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Venezuela: Ein taumelndes Regime

Eingereicht on 7. Oktober 2018 – 16:45

Simón Rodríguez Porras. Die Hyperinflation dauert nun bereits ein Jahr und sie wird sich aller Voraussicht nach weiter beschleunigen; gemäss einigen Prognosen könnte sie auf eine Million Prozent pro Jahr steigen. Mehr als zwei Millionen Menschen, 7 Prozent der Bevölkerung, haben das Land in den letzten drei Jahren verlassen, und die Zahl der Fliehenden wächst täglich. Am offiziellen Parteikongress der Regierungspartei PSUV wurde es offensichtlich, dass es zu neuen Spaltungen und internen Säuberungen gekommen ist, und es wurde klar, dass chavistische Militärs in den vergangenen Monaten an Verschwörungsplänen gegen die Regierung verwickelt waren.

Die Reaktionen der Regierung auf die Krise bestehen aus der Aussortierung von Sündenböcken und aus Massnahmen, die gegen die breite Bevölkerung und gegen die Arbeiterklasse gerichtet sind; diese Massnahmen werden das Tempo des wirtschaftlichen Verfalls jedoch nicht bremsen. Zudem wartet die Regierung mit einem Entwurf einer neuen Verfassung mit zusätzlichen diktatorischen Vollmachten auf, der hinter dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung diskutiert wird. Dies ist das chaotische Panorama des Landes, das von der Bolibourgeoisie regiert wird.

Inflationskorrektur und Barbarei mit der Aufschrift „Made in Chavismo“

Die Preise verdoppeln oder verdreifachen sich monatlich. Die Entscheidung der Regierung, über die letzten vier Jahre die Auslandsschulden mit mehr als 80 Milliarden Dollar zu bedienen, hatte katastrophale Folgen mit einem Rückgang der Importe um mehr als 80 % und einer Halbierung der Inlandsproduktion. Obwohl die Regierung darauf bestanden hatte, dass die Inflation das Ergebnis einer politischen Verschwörung sei, gestand Maduro schließlich ein, dass das zweistellige Haushaltsdefizit jahrelang durch das Drucken von Geld gedeckt wurde. «Wir mussten so spielen», sagte er und rechtfertigte die schlimmste Inflationskorrektur in unserer Geschichte.

Trotz des erheblichen Anstiegs der internationalen Ölpreise hat Venezuela wegen des anhaltenden Rückgangs der Produktion nicht davon profitiert; diese liegt derzeit bei rund einer Million Barrel pro Tag. Der größte Teil dieser Produktion befindet sich in den Händen von Joint Ventures mit transnationalen Unternehmen wie Chevron, ein weiterer Teil ist an die Schuldentilgung gegenüber China gebunden. Welche Rolle in der Krise kommt dabei den vor einem Jahr von Trump verhängten Wirtschaftssanktionen zu, mit denen Transaktionen mittels neuer Emissionen venezolanischer Staatsschulden verboten wurden? Diese Rolle ist wohl eher beschränkt, denn bis dahin war das BIP bereits um mehr als einen Drittel gesunken, und wir standen kurz vor einer Hyperinflation.

Sogar dann fuhr die Regierung fort, das Land auszubluten, indem sie Geschäftsleuten und Bürokraten billige Petrodollars zu einem winzigen Bruchteil des parallelen Wechselkurses überliess. Zwischen Ende Juli und Anfang September dieses Jahres wurde ein verheerendes Maßnahmenpaket angekündigt: Befreiung von der Einfuhrsteuer für Investitionsgüter, Rohstoffe und Produktionsmittel; Befreiung für ein Jahr von der Gewinnsteuer für Ölmultis und die Zahlung von 2 Milliarden Dollar als Entschädigung für die Yankee-Ölgesellschaft Conoco Phillips; Abschaffung des gratis-Benzins und dessen Anhebung auf das internationale Preisniveau, unter Beibehaltung einer wichtigen Subvention mittels der staatlichen Kundennetze; ein gigantischer Anstieg der Kosten für Transport und öffentliche Dienstleistungen; eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Drittel von 12% auf 16%; die Abwertung des offiziellen Wechselkurses um 96%; eine Lohnanpassung, die den Mindestlohn auf einen Dollar pro Tag anhob, aber in weniger als einem Monat durch die Hyperinflation auf die Hälfte gesenkt wurde und die Zusicherung, 90% der Lohnsumme der kleinen und mittleren Industrebetriebe für drei Monate zu finanzieren.

Die angebliche Absicht, das Haushaltsdefizit zu beseitigen, wurde durch Subventionen und Steuerbefreiungen zugunsten der Unternehmer hintertrieben. Die einfache Befreiung der Ölgesellschaften von den Steuern bedeutete, dass in diesem Jahr mehr als eine Milliarde Dollar weniger eingenommen werden. Geschäftsleute, die mit dem türkischen Autokraten Erdogan verbandelt sind, erhalten in Konzession Kohlebergwerke im Nordwesten des Landes, der niederländische Multi Shell erhält Gasvorkommen, die mit Trinidad und Tobago geteilt werden, es werden Neuverschuldung über mindestens 5 Milliarden Dollar unter drakonischen Bedingungen mit China vereinbart, im Rahmen von Programmen, die denen der neoliberalen Ölöffnung in den 90er Jahren ähnlich sind, werden Abkommen zur Ölförderung an private Unternehmen vergeben. Dabei sei daran erinnert, dass 12% des Staatsgebiets an transnationale Goldunternehmen wie Barrick Gold im Orinoco Mining Arc übergeben werden.

Interne Konflikte im Regime

Während dieses Maßnahmenpakets umgesetzt wurde, wurden die Brüche innerhalb des Regimes immer offensichtlicher. Inmitten großer Widersprüche zwischen den Machtgruppen fand der Kongress der PSUV statt, der 2007 von Chávez gegründeten Partei der Klassenzusammenarbeit, wobei es zur Marginalisierung und Entlassung des Bildungsministers und Chavista-Chefs Elías Jaua gekommen ist. Es ist der letzte in einer Reihe von Brüchen innerhalb der Führung der Chavistas. Zwischen 2014 und 2016 brach eine Gruppe ehemaliger Minister mit der Regierung Maduro, einer von ihnen, der ehemalige Innenminister Rodríguez Torres, befindet sich seit Anfang dieses Jahres im Gefängnis. Ab Ende 2017 wurden gegen ca. hundert hohe Beamte der Pdvsa, dem Bereich des ehemaligen Ölministers Rafael Ramírez, unter Anklage wegen Korruption gestellt.

Das angeblich gescheiterte Drohnen-Attentat vom 4. August, das die Militärgruppe „Soldados de flannel“ (Flanellsoldaten) beanspruchte, wies auf die Verletzlichkeit der Regierung. Maduro versuchte, die Wirkung der Bilder von Hunderten von Truppen der Bolivarischen Nationalgarde zu herunterzuspielen, die die Formation aufbrachen und sich auf der Avenida Bolívar in Caracas auflösten. Das Regime beschuldigte den scheidenden kolumbianischen Präsidenten Santos und drückte gleichzeitig sein «Vertrauen» in die Regierung Trump aus, indem es das FBI einlud, sich an der Untersuchung zu beteiligen. Es wäre nicht die einzige Verschwörung der letzten Zeit, die aus der Armee hervorgegangen ist. Nach Informationen, die an die US-Presse weitergegeben wurden, trafen sich Diplomaten der Trump-Regierung mit chavistischen Militärs, die einen Staatsstreich planten, obwohl sie das Projekt letztendlich nicht unterstützten. Mehrere Verschwörer wurden von der Regierung verhaftet. Ebenso wurde bekannt, dass Trump seinen Beratern vorgeschlagen hätte, in Venezuela einzufallen, aber sie hätten den Vorschlag abgelehnt. Es gibt keinen imperialistischen Konsens über eine mögliche militärische Aggression gegen Venezuela, dies wird jedoch bereits offen vom Generalsekretär der OAS, Luis Almagro und von einigen Sprechern der pro-amerikanischen Opposition im Exil vorgeschlagen.

In diesem Zusammenhang hat die Nationale Verfassungsgebende Versammlung mit diktatorischen Befugnissen unter dem Vorsitz von Diosdado Cabello einen neuen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der die Amtszeit des Präsidenten auf 7 Jahre erhöht und die Wiederwahl des Präsidenten auf eine einzige anschliessende Amtszeit beschränkt. Maduro legte im vergangenen Jahr unsinnige Ziele für die neue Verfassung fest, wie die Förderung des «Friedens», eines «neuen Wirtschaftssystems nach dem Öl», einer «multipolaren Welt» und einer «neuen Spiritualität». Konkret wurde dies in Artikel übersetzt, die darauf abzielen, den repressiven Rechtsapparat der Diktatur zu stärken. So wird beispielsweise der Anwendungsbereich des Verbrechens des «Verrats» und der Definition des «Terrorismus» erweitert.

Der Sieg über die Bolibourgeoisie ist möglich

Seit Anfang des Jahres kommt es zu Streiks und Mobilisierungen der Arbeiterklasse, wobei der öffentliche Gesundheitssektor im Vordergrund steht. Von durchschnittlich 30 Protesten pro Tag in der ersten Jahreshälfte, die meisten davon über Forderungen nach Rechten wie Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Lohnerhöhungen, bis hin zu mehr als 70 Protesten pro Tag im Juli, gemäss dem venezolanischen Observatorium für soziale Konflikte. Dies wirkte sich auf die Entscheidung der Regierung aus, den Mindestlohn im August von einem Dollar pro Monat auf einen Dollar pro Tag zu erhöhen, was die Proteste für einige Wochen besänftigte. Die Einführung von Lohntabellen, die tatsächlich Tarifverträge ablösen, hat jedoch die Unruhe unter der Arbeiterklasse verschärft, ebenso wie die rasche Verdunstung von Lohnerhöhungen und die anhaltende Nahrungsmittelknappheit. Unter der Arbeiterklasse beginnt sich eine neue Protestbewegung herauszubilden, im Universitätssektor werden Versammlungen durchgeführt und die Notwendigkeit eines nationalen Streiks erhoben, Arbeiter der staatlichen Elektrizitäts- und Telekommunikationsunternehmen sind aufmarschiert und fordern die Einhaltung ihrer Tarifverträge.

In einer Zeit, in der die Krise der Opposition der Bosse vollständig ist und sich die Kämpfe unter den Chavistas verschärfen, ist der Wiederaufbau der Arbeiterbewegung entscheidend, indem neue Organe, regionale und nationale Koordinationen der kämpfenden Arbeiter aufgebaut werden, die es ermöglichen, die Konfrontation gegen die Regierung zu vereinheitlichen. Einige Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen. Die entstehende Bewegung kann ein alternatives Programm wie das von der PSL und anderen Sektoren der linken Opposition gegen die Anpassung und die gescheiterte Klassenkollaboration der Regierung aufgeben: Die Forderung eines Mindestlohnes in Höhe der Grundbedürfnisse, wie sie in der canasta básica  festgelegt sind und konkrete Maßnahmen, die diese Erhöhung des Reallohns gegen die Inflation absichern, wie die Nichtbedienung der Auslandsschulden, die Verstaatlichung der Ölindustrie, die Rückführung von Kapital und die Beschlagnahmung von Eigentum und Konten der Korrupten, eine Agrarreform und die Rettung der Eisen- und Aluminiumunternehmen.

Quelle: laclase.info… vom 6. Oktober 2018. Übersetzung aus dem Spanischen von Redaktion maulwuerfe.ch

 

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