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Chinas Unterdrückung der Uiguren: „Volkskrieg gegen den Terror“

Eingereicht on 26. März 2021 – 9:31

Darren Byler präsentierte seine Analyse der Ereignisse in Xinjiang in der englischsprachigen Online-Veranstaltung „Terror-Kapitalismus. Die Einhegung der Uigur*innen im Nordwesten Chinas“ am 9. Januar 2021 (Podcast). Im Februar vertiefte er die angesprochenen Fragen in einem Interview mit Ralf Ruckus, das hier in leicht überarbeiteter Version vorliegt:

RR: Das KPCh-Regime hat die zunehmende Überwachung und andere Repressionsmaßnahmen in Xinjiang als notwendigen Teil seines „Volkskriegs gegen den Terror“ gerechtfertigt. Wie kam es dazu?

DB: Nach großen uigurischen Straßenprotesten, Polizeigewalt und Ausschreitungen in Urumqi, der Hauptstadt der Uigurischen Autonomie-Region Xinjiang, im Jahr 2009 führten die lokalen Behörden militarisierte Kampagnen eines sogenannten „harten Gegenschlags“ in der Region durch. Infolgedessen verschwanden mehrere tausend Uigur*innen – und der Unmut über Polizeibrutalität und staatliche Kontrolle nahm zu. Gleichzeitig stieg die Zahl der Landbeschlagnahmungen in ganz Süd-Xinjiang, da der Staat die Ansiedlung von Han in Gebieten mit uigurischer Bevölkerungsmehrheit förderte – ein weiterer wichtiger Auslöser der Spannungen.

Diese verstärkten Formen der Kontrolle und des legalisierten Landraubs waren die Hauptursachen der zunehmenden uigurischen Proteste und der gegen staatliche Akteure gerichteten Gewalt. Die staatlichen Medien bezeichneten solche Vorfälle als „Terrorismus“. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass oft die Mehrheit der bei diesen Vorfällen getöteten oder verletzten Menschen uigurische Täter*innen waren. Sie waren in der Regel unbewaffnet oder hatten improvisierte Waffen und wurden mit den automatischen Waffen der Polizei getötet oder verletzt. Während meiner Feldforschung in der Region in den Jahren 2014 und 2015 interviewte ich mehrere uigurische und Han-Zivilist*innen, die solche Vorfälle direkt miterlebt hatten. Einer war selbst von einer Kugel im Bein getroffen worden.

Während die Polizeigewalt und die Zahl der uigurischen Proteste zunahmen, änderte die Einführung von Smartphone-basierten Internetdiensten im Jahr 2011 die religiöse Praxis der Uigur*innen. Viele Uigur*innen nutzten WeChat, um über ihren Platz in der muslimischen Welt zu diskutieren. Die weniger regulierte privat-öffentliche Sphäre der uigurischen digitalen Sprache begünstige ein Aufblühen der uigurischen Glaubenslehre. Viele Uigur*innen wurden frommere Muslime. Meine Forschung zeigt, dass dies erstens eine Form des Abschirmung vom zunehmenden Druck durch die Ansiedlung der Han in den Gebieten der uigurischen Mehrheit und zweitens eine Form der Flucht vor der staatlichen Kontrolle über Bewegungsfreiheit, Bildungsmöglichkeiten und ökonomische Erfolgschancen war. Meine Interviewpartner*innen sagten, sie seien fromm geworden, „weil es ihnen Hoffnung gab“.

Ende 2013 und Anfang 2014 stieg dann die Zahl gewalttätiger Angriffe. Sie wurden von uigurischen Zivilist*innen verübt und nahmen direkt Han-Zivilist*innen ins Visier. Mehrere Vorfälle in städtischen Zentren wie Beijing, Kunming und Urumqi stachen besonders hervor. Diese koordinierten und geplanten Angriffe, bei denen Messer, Fahrzeuge und Sprengsätze zum Einsatz kamen, unterschieden sich von vielen anderen sogenannten terroristischen Angriffen, die häufig spontan waren und sich gegen staatliche Repräsentant*innen richteten. Als Reaktion auf diese Anschläge wurde der „Volkskrieg gegen den Terror“ ausgerufen.

Die „harter Gegenschlag“-Kampagne des „Volkskriegs gegen den Terror“ zielte jedoch auf weit mehr als auf die Kriminellen, die Anschläge verübten, und diejenigen, die sie unterstützten. Vielmehr kriminalisierte sie die religiösen Praktiken und die ethnische Zugehörigkeit zu den Uigur*innen. Anfangs wurden nur religiöse Führer in Lager geschickt; ab 2017 begann der Staat, die gesamte erwachsene muslimische Bevölkerung zu überprüfen. Es ging also nicht nur darum, Terrorismus zu verhindern, sondern Uigur*innen daran zu hindern, Muslime zu sein – und in gewissem Maße auch daran, Uigur*innen zu sein.

Die Maßnahmen der Aufstandsbekämpfung, Repression und Überwachung, die das KPCh-Regime in Xinjiang einsetzt, sind in gewisser Weise denen ähnlich, die von der US-Armee im Irak und in Afghanistan eingesetzt werden. Wo liegen die Verbindungen und Unterschiede?

Die Theorie der Aufstandsbekämpfung oder COIN (counter-insurgency theory) basiert auf drei Elementen: der umfassenden Überprüfung der aufständischen, neutralen und gegen Aufstand eingestellten Bevölkerungsteile, der Zerschlagung des sozialen Netzwerks der als aufständisch identifizierten Personen und der „Gewinnung der Herzen und Köpfe“ der übrigen Bevölkerungsteile. Kurz nachdem die Petraeus-Doktrin der Aufstandsbekämpfung – niedergelegt in einem US-Army-Handbuch des Generals David Petraeus, welches diese drei Elemente beschreibt – im Irak und in Afghanistan in den späten 2000er Jahren eingeführt worden war, begannen Polizei- und Militärtheoretiker*innen in China zu diskutieren, wie sie in dort angewendet werden könnte.

Sie stellten auch Überlegungen an, wie sogenannte präventive Polizeiprogramme aus Europa und Nordamerika – oft als CVE (countering violent extremism) bezeichnet – gegenüber der muslimischen Bevölkerung in China eingesetzt werden könnten. Kritische Terrorismusforscher*innen wie Arun Kundnani haben gezeigt, dass diese Programme auf dem Trugschluss beruhen, fromme islamische Praktiken führten zwangsläufig zu gewalttätigen Handlungen. Sie können auch zur Institutionalisierung von Islamophobie in gesellschaftlichen Institutionen eingesetzt werden.

Mit der Entfaltung des „Volkskriegs gegen den Terror“ ab 2014 begannen Polizeiakademien in ganz China und insbesondere in Xinjiang, diese beiden Modelle zu verbinden und auf die chinesische Antiterrorstrategie anzuwenden. In China zielt die Terrorismusbekämpfung eigentlich nur auf die muslimischen Turkvölker und in erster Linie die Uigur*innen. Diese neue Theorie und Praxis galt also im Wesentlichen den Uigur*innen. Das Amt für Öffentliche Sicherheit in Xinjiang übernahm diese Konzepte, um nachrichtendienstliche Operationen und Überprüfungen der Bevölkerung zu strukturieren und anzupassen.

Sogar der Einsatz von Lagern imitiert das US-Militär im Irak und dessen Erfindung der Kategorie „vorkrimineller“ Gefangener. Das Lagersystem in Xinjiang ist jedoch insofern einzigartig, als es die „Reform des Denkens“ oder Transformation der Gefangenen betont. Hier baut man auf dem maoistischen Erbe der Umerziehungslager auf. Die USA wollte im Irak „die Herzen und Köpfe“ der Nation gewinnen, welche die US-Armee gerade (viele Menschen tötend) zerstört und deren Land es besetzt hatte. Es ging jedoch nicht darum, die ideologische Umerziehung zwangsweise durchzuführen. Stattdessen wurde sie eher als Geschenk dargestellt und von verbündeten Führern in der muslimischen Bevölkerung selbst durchgeführt.

In Xinjiang spielen Zwang und Bestrafung eine starke Rolle, und die ideologische Umerziehung wird von nicht-muslimischen staatlichen Behörden und ihren Vertretern durchgeführt. In der chinesischen Literatur zur Polizeiarbeit bezeichnen Theoretiker*innen diesen Aspekt des präventiven Polizeiprogramms als dessen „chinesisches Merkmal“. Während eine ältere Denkweise zur Revolution der Massen aus der Mao-Ära eine organisatorische Rolle spielt, ist es wichtig daran zu erinnern, dass Xinjiang eine innere Siedlerkolonie Chinas ist. Die „Reform des Denkens“, die von den Han-Kolonisator*innen an den kolonisierten Muslimen durchgeführt wird, macht den revolutionären Kampf und das „Gewinnen der Herzen und Köpfe“ der Aufstandsbekämpfung zu einem kolonialen Kampf. In diesem Sinne unterscheiden sich die koloniale Beziehung zwischen China und Xinjiang und die imperiale Beziehung der USA zum Irak.

Welche wichtigen Maßnahmen hat die KPCh in Xinjiang im Hinblick auf Überwachung, Kontrolle und Ausbeutung ergriffen?

Entscheidend ist, dass die von den Ämtern für öffentliche Sicherheit in Xinjiang geförderte und umgesetzte Überwachung, die von privaten Technologiefirmen aufgebaut und aufrechterhalten wird, über die Kontrolle der muslimischen Arbeitskräfte und der Migration hinausgeht, also die scheinbar primären Ziele des Systems. Sie erstrecken sich auch auf uigurische und kasachische soziale Institutionen wie Moscheen, Schulen, heilige Stätten, das rituelle Leben und das Familienleben. Insofern ist das System wirklich kolonial und nicht bloß eines der kapitalistischen Akkumulation durch Enteignung.

Die Siedlerkolonisierung erfordert die Übernahme einheimischer sozialer Institutionen, um die einheimische Gesellschaft vollständig zu besetzen und die Herrschaft über das einheimische Leben sicherzustellen. Die Überwachungssysteme forcieren diese Prozesse und erweitern die Macht staatlicher Behörden und staatlicher Vertreter*innen, indem sie sicherstellen, dass die Kriminalisierung religiöser Praktiken und das Verbot der uigurischen und der kasachischen Sprache in Schulen durchgesetzt wird. Indem sie das Reisen einschränken, stellen sie auch sicher, dass die verbreitete Trennung von Familien durch Internatsschulen und Zwangsarbeit in Fabriken durchgesetzt werden kann.

Natürlich gibt es noch viele Lücken im Überwachungssystem, und die Überwachung durch Menschen bleibt notwendig. Deshalb hat der Staat über eine Million Staatsbedienstete mobilisiert, welche muslimische Familien „adoptieren“ und deren Aktivitäten überwachen. Diese „ausgesandten“ Angestellten städtischer Unternehmen und Institutionen führen ein Programm durch, das an ältere Kampagnen der maoistischen Ära erinnert, bei denen StadtbewohnerInnen aufs Land geschickt wurden, um von den Massen zu lernen oder in anderen Kampagnen als Erzieher*innen zu fungieren und medizinische Dienste zu leisten. Jetzt sollen die ländlichen uigurischen und kasachischen Massen von ihren adoptierenden „Verwandten“ lernen.

Die Kampagne hat auch ethnisch-rassistische und geschlechtsspezifische Komponenten. Fast alle städtischen „Verwandten“ sind nicht-muslimische Han, und viele sind männlich. Beides führt zu einer Stigmatisierung der sie aufnehmenden Familien, insbesondere wenn ein männliches Familienmitglied interniert worden ist. In einigen Fällen scheint es auch zu offener sexueller Gewalt durch männliche Besucher gegenüber weiblichen Mitgliedern der Gastfamilien zu kommen.

Die Überwachung durch Nachbarschaftskomitees und etwa 90.000 Hilfspolizist*innen soll auch dafür sorgen, dass Eheschließungen und Beerdigungen nach den herrschenden nicht-religiösen Regeln ablaufen, dass das Verbot von Beschneidungen und Fasten während des Ramadan eingehalten wird und dass sich niemand verschleiert und alle den Vorschriften zur Gesichtsbehaarung nachkommen.

Auch hier handelt es sich um mehr als nur eine ideologische Kampagne. Indem es in die Reproduktion des muslimischen Gesellschaftslebens selbst eingreift, bringt das Polizeisystem eine Vielzahl von Daten, Jobs und Investitionen hervor – und letztlich eine produktive Arbeitskraft, die ihrer letzten verbliebenen Formen von Autonomie beraubt wird. Die Kosten für die Entwicklung des Systems tragen die Uigur*innen und Kasach*innen, und in geringerem Maße die Polizist*innen und Staatsbediensteten der unteren Ebene.

In welcher Weise sind Frauen* oder Männer* noch in besonderer Weise betroffen?

Zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der uigurischen und kasachischen Internierten sind Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren. Das bedeutet, dass ein hoher Anteil der erwachsenen männlichen Bevölkerung, die für die Landarbeit und das Familieneinkommen entscheidend sind, ausfällt. Der Staat hat den verbleibenden Familienmitgliedern begrenzte Hilfeleistungen gewährt – meist in Form von Grundnahrungsmitteln wie Reis und Öl – und manchmal auch kleine monetäre Hilfen. Im Allgemeinen scheinen diese Familien jedoch durch die Internierungen weiter zu verarmen. Dies hat wiederum zu einer größeren Abhängigkeit vom Staat geführt. Eine Reaktion auf diese größere Abhängigkeit ist das Programm, mit dem Arbeitsstellen zwangsweise zugewiesen werden.

Berichte deuten derweil darauf hin, dass eine beträchtliche Zahl der Partner*innen von Internierten sich von ihren Ehemännern haben scheiden lassen, um der Stigmatisierung zu entgehen und einen neuen Ehepartner zu finden. Es scheint, dass diese Frauen in einigen Fällen Han-„Verwandte“ geheiratet haben, die zur Überwachung in die Gemeinden geschickt worden waren. Andere Familien haben dafür gesorgt, dass heiratsfähige Töchter Han-Männer heiraten.

Meine Recherchen und die von anderen lassen unklar, wie viele solcher Verheiratungen es gegeben hat. Es gibt jedoch Berichte aus zahlreichen Gemeinden über Zahlungen an Paare, die auf diese Weise verheiratet werden. Wir wissen auch nicht, in welchem Maße es bei solchen Ehen zu Nötigung kommt. Unbestreitbar ist jedoch, dass die politische Atmosphäre und der Druck der lokalen Behörden eine direkte Rolle bei diesen Eheschließungen spielen.

Ein weiteres Element des Systems ist die rigorose Durchsetzung der Gesetze zur Familienplanung in der Region. Gewöhnliche Bürger*innen erhalten Belohnungen, wenn sie Verstöße gegen die Gesetze zur Familienplanung melden. Viele Muslime, die in der Vergangenheit gegen diese verstoßen haben, sind in die Lager und ins Gefängnis geschickt worden. Regierungsdokumente belegen außerdem einen Anstieg der Mittel für systematische gynäkologische Untersuchungen, das Einsetzen von Spiralen und chirurgische Sterilisationen.

Diese neuen Programme zielen vor allem auf uigurische und kasachische Frauen, während gleichzeitig die gleichen Maßnahmen bei Han-Frauen zurückgenommen wurden. Damit scheint klar, dass es sich hier um eine Art Eugenik-Programm handelt, ähnlich wie die staatlichen Gesundheitsprogramme, die bis in die 1960er Jahre auf Schwarze und indigene Frauen in den USA abzielten. Der dramatische Rückgang der Geburten unter Muslimen in Xinjiang, der in Chinas staatlichen Statistiken Chinas erkennbar ist, lässt sich zumindest teilweise auf dieses System zurückführen. Eine noch größere Rolle für den Rückgang in der uigurischen und kasachischen sozialen Reproduktion könnte die endemische Familientrennung durch das Lager- und Fabriksystem spielen.

Kolonialismus und Ausbeutung

Xinjiang ist ein wichtiger Produzent von Baumwolle und anderen landwirtschaftlichen Gütern sowie von Öl und Mineralien. Welche Rolle spielt dies für die Politik der KPCh in Xinjiang?

Der Zentralregierung des chinesischen Entwicklungsstaats geht es vor allem um strategische Investitionen. Das müssen wir verstehen. Sie ist eher an langfristigen Renditen und der Absicherung der nationalen Wirtschaft interessiert und weniger an unmittelbaren Gewinnen. Zu ihren Prioritäten gehört die Verfügung über inländische Rohstoffquellen, die für eine florierende Industrie notwendig sind. Die Öl-, Erdgas-, Kohle- und Mineralienvorkommen in Xinjiang sind entscheidend für Chinas Energieunabhängigkeit. Baumwolle und Tomaten, die in Xinjiang angebaut werden und jeweils etwa 20 bis 25 Prozent des weltweiten Angebots ausmachen, sind ebenfalls wichtige Rohstoffe für die exportorientierte Produktion.

Seit den 1990er Jahren, als China zur „Fabrik der Welt“ wurde, haben sich diese Rohstoffsektoren zu Säulen der Wirtschaft in Xinjiang entwickelt. Ihretwegen zogen Han-Siedler*innen in die Region, zunächst zum Aufbau der extraktiven Produktions- und Förderanlagen und dann der weiterverarbeitenden Industrien und angeschlossenen Dienstleistungssektoren. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich Xinjiang zu einer klassischen peripheren Kolonie entwickelt, die den Metropolen Shanghai und Shenzhen zuarbeitet. Reibungsverluste bei der vollständigen Erschließung des wirtschaftlichen Reichtums der Region entstehen vor allem durch die geografischen Gegebenheiten und durch Ansprüche der einheimischen Bevölkerung.

Xinjiang ist „Frontline“ für die Belt-and-Road-Initiative (BRI) und dient als Verkehrsknotenpunkt und Standort neuer Infrastruktur. Wie wichtig ist Xinjiang für die Entwicklungsstrategie der KPCh in Westchina und im Zusammenhang mit der BRI? Inwiefern hängt die Unterdrückung der Uigur*innen und anderer Gruppen mit der wirtschaftlichen Rolle der Region zusammen?

Xinjiang ist tatsächlich ein wichtiger Knotenpunkt für die wirtschaftliche und politische Entwicklung Chinas in Südasien und Zentralasien. Es bietet Zugang zu bedeutenden Infrastrukturprojekten in Pakistan und möglichen zukünftigen Projekten in Afghanistan. Strategisch noch wichtiger ist wohl die Förderung von Erdöl und Erdgas, da Xinjiang über mehr als 20 Prozent der nachgewiesenen Reserven Chinas verfügt. Durch die Region verlaufen zudem ostwärts führende Pipelines aus den Erdgas- und Erdölfeldern des Kaspischen Meeres und Kasachstans.

Anfang der 2010er Jahre sah es auch so aus, als würde Xinjiang zum kommerziellen Zentrum Zentralasiens aufsteigen. Der Staat richtete in Grenzstädten mehrere Sonderwirtschaftszonen ein und begann gleichzeitig, die Mobilität der Uigur*innen einzuschränken. Da diese neuen Zonen uigurische Arbeitskräfte und Investitionen weitgehend ausschlossen und mit neuen Formen der Kontrolle verbunden waren, hatten sie tatsächlich stark negative Auswirkungen auf die Uigur*innen.

Die neue Strategie scheint Han-eigenen Unternehmen Anreize zu bieten, Uigur*innen in Zwangsarbeit zu beschäftigten. Sie nutzen die Polizeigewalt, Vereinbarungen mit lokalen Behörden, die Überwachungsinfrastruktur und die Drohung mit den Lagern, um Uigur*innen an Ort und Stelle festzuhalten. So hoffen sie, Xinjiang in ein zentralasiatisches Produktionszentrum zu verwandeln und gleichzeitig die Uigur*innen per Zwang für die chinesische Wirtschaft nutzbar zu machen.

Das KPCh-Regime hat die Internierungszentren für Uigur*innen und andere Gruppen als „Berufsschulen“ bezeichnet und damit suggeriert, dass seine Maßnahmen eine Form der Armutsbekämpfung und Förderung der persönlichen Entwicklung sind. Ist das plausibel? Und wie hängt das mit bisherigen Versuchen zusammen, die ganze Region zu entwickeln?

Offensichtlich spielt der Entwicklungsdiskurs für die Regierungspolitik in der Region eine zentrale Rolle. Zweifellos verstehen viele chinesische Bürger*innen die Ziele des Projekts auch so. Han-Chines*innen in Xinjiang und im ganzen Land zeichnen Xinjiang als „rückständig“. Insbesondere die Uigur*innen werden als „unzivilisiert“ angesehen, weil sie die chinesische Sprache nicht gelernt haben und dem Islam anhängen. Entwicklung gilt als etwas, das mit ihnen (und nicht von ihnen) bewerkstelligt werden muss.

In Xinjiang werden im Rahmen dieser Kampagne offensichtlich eine Menge „Arbeitsplätze“ geschaffen. Wenn Uigur*innen gezwungen werden, Chinesisch zu lernen und in der Fabrik Selbstdisziplin zu lernen, werden sie zu produktiven Arbeiter*innen und sehen vielleicht schließlich Vorteile darin, Teil der chinesischen Mehrheitsgesellschaft zu sein. So ist das wohl gedacht.

Was in diesem Rahmen nicht gesagt und selten untersucht wird, ist die Rolle der Überwachung und der kolonialen oder epistemischen Gewalt. Die Forscherin Jennifer Pan hat in einem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel Welfare for Autocrats. How Socials Assistance in China Cares for its Rulers [Oxford University Press, 2020] gezeigt, dass chinesische Programme zur „Armutsbekämpfung“ genutzt wurden, um problematische Bevölkerungsgruppen zu verwalten und zu kontrollieren – von Leuten, die Petitionen einreichten über Drogenabhängige bis hin zu religiösen Minderheiten.

Solche Programme stellen Arbeitsplätze bereit, und sie verstärken Formen der Überwachung, Ausbeutung und Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. Xinjiang steht als ein Extremfall für die Art und Weise, in der wirtschaftliche „Armutsbekämpfung“ Formen der Superausbeutung verdecken soll – wie durch die „Verlagerung“ der Produktion an Orte, an denen die Arbeit abgewertet wird.

Das heutige KPCh-Regime setzt einen seiner Meinung nach sozialistischen Modernisierungsdiskurs ein, demzufolge unterentwickelte Gebiete mit einer indigenen Bevölkerung „entwickelt“ werden müssen. Gibt es Parallelen zu christlich-missionarischen oder westlich-kapitalistischen Diskursen über eine solche Entwicklung?

Ich würde die in Xinjiang umgesetzten Programme nicht als „sozialistisch“ bezeichnen. Die Rechte der Arbeiter*innen sind durch das koloniale Verhältnis stark eingeschränkt und in diesem Kontext rassistisch überprägt. Deswegen sollten sie eher als staatskapitalistische oder kolonial-kapitalistische Programme bezeichnet werden.

Sie haben viel gemeinsam mit den kapitalistischen Kampagnen zur Landbesitznahme, aufgrund derer weiße Siedler*innen nach Oklahoma, Kalifornien oder Oregon kamen, um Land der Indigenen zu besetzen und als ihr eigenes zu beanspruchen. Die dann folgenden Missionierungskampagnen zur Befriedung von „Wilden“, die gegen die Enteignung und Besetzung ihres Landes protestierten, dienten dem Ziel: „Kill the Indian, Save the Man“ [„Den Indianer töten, den Menschen retten“, Zitat von Richard Henry Pratt].

Eine ähnliche Logik findet sich in staatlichen Dokumenten zu Armutsbekämpfungs- und Umerziehungsprogrammen in Xinjiang. In ihnen wird empfohlen, den Uigur*innen spirituelle und kulturelle „Qualität“ (im Chinesischen als suzhi bezeichnet) beizubringen und sie von der „Krankheit“ des „extremistischen Islam“ zu befreien. Letzteres nimmt Bezug auf maßgebende muslimische Praxen wie Moscheebesuch, Gebet, Koranstudium und Fasten während des Ramadan. Tätigkeiten in der Fabrik werden als nicht-religiös und modern gelobt, Landarbeit und uigurische kulturelle Praxen dagegen als unproduktiv oder „überflüssig“ abgewertet. Feste und Lebensrituale der Han-Mehrheit werden Muslim*innen als „normal“ nahegebracht, viele uigurische traditionelle Praxen in staatlichen Dokumenten als „anormal“ oder Zeichen von Extremismus beschrieben.

Welche Rolle spielen Diskurse einer Han-Überlegenheit, Verweise auf eine überlegene chinesische Kulturgeschichte oder aktive Versuche der Sinisierung ethnischer Minderheiten?

Im Laufe der 2010er Jahre hat die chinesische Zentralregierung ihre Ethnien-Politik verändert. Vorher betrieb sie eine Politik, die unterschiedliche Nationalitäten anerkennt, nun wurde jedoch das Primat einer chinesischen nationalen Identität betont. Gruppen mit reichen Sprach- und Literaturtraditionen wie Uigur*innen, Kasach*innen, Mongol*innen und Tibeter*innen, die bisher ein Bildungssystem in ihren eigenen Sprachen durchlaufen konnten, wurden nun gezwungen, in den Schulen Chinesisch zu sprechen.

Die angestammten Gebiete dieser Völker machen weite Teile des chinesischen Territoriums aus. Sie wurden im Kaiserreich besetzt und dann zu Binnenkolonien des modernen chinesischen Nationalstaates gemacht. Insofern handelt es sich hier nicht um eine Politik der Assimilierung gegenüber Einwanderer*innen wie in Europa oder den USA. Vielmehr müssen wir dies als geplante Eliminierung und Ersetzung der einheimischen Sprachen indigener Minderheiten betrachten, ganz ähnlich den Genozid-Programmen, die in Nordamerika gegenüber den amerikanischen Ureinwohner*innen angewandt wurden.

Es ist nicht klar, warum der chinesische Staat diese Kampagne zur stärkeren Kolonisierung dieser Minderheiten lanciert hat. Ein wichtiger Faktor scheint der in China zunehmende wirtschaftliche Druck zu sein. Ein weiterer Faktor ist Chinas wachsende Macht auf der globalen Bühne, aufgrund derer die chinesische Führung weniger Angst vor internationaler Verurteilung hat. Einen dritten wichtigen Faktor hat die kaschmirisch-britische Forscherin Nitasha Kaul kürzlich in einem Artikel im Made in China Journal ausgemacht: Chinas Vergangenheit als Opfer der europäischen, amerikanischen und japanischen Kolonialisierung. Kaul zufolge erzeuge diese „moralische Wunde“ den Impuls zur Kolonisierung anderer, um so die Macht und Stärke der chinesischen Nation zu beweisen.

Terror-Kapitalismus

Was umfasst der Begriff des „Terror-Kapitalismus“? Welche Formen von „Terror“ sind gemeint, und wie sind sie mit einer bestimmten Form des Kapitalismus in Xinjiang verbunden?

In diesem konzeptionellen Rahmen benennt der Begriff „Terror“ die Weise, in der Uigur*innen und andere Muslim*innen aus Xinjiang zum irrationalen Anderen und einer intrinsischen Bedrohung für die „zivilisierte“ Mehrheit gemacht werden. Sie als „Terrorist*innen“ zu bezeichnen ist eine gesellschaftlich akzeptierte Art, von „Wilden“ oder „Barbaren“ zu sprechen. Das ermöglicht die Ausrufung eines Ausnahmezustands jenseits der normalen Rechtsstaatlichkeit. Sobald jemand als Terrorist*in oder mögliche Terrorist*in bezeichnet wird, gelten die normalen Regeln des Schutzes von Bürger*innen nicht mehr. Aus der Bedrohung leitet der Staat zudem das Recht ab, die Nation und die Mehrheitsbevölkerung in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Dieser Ausnahmezustand bedeutet, dass Privatwirtschaft und Bürger*innen als Repräsentant*innen des Staates mobilisiert werden können.

Was ich bisher beschrieben habe, bezieht sich auf die besondere Form des gegenwärtigen sicherheits- und militärisch-industriellen Komplexes. Meine Argumentation geht noch weiter. Ich will untersuchen, welche Art von Kapital tatsächlich von diesem Komplex produziert wird und welche Rolle dies in der globalen Wirtschaft spielt.

Die erste Art von Kapital wird neben dem geistigen Eigentum, das den Überwachungs- und Polizeiinfrastruktursystemen selbst innewohnt, produziert: Daten. Am Kriegsschauplatz Xinjiang wurden intensiv Daten gesammelt, die einige der größten privaten und staatlich geführten Technologieunternehmen Chinas nutzen, um neue Instrumente der digitalen Forensik, der Bild- und Gesichtserkennung und der Spracherkennung zu entwickeln. Dahinter stehen Datenerhebungsprogramme, die den Unternehmen einen in Umfang und Genauigkeit beispiellosen Satz an Basisdaten zur Verfügung stellten. Die gesammelten Daten werden auch für sekundäre, kommerzielle Anwendungen genutzt.

Die zweite Form des Kapitals besteht in der unfreien menschlichen Arbeit, auf die durch das System der digitalen Einhegung zugegriffen werden kann. Seit 2018 bezeichnet die staatliche Entwicklungsbehörde das Lager- und Umerziehungssystem als „Säule der Wirtschaft“, die ebenso wichtig sei wie die bisherigen Ressourcen Erdöl, Erdgas, Baumwolle und Tomaten.

Staatlichen Dokumenten zufolge sind uigurische und kasachische „überschüssige Arbeitskräfte“ zu einer zusätzlichen Ressource der Xinjiang-Wirtschaft geworden, weil viele Privatunternehmen aus Ostchina ihretwegen Teile ihrer Produktion nach Xinjiang verlagert haben. Das digitale Einhegungssystem – Smartphone-Tracking, Straßenkontrollen, Scannen zu Gesichtserkennung und so weiter – wirkt zusammen mit der Angst vor willkürlicher Internierung, welche eine Form des staatlichen Terrors darstellt. Sie sorgen dafür, dass Uigur*innen und Kasach*innen an Ort und Stelle bleiben und schaffen so endemische Bedingungen der Unfreiheit.

Für die meisten Uigur*innen und Kasach*innen sind frei abgeschlossene Arbeitsverträge unerreichbar. Stattdessen werden die Arbeitsplätze zugewiesen, und es gibt auch keinen Raum, um über Löhne zu verhandeln oder gegen offenbar weit verbreitete Lohnpfändungen zu protestieren. In vielen Fällen steht den Menschen also „frei“, zwischen einem zugewiesenen Niedriglohnjob weit weg von ihren Familien und der Internierung zu wählen. Diese falsche Freiheit, ein Zustand jenseits der bloßen Abhängigkeit vom „freien“ Markt, meine ich, wenn ich den Begriff „unfreie Arbeit“ verwende. Wichtig ist, dass viele der in diesem System hergestellten Produkte direkt oder indirekt für den Export in Länder des globalen Nordens bestimmt sind. Deshalb bildet die unfreie Arbeit der Uigur*innen eine Frontlinie des globalen Kapitalismus.

Kurz gesagt benutzt der Terror-Kapitalismus also den Begriff des „Terrors“, um staatliche und private Kapitalinvestitionen in daten- und arbeitsintensive Industrien zu rechtfertigen. Wie in anderen Zeiten und Regionen eines rassistisch überprägten Kapitalismus wird die Bedrohung, die angeblich von uigurischen und kasachischen Körpern und ihrer Gesellschaft ausgeht, herangezogen, um sich ihr Land, ihre Daten und ihre Arbeitskraft legal anzueignen oder sie zu stehlen. In dem Prozess wird auch eine neue Frontlinie des globalen Kapitalismus geschaffen.

In meinem Buch Terror Capitalism. Uyghur Dispossession and Masculinity in a Chinese City [Duke University Press, December 2021] beschreibe ich die Art und Weise, wie koloniale Projekte als Frontlinien der kapitalistischen Expansion fungieren und so Kolonialismus und Kapitalismus jeweils aufeinander aufbauen. In meinem jetzigen Projekt greife ich die Arbeit von in Nordamerika lebenden Forscher*innen auf und untersuche, wie mit der Kategorie „Terrorist*innen“ und damit in Zusammenhang gebrachten und illegalisierten Bevölkerungsgruppen an Orten in Südostasien und den Vereinigten Staaten neue kapitalistische Frontlinien geschaffen werden.

Westliche Kritik, Sanktionen und Schweigen

Westliche Medien und Politiker*innen diskutieren die Unterdrückung der Uigur*innen in Xinjiang vor allem als Verstoß gegen Menschenrechte. Was legitimiert sie dazu, und wie steht es mit der Bilanz der westlichen Länder in Bezug auf Menschenrechte?

Die Bürger- und Menschenrechte aller müssen geschützt werden, aber viele Länder, wie die USA, setzen diese juristischen und diskursiven Konzepte im geopolitischen Wettbewerb als Druckmittel ein, während sie gleichzeitig Verstöße gegen diese Rechte im eigenen Land ignorieren. Um als Verfechterin der Menschenrechte, genauer gesagt des Antirassismus und der Dekolonisierung, ernst genommen zu werden, müssten die USA und andere Staaten aktive Schritte zur Umsetzung entsprechender Konzepte in ihrem eigenen Land unternehmen. Insbesondere die USA müssten die Verantwortung für den globalen Krieg gegen den Terror übernehmen, der Dutzende Millionen Menschen in die Flucht getrieben und China einen diskursiven und operativen Rahmen für seine Kampagne in Xinjiang geliefert hat.

Die Menschenrechte bieten zwar einen wichtigen juristischen Rahmen, der marginalisierten Völkern institutionellen Schutz geben kann, sie sollten jedoch in erster Linie als Mindeststandard für Schutzmaßnahmen betrachtet werden. Wenn sie zur einzigen analytischen Größe werden, nach der koloniale Gewalt bewertet wird, werden die wirtschaftlichen und politischen Triebkräfte struktureller Gewalt ausgeblendet. Zudem werden in dem Fall westliche Länder als überlegen gegenüber Staaten im Globalen Süden markiert, während man Letzteren unterstellt, dass sie die Domäne von Menschenrechtsverletzungen sind. Dabei wird auch ausgeblendet, dass die wirtschaftlichen Erfolge der westlichen Länder auf der Ausbeutung der Arbeitskräfte und Ressourcen der ärmeren Länder beruhen.

Westliche Medien und Politiker*innen verwenden die Begriffe Genozid, kultureller Genozid oder Ethnozid. Sind diese Begriffe angemessen?

Der Begriff Genozid impliziert ähnliche Probleme wie die verkürzte Menschenrechtsanalyse des Systems in Xinjiang. Die juristische Definition von Genozid ist viel weiter gefasst als die eines festgestellten Massenmordes, aber eben in diesem Sinne wird Genozid üblicherweise verstanden.

Auch in seiner weitesten Auslegung vernachlässigt das juristische Verständnis von Genozid zudem die strukturellen Aspekte, die mit dem genozidalen System verbunden sind. Das bedeutet, dass Genozidforschungen weitgehend abgekoppelt sind von Untersuchungen zu neuen kapitalistischen Frontlinien und Kolonialismus. Stattdessen konzentrieren sie sich stärker auf rassistischen Hass, der meiner Meinung nach dem fundamentaleren System ökonomischer Enteignung, kolonialer Herrschaft und Besatzung nachgeordnet ist.

Koloniale Projekte implizieren oft genozidale Gewalt, gehen jedoch weit über diese hinaus. Deswegen ziehe ich es vor, Debatten um Begriffe zu vermeiden und stattdessen zu beschreiben, wie Systeme aufgebaut werden und welche Auswirkungen sie haben. Aus meiner Sicht ist es eher nebensächlich, ob es sich bei dem, was geschieht, um einen Genozid oder im weiteren Sinne um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt – rechtlich gesehen sind für mich beide Sachbestände erfüllt.

Können wir von der Biden-Regierung in den USA eine andere Herangehensweise gegenüber China und in Bezug auf Xinjiang erwarten als von der vorigen Regierung unter Trump?

Ich hoffe, dass die USA sich nun bemühen, die islamfeindliche Politik der vorherigen Regierung rückgängig zu machen, und beginnen, enger mit Ländern mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit zusammenzukommen und mehr Verantwortung für die Kosten des globalen Kriegs gegen den Terror zu übernehmen. Solche gutwilligen Anstrengungen sowie gründliche und transparente Untersuchungen dessen, was vor Ort in Xinjiang geschieht, sind notwendig. Letztere könnten helfen, multilaterale Maßnahmen zur Unterstützung von Uigur*innen in der Diaspora aufzubauen, von Zwangsarbeit getragene Lieferketten zu untersuchen und die Komplizenschaft der USA bei rassistisch ausgerichteten Überwachungssystemen zu klären.

Die US-Regierung hat im Zusammenhang mit der Unterdrückung in Xinjiang Sanktionen gegen wirtschaftliche und politische Kräfte in China verhängt? Wie wirken diese Sanktionen?

Die USA verhängten gezielte Sanktionen gegen wichtige Führungspersönlichkeiten und staatliche Institutionen in Xinjiang. Außerdem ist US-Firmen der Verkauf von Produkten und Dienstleistungen an eine Reihe von Technologie-Firmen untersagt, die an der Überwachung mitwirken. Vor kurzem wurde zudem der Import von Baumwollprodukten aus Xinjiang verboten.

Diese Maßnahmen haben private und staatlich geführte Unternehmen schwer getroffen, die in das System in Xinjiang verwickelt sind. Der Staat, oder noch besser: eine unabhängige multilaterale Kommission, sollte offenlegen, warum diese Unternehmen mitschuldig sind. Dies würde erstens zeigen, ob hinter diesen Maßnahmen primär geopolitische Interessen stehen oder die Sorge um soziale Gerechtigkeit, und zweitens könnten andere Länder überzeugt werden, sich solchen Kampagnen anzuschließen.

Die Sanktionen geben dem System der Unterdrückung in Xinjiang einen moralischen und wirtschaftlichen Preis. Bei der Suche nach einer angemessenen Lösung für das Problem helfen sie jedoch wohl kaum. Sie sollten in erster Linie als Abschreckungsmaßnahme gegen jene verstanden werden, die sich zu Kompliz*innen des Systems machen. Als Linker denke ich jedoch nicht zuerst an Reaktionen des Staates, sondern setze mich für basisdemokratische Arbeiter*innenrechte und dekoloniale Koalitionen ein, die Solidarität mit den Uigur*innen aufbauen.

Mehrheitlich muslimische Länder bzw. Länder in der UNO haben die KPCh-Regierung nicht kritisiert oder sie sogar in der UNO unterstützt. Warum tun sie das?

China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und auch der wichtigste ausländische Akteur in den Volkswirtschaften vieler UN-Mitgliedsstaaten, die sich in dieser Frage auf die Seite Chinas geschlagen haben. China wird auch als Gegenmacht zur Hegemonialstellung der Vereinigten Staaten gesehen. Für viele Staaten wären die wirtschaftlichen und politischen Kosten einfach zu hoch, die sie zahlen müssten, wenn sie sich in dieser Frage gegen China stellten.

Außerdem vergreifen sich viele Regierungen ebenfalls an ethnischen Minderheiten in ihren Staaten und wenden sich gegen ein Eingreifen der UN in solchen Fragen. In einigen Fällen haben chinesische Medien die Tatsachen auch erfolgreich verzerrt und Berichte über die Lager als Fehlinformationen der US-Regierung dargestellt.

Trotz der Untätigkeit ihrer Regierungen unterstützen gewöhnliche Menschen in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern jedoch Aufrufe zur Solidarität mit den Uigur*innen. In Indonesien, Malaysia und Bangladesch kam es zum Beispiel zu großen Solidaritätsdemonstrationen. Eine groß angelegte Umfrage in Palästina ergab, dass mehr als achtzig Prozent der Palästinenser*innen den Medien- und Forschungsberichten über das Ausmaß und die Gewalt in den Lagern Glauben schenken und sich mit den Uigur*innen solidarisieren.

Druck von unten?

Welche Rolle spielen uigurische Diaspora-Organisationen in der öffentlichen Kritik an China?

Die Uigur*innen in der Diaspora leben verstreut an verschiedenen Orten der Welt. Sie sind eine recht kleine Bevölkerungsgruppe. Bis vor kurzem redeten die meisten nicht offen über die Formen der Diskriminierung, die sie erlebt hatten, weil sie Angst vor den Konsequenzen für ihre Familienmitglieder in China hatten. Darüber hinaus sprechen viele Uigur*innen in der Diaspora Uigurisch und Chinesisch als ihre Hauptsprachen und sind wenig mit den politischen und kulturellen Systemen ihrer Gastländer vertraut. Das bedeutet, dass es für sie schwierig ist, in ihren Gastländern größeren Einfluss auszuüben.

Aufgrund der Untätigkeit der Linken, die sich meistens auf andere – oft innenpolitische – Themen konzentrieren, sind es in den westlichen Ländern unglücklicherweise in vielen Fällen rechtsnationalistische Kräfte unter den Mächtigen, die den uigurischen Stimmen zuhören. Somit ist ihre Sache zum Spielball von Politiker*innen geworden, die bereits fremdenfeindliche und antichinesische Ansichten hegen. Einige Uigur*innen in der Diaspora sehen mittlerweile die Lösung des Problems in erster Linie in einem imaginierten ethnisch basierten Staat Ost-Turkestan.

Unter den Uigur*innen, die ich 2014 und 2015 in Xinjiang traf, war diese Ansicht weniger verbreitet. Sie waren in erster Linie an einer größeren Autonomie innerhalb Chinas interessiert, wie sie auch die chinesische Verfassung verspricht. Sie wollten reisen und sich frei Arbeit suchen können, und sie wollten eine bessere Zukunft für ihre Familien schaffen. Vorstellbar ist eine solche Zukunft nur, wenn die chinesische Regierung eine dramatische Kehrtwende ihrer Politik in Xinjiang vollzöge.

Welche Richtung sollte eine linke Strategie der Kritik und Unterstützung einschlagen?

In den letzten Jahren hat eine zweite Generation von uigurischen Forscher*innen, Student*innen und jungen qualifizierten Berufstätigen begonnen, die Situation differenzierter zu betrachten, der sie sich gegenübersehen. Diese jungen Linken wollen solidarische Beziehungen zu anderen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und Autonomie aufbauen, wie zum Beispiel mit den Bewegungen in Hongkong und Kaschmir sowie mit älteren Kämpfen wie denen der palästinensischen Befreiungsbewegung und der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika.

Alle Linken sollten sich mit dieser aufstrebenden Gruppe von Xinjiang-Linken solidarisieren und anerkennen, dass das, was in Xinjiang geschieht, eine Form der Kolonisierung ist und mit dem globalen Kapitalismus zusammenhängt. Linke sollten die Rolle der Staatsmacht, rassistische Herrschaftsausübung und die Superausbeutung durch multinationale Konzerne überall offenlegen und bekämpfen.

Auf jeden Fall sollten sie sich gegen die Kolonisierung indigener Völker wenden, unabhängig davon, ob diese Kolonisierung von europäischen Mächten durchgeführt wird oder nicht. Cornel West beschrieb das im Rahmen eines Interviews, in dem er sich zu China und anderen Gebieten äußerte, recht passend. Sinngemäß sagte er: Wenn wir im Kampf gegen den Kolonialismus konsequent sein wollen, müssen wir improvisieren. Damit meinte er erstens, dass ein Engagement für Antirassismus und Dekolonisierung bedeutet, immer und überall an der Seite der Unterdrückten zu stehen. Und er betonte zweitens, dass diese Positionierung verlangt, improvisierend gegen alle Formen des Imperialismus gleichzeitig Stellung zu beziehen. Das wiederum kann einen Internationalismus befördern, der die Stimmen der Unterdrückten in den Mittelpunkt stellt und verstärkt.

Inwieweit hat die bisherige Kritik an der KPCh-Regierung Wirkung gezeigt? Hat sie ihre Strategien entsprechend angepasst?

Meinem Eindruck nach hat der chinesische Staat auf den internationalen Druck reagiert, indem er einige der offensichtlichsten Formen der Überwachung und Unterdrückung in Xinjiang zurückgenommen hat. Einige Gefangene sind aufgrund direkten Drucks in weniger restriktive Formen der Haft überführt worden. Viele andere jedoch wurden aus den Internierungslagern in Gefängnisse gesteckt und wieder andere in die Zwangsarbeit geschickt.

Die Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu richten, hat also eine gewisse Wirkung gehabt, aber das reicht ganz und gar nicht. In der Folge wurde in erster Linie versucht, bestimmte Aspekte des Systems besser zu verbergen und gegenläufige Erzählweisen zu verbreiten. Das soll nicht heißen, dass es nicht doch zu grundlegenderen Veränderungen kommen könnte.

Mein Kollege Eli Friedman hat darauf hingewiesen, dass die chinesische Regierung ihre Politik oft erst mit Verzögerung ändert. Um ihr Image als Staatsmacht zu wahren, suggeriert sie so, dass ihre Reaktion nichts mit vorherigen Protesten zu tun hat. Wie der chinesische Staat reagieren wird, wenn der Druck in dieser Frage aufrechterhalten wird, lässt sich kaum abschätzen. Der durch das Xinjiang-System entstandene Schaden für sein Ansehen ist in China noch nicht vollständig zu spüren. Für China als aufstrebende Weltmacht ist es wichtig, ein Image zu pflegen, dem andere Länder nacheifern wollen. Letztlich wird dem chinesischen Staatswesen an dieser Stelle die Rechnung für Xinjiang präsentiert werden.

Quelle: nqch.org… vom 26. März 2021

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