auf dem Weltwirtschaftsforum (Davos 2019) gestand Ashraf Ghani, dass seit 2014 über 45.000 afghanische Sicherheitskräfte getötet wurden, während im gleichen Zeitraum nur 72 Angehörige der US/NATO getötet wurden.

7) Die in der Gesellschaft insgesamt zunehmende Korruption, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Betrug, grosse Armut, Drogen- und Schmuggelhandel usw. bildeten den Boden für das Wiederauftauchen der Taliban.

Sonali Kolhatkar: Wie können die Amerikaner der RAWA und den afghanischen Menschen und Frauen jetzt am besten helfen?

RAWA: Wir haben grosses Glück und sind froh, dass uns die freiheitsliebenden Menschen in den USA in all den Jahren zur Seite standen. Wir brauchen die Amerikaner, um ihre Stimme zu erheben und gegen die kriegstreiberische Politik ihrer Regierung zu protestieren und die Stärkung des Kampfes der Menschen in Afghanistan gegen diese Barbaren zu unterstützen.

Es liegt in der Natur des Menschen, Widerstand zu leisten, und die Geschichte legt Zeugnis davon ab. Wir haben die glorreichen Beispiele des Kampfes in den USA: «Occupy Wall Street» und «Black Lives Matter»-Bewegungen. Wir haben gesehen, dass kein Mass an Unterdrückung, Tyrannei und Gewalt den Widerstand aufhalten kann. Frauen werden sich nicht länger fesseln lassen! Gleich am nächsten Morgen, nachdem die Taliban in die Hauptstadt eingedrungen waren, malte eine Gruppe unserer jungen, mutigen Frauen Graffiti an die Wände von Kabul mit dem Slogan: Nieder mit den Taliban!  Unsere Frauen haben jetzt ein politisches Bewusstsein und wollen nicht mehr unter der Burka leben, was sie vor 20 Jahren noch problemlos taten. Wir werden unsere Kämpfe fortsetzen und gleichzeitig intelligente Wege finden, um sicher zu bleiben.

Wir glauben, dass das unmenschliche US-Militärimperium nicht nur der Feind des afghanischen Volkes ist, sondern auch die grösste Bedrohung für den Weltfrieden und die Stabilität. Jetzt, da das System am Rande des Niedergangs steht, ist es die Pflicht aller friedliebenden, fortschrittlichen, linken und gerechtigkeitsliebenden Einzelpersonen und Gruppen, ihren Kampf gegen die brutalen Kriegstreiber im Weissen Haus, im Pentagon und auf dem Capitol Hill zu verstärken. Die Ersetzung des verrotteten Systems durch ein gerechtes und humanes System wird nicht nur Millionen von armen und unterdrückten Amerikanern befreien, sondern auch eine nachhaltige Wirkung auf alle Ecken der Welt haben.

Unsere Befürchtung ist, dass die Welt Afghanistan und die afghanischen Frauen vergessen könnte, wie unter der blutigen Herrschaft der Taliban Ende der 90er Jahre. Deshalb dürfen die fortschrittlichen Menschen und Institutionen in den USA die afghanischen Frauen nicht vergessen.

Wir werden unsere Stimme lauter erheben und unseren Widerstand und Kampf für die säkulare Demokratie und die Rechte der Frauen fortsetzen!

Quelle: afghanwomensmission.org… vom 29. August 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

Tags: , , , , ,