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Zynismus und Afghanistankrieg: Wer tötete Ahmad Schah Massoud?

Eingereicht on 1. September 2021 – 8:53

Sabine Schiffer. Zwei Tage vor dem 11. September, am 9.9.2001, starb der aussichtsreichste Kandidat auf das Präsidentenamt in einem geeinten Afghanistan, Ahmad Schah Massoud, der Löwe des Pandschschir, Führer der Nordallianz. Fatal, wie die falschen Reaktionen auf 9/11 sich als fatal erwiesen, war es, dieses Faktum zu übersehen.

Inkompetenz und Diskursmacht

Man wünschte sich angesichts des Desasters in Afghanistan, von den jetzt überraschten Politikern hätte einmal eine(r) am Friedensratschlag in Kassel teilgenommen, dem – vor der Corona-Krise – jährlich stattfindenden Treffen der Friedensbewegung Deutschlands. Dort gehört es zum Programm, Fachvorträge von Experten zu den Themen Geopolitik, Konversion, gewaltfreie Konfliktlösung, Medienmanipulation und Kriegspropaganda anzubieten.

Dort wurde der strategische Aufbau der afghanischen Kämpfer gegen die Sowjetunion frühzeitig kritisiert, ebenso die Militäraktion unter fadenscheinigen Argumenten im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001, die zudem ohne UNO-Mandat begonnen wurde. Auch für die Leserschaft von Fachzeitschriften, wie etwa das inzwischen eingestellte Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten (Inamo), ist die aktuelle Lage vor Ort keine Überraschung; nur traurige Bestätigung.

In den Debatten um den Abzug, der erst den vorläufigen Endpunkt einer Reihe von Fehlentwicklungen darstellt, sollte man sich erinnern, dass 15 der 19 mutmaßlichen Attentäter aus Saudi-Arabien stammten.

„Mutmaßlich“ korrekterweise darum, weil es in der Berichterstattung ansonsten üblich ist, Verdächtige so zu bezeichnen, bis ein Gerichtsprozess (und nicht Foltergeständnisse) die Schuld geklärt hat. Einen solchen Prozess gab es nie und einen Haftbefehl für Osama Bin Laden für die Anschläge von 9/11 auch nicht.

Zum zwanzigsten Jahrestag der Anschläge, die drei Türme des World Trade Centers zu Fall brauchten und 3000 Menschen das Leben kosteten, lehnt nun eine Initiative der Opferfamilien in den USA die Präsenz von Joe Biden bei Gedenkveranstaltungen ab und kritisiert die Instrumentalisierung der traumatischen Ereignisse – gleichzeitig fordern die Hinterbliebenen eine unabhängige Untersuchung der Beteiligung Saudi-Arabiens.

Warum Afghanistan? Diese Frage bleibt eine offene Wunde, die immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Auch wenn junge Journalisten heute ein Narrativ vom Afghanistankrieg pflegen, das vor allem durch Weglassen bestimmter – äußerst relevanter – Fakten entstehen konnte und einem strategischen Framing vermeintlicher Menschenfreundlichkeit unterliegt, das Versagen der Medien ist das Ergebnis von über 20 Jahren Kriegs-PR.

Zu den ausgeblendeten Fakten gehört ganz wesentlich ein Akteur, der zentral ist für die Geschichte Afghanistans war bzw. gewesen wäre und bis heute dort verehrt wird.

Ahmad Schah Massoud – der Löwe des Pandschschir

Wer erinnert sich noch an Ahmad Schah Massoud? Er war nicht einer von unzähligen Mudschaheddin der Nordallianz Afghanistans, sondern der designierte Führer einer geeinten afghanischen Nation – wenn es denn jemals eine hätte geben sollen in diesem heterogenen Land.

Als langjähriger Kämpfer gegen die Soldaten der Sowjetunion und später gegen die Taliban hat er sich in Afghanistan und international einen Namen gemacht. Ausländische Delegationen besuchten den charismatischen Mann, der in der Lage war, die zerstrittenen Gruppen des Landes an einen Tisch zu bringen – wie u.a. die französische TV-Dokumentation Massoud, le lion du Panjshir schildert.

Selbst Gulbuddin Hekmatyar zählte zu seinen Gesprächspartnern und bei Massoud trafen sich einst alle Führer der am heftigsten zerstrittenen Clans. Während er in deutschen Medien kaum eine Rolle spielte, thematisierte ihn die New York Times regelmäßig.

Massoud starb am 9. September 2001 – genau zwei Tage vor dem weltberühmt gewordenen 11. September und im Schatten desselben.

Eine lesenswerte Erinnerung an ihn fand sich zum fünfzehnten Todestag, am 9. September 2016, im Cicero. Lesenswert auch darum, weil die Schilderung des Anschlags auf Massoud durch eine bestimmte Faktenauswahl glänzt, die das gängige Narrativ stützen kann:

Ein arabisches Fernsehteam hat im nordafghanischen Tachar ein Interview mit Ahmad Schah Massoud verabredet, dem Anführer der afghanischen Nordallianz. Massoud, seine Begleiter und sein Dolmetscher betreten den Raum. Plötzlich explodieren die Kameras, Massoud wird in Fetzen gerissen. Der Raum füllt sich mit Blut, Körperteile fliegen umher. Die arabischen Reporter waren Al-Qaida-Agenten, die von Osama bin Laden geschickt worden waren, um dessen größten Widersacher zu beseitigen.

Cicero

Das klingt nur plausibel, wenn man nicht erwähnt, dass es sich um zwei tunesische Journalisten handelte. Warum aber sollte Al-Qaida, das ja angeblich in Afghanistan residierte, zwei Tunesier einfliegen, um Massoud zu töten? Die faktizierende Darstellung im Indikativ täuscht, auch dieser Mord wurde bis heute nicht endgültig aufgeklärt.

Ohne diesen Mord wäre Massoud wohl der Kopf Afghanistans geworden, wenn die Taliban – einst von den Gegnern der Sowjetunion hofiert und protegiert – erst vertrieben sein würden.

Das war das gemeinsame Ziel Massouds und seiner Wegbegleiter. Aus heutiger Sicht erscheint das naiv, aber man hätte ihm auch die Integration einzelner Akteure und ihrer Anhänger zugetraut. Jedenfalls wäre man an ihm so leicht nicht vorbeigekommen.

Wie es geworden wäre, wenn … bleibt spekulativ, denn Massoud wurde nach Jahrzehnten gefährlichsten Kampfes in den Bergen Afghanistans just in time ermordet – überblendet von dem traumatisierenden Ereignis in den USA.

Kurz vor 9/11 starb die Hoffnung Afghanistans. Kurz vor dem Ereignis, das das Schicksal des Landes so massiv beeinflussen würde.

Das Marionetten-Regime in Kabul

Als Aufenthaltsort des schnell deklarierten Drahtziehers hinter den verheerenden Anschlägen des 11. September war Afghanistan das erste Ziel auf der neu zu schreibenden Landkarte des Mittleren Ostens.

Bereits im Verlauf der ZDF-Berichterstattung am selben Abend wurde Osama Bin Laden als Hauptverdächtiger entdeckt. Ihn galt es in den Höhlen Afghanistans zu finden, nachdem die Afghanen ihn – angeblich – nicht ausliefern wollten; „angeblich“ darum, weil es in Ermangelung eines Haftbefehls (mitsamt Anklageschrift bezüglich des 9/11-Terrors) für Bin Laden natürlich auch kein Auslieferungsverfahren und schon gar kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten gab.

Als Vorwand reicht das Narrativ vielen Berichterstattern bis heute. Auf die entsprechenden Faktenchecks warten wir noch.

Massoud als idealer Souverän der Afghanen, die darauf bauten, einer Person ihres Vertrauens die Führung ihres Landes anzuvertrauen? Das wird der komplexen Situation im Land vermutlich nicht gerecht, aber sein Potenzial darf auch nicht unterschätzt werden – zumindest hätte er im schließlich folgenden Szenario sehr wahrscheinlich gestört.

Stattdessen tritt ein bis dahin völlig unbekannter US-Afghane, Hamid Karsai, auf die internationale Bühne, durch einen Anruf aus einer Höhle in Tora Bora direkt in die Petersberger Konferenz, wo die Zukunft Afghanistans beschlossen wurde. Dies beschreibt kenntnisreich und lohnend nachlesbar der ehemalige Al-Jazeera-Korrespondent in Deutschland, Aktham Suliman, in seinem Buch Krieg und Chaos in Nahost, in dem es auch um den verheerenden Krieg im Irak geht – ebenfalls begründet mit 9/11.

Karsai war vielleicht etwas zu auffällig mit dem Öl-Geschäft verbandelt, denn schnell sprach sich herum und erzeugte Misstrauen, dass er nicht als Politiker, sondern allenfalls als Berater des Energiegroßkonzerns Unocal bekannt war.

Das sollte nicht an die große Glocke gehängt werden, genauso wenig wie der Bau der lange verhandelten und vielfach abgelehnten Pipeline durch Afghanistan. Ein Projekt, das nicht den gewünschten Erfolg brachte.

Aber es taten sich ja noch weitere Ertragsfelder auf: seltene Erden und Opium. Die von außen eingesetzte Regierung litt von Anfang an unter fehlender Glaubwürdigkeit. Da konnte sich Karsai noch so sehr in traditionelle Gewänder wickeln.

Die Auswirkungen der Kriegswirtschaft

Wechselnde Kriegsgründe sind immer ein Indiz dafür, dass mit der völkerrechtlichen Legitimation etwas nicht stimmt. Tatsächlich spielte Osama Bin Laden bald, auch schon lange vor seinem offiziellen Tod, keine Rolle mehr, sondern das Militär flankierte plötzlich ganz humanitär das Bohren von Brunnen und Bauen von Schulen, den Wiederaufbau.

„Mädchenschule“ wurde zum Schlagwort eines geopolitisch motivierten Kriegseinsatzes, der ausblendete, dass zu Zeiten der russischen Besatzung die Mädchen in Afghanistan zur Schule gingen. Wenn dies das bis heute immer beschworene Ziel gewesen wäre…

Der gesamte Einsatz wurde klugerweise von den PR-Strategen der Militärs umbenannt – von „Infinite Justice“, was zu sehr nach Selbstjustiz klang, zu „Enduring Freedom“.

2010 veröffentlichte dann die Enthüllungsplattform Wikileaks das sogenannte Afghan Diary, Dokumente, die erstmalig die Kriegsverbrechen der Militärmission Isaf offenbarten – wozu unter anderem Folter, Drohnentötungen von Zivilisten und die einen jeden Krieg begleitende Prostitution gehörten – und die zu einer ersten Abzugsdebatte führten.

Diese wurde jäh unterbrochen und geriet dann ebenso in Vergessenheit wie Ahmad Schah Massoud. Für die Unterbrechung der Abzugsdebatte sorgte ein schreckliches Foto, das von Bibi Aischa mit abgeschlagener Nase und Ohren.

Auf dem Time Magazin vom 9. August 2010 lautete der Text zum Bild: „What happens, when we leave Afghanistan“. Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen?

Zwar war der Frau die Misshandlung während der Anwesenheit der ausländischen Truppen passiert. Und zwar war das Foto zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auch schon mindestens ein Jahr alt, aber es tat – instrumentell aktualisiert – seine propagandistische Wirkung: Zum „Schutz von Frauen und Kindern“ wurde der Kriegseinsatz verlängert.

Geschäfte haben dabei viele gemacht. Der Ehemann der Fotografin konnte seine Projekte in Afghanistan weiterverfolgen, die Spendenbereitschaft stieg erneut durch die verbleibende Anwesenheit der Isaf-Truppen, und die Waffenindustrie belieferte weiterhin alle Seiten.

Die beste, in elf Minuten auf den Punkt gebrachte, Analyse liefert ein Rapper: ein absolutes #MustListen, was Lowkey aus Großbritannien auf Double Down News an Fakten zusammenträgt über Interessen und relevante Zusammenhänge, die zumeist ausgeblendet bleiben.

Die afghanischen Menschen waren für die Strategen weniger von Interesse, aber als Argument wurden sie stets benutzt – diese Verachtung offenbart sich im unwürdigen Lavieren der deutschen Regierung um die Mitarbeiter, die man nach dem nun weitere zehn Jahre späteren Abzug vor Ort zurückgelassen hat; der Rache der Taliban gewiss.

Das Scheitern begann aber schon vorher; nicht erst mit Einmarsch, sondern schon viel früher, als man die Geister rief, die man schließlich nicht mehr loswird.

Die Verachtung trifft auch die eigenen Soldaten. Nicht, wie es den Menschen immer unterstellt wird, denn sie nicht für die weltweiten Kriegseinsätze sind, durch fehlende Unterstützung militärischer Interventionen – sondern umgekehrt, genau durch die Propagierung solcher Militäreinsätze statt sinnvolle und nachhaltige Lösungen zu finden, die mit der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker beginnen; und dabei reden wir von der Einmischung seit über 100 Jahren, die eine unabhängige Entwicklung im Mittleren Osten verhindert hat und Vorwände für weitere Einmischung liefert.

Es ist bitter für Soldaten, dies zu erkennen – wie es der ehemalige Offizier Daniel Lücking einräumt, u.a. in einem kürzlich geposteten Tweet.

Inzwischen ist bekannt, dass das Posttraumatische Belastungssyndom, unter dem er und viele Heimkehrer leiden, nicht nur durch die Schrecken vor Ort verursacht wird, sondern auch durch die Verlogenheit, fehlende Verantwortung der Entsender und das Erkennen der Sinnlosigkeit des eigenen Opfers.

Lücking schreibt in seinem Tweet vom 20.08.2021:

Aus einem anderen Leben. Erster Einsatz in #Afghanistan, #Kunduz, November 2005. 16 Jahre her. Damals glaube ich daran, es wir es mit den Menschen ernst meinen und an die Ziele, die die Bundesregierung propagierte.

Daniel Lücking

Diese Erkenntnis schmerzt erneut, aber sie bietet die einzige Chance auf Heilung.

Insofern kann man nur hoffen, dass die neu aufflammende Aufmerksamkeit für Ahmad Schah Massoud, die den Appell seines Sohnes auf Waffenlieferung flankiert, nicht schon wieder der erste Schritt in die falsche Richtung ist – weiterhin zu glauben, dass sich in Afghanistan oder sonst wo ein Konflikt durch Waffen lösen ließe, oder besser: uns glauben machen zu wollen, dass es dabei um die Menschen und nicht ums Geschäft geht.

Quelle: Telepolis.de… vom 1. September 2021

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