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Officine in Bellinzona: Die SBB müssen sich an die Vereinbarungen halten!

Eingereicht on 23. März 2016 – 12:47

Der einmonatige Streik mit Betriebsbesetzung vom März und April 2008 der SBB Werkstätten in Bellinzona (Schweiz) hat damals internationales Aufsehen erregt.

Damals wandten sich die gegen 500 Arbeiterinnen und Arbeiter erfolgreich gegen die Schliessung ihres Betriebes. Sie haben schnell begriffen, dass sie den Kampf nur gewinnen können, wenn sie möglichst die ganze Bevölkerung hinter ihr Anliegen scharen können und diese in einen Prozess der Massenmobilisierung einbinden. Aber nicht nur dadurch arbeiteten sie in eine Richtung, die den Schweizerischen Gewerkschaften fremd ist. Sie machten gleich am Anfang klar, dass nur das Streikomitee berechtigt ist, mit der Geschäftsleitung der SBB Verhandlungen zu führen und nicht die Gewerkschaft. Dies führte dann in den grössten erfolgreichen Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen in der Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung.

Sie haben damit die Lehren gezogen aus früheren Erfahrungen in der Schweizer Gewerkschaftsgeschichte, insbsondere aus der katastrophalen Niederlage der 400 Arbeiterinnen und Arbeiter der Swissmetal in Réconvilier im Jahre 2006. Damals haben diese spontan gegen die angekündigte Entlassungswelle die Arbeit niedergelegt, den Betrieb besetzt und ebenfalls eine breite Solidarisierung in der Bevölkerung aufgebaut. Aber damals hat die Gewerkschaft Unia hinter ihrem Rücken, ohne ihre Beteiligung, Verhandlungen mit der Geschäftsleitung geführt. Dabei wurden die Abbaumassnahmen durch die Gewerkschaftsführung mit einem Sozialplan (der später nur teilweise eingehalten wurde) genehmigt. Der kühne Kampf  Arbeiterinnen und Arbeiter mündete damit in eine katastrophale Niederlage.

Diese demobilisierende Praxis der Gewerkschaftsführungen zieht sich wie ein roter Faden durch beinahe das ganze 20. Jahrhundert und fand ihren ersten dramatischen Höhepunkt anlässlich der bedingungslosen Kapitulation der Gewerkschaftsführung beim Generalstreik vom November 1918, zur Zeit der deutschen Novemberrevolution, ein Jahr nach der russischen Oktoberrevolution! Auch damals handelte die Streikführung ohne Einverständnis ihrer Basis. Die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, einer Zeit des Aufbruchs auch in der Schweizer Arbeiterbewegung, war ebenfalls gekennzeichnet durch diese disziplinierende Rolle der Gewerkschaftsführungen, wie beispielsweise in dieser Broschüre über die Arbeiterkämpfe in dieser Periode   nachgezeichnet wird. Wir haben schon mehrfach auf dieser Seite Beiträge zu neueren Arbeiterkämpfen und der Rolle der Gewerkschaftsführungen publiziert.

Im folgenden Interview mit Gianni Frizzo, das in der Zeitung Solidarietà des Tessiner Movimiento per il socialismo vom 17. März 2016 erschienen ist, geht der Führer des Streikkomitees auf die weiteren Entwicklungen und die aktuellen Herausforderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter der Officine ein. Die Übersetzung aus dem Italienischen erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch

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Die Arbeiter der Officine haben an ihrer letzten Versammlung klar und unmissverständlich verlangt, dass sich die SBB an die unterzeichneten Vereinbarungen halten solle. Um welche Vereinbarungen geht es dabei, und inwiefern halten sich die SBB nicht daran?

Es handelt sich um Abkommen, die den Officine in Bellinzona (OBe) eine über mehrere Jahre gesicherte Perspektive hinsichtlich der Beschäftigung und des Weiterbestehens sichern sollten. Sie wurden zuerst am sogenannten “Runden Tisch” vereinbart und später in den offiziellen Dokumenten zur Gründung des Projektes Centro di Competenze (CdC) immer wieder bestätigt. Die SBB haben sich beispielsweise öffentlich dazu verpflichtet, die folgende Vereinbarung zu unterzeichen, indem sie ausdrücklich auf dieses Abkommen  Bezug nehmen: “Die SBB versichern den Officine in Bellinzona für die nächsten Jahre Auftragsvolumen in analoger Grössenordnung zu den aktuellen und verpflichten sich zur Umsetzung einer klaren Strategie, um dieses Volumen auch mittel- bis langfristig zu stabilisieren und nachhaltig weiterzuentwickeln. Die SBB sorgen für die notwendigen organisatorischen Anpassungen in den Officine Bellinzona, mit dem Ziel, diesen auch langfristig eine erfolgreiche Position auf dem Markt zu sichern” (…).

In der OBe verweisen die heute vorliegenden, durch Zahlen abgestützten Tatsachen auf eine Entwicklung, die stark abweicht von dem, was im erwähnten Abkommen festgeschrieben wurde. In der Tat zeichnet sich für das laufende Jahr bereits eine besorgniserregende Reduktion des Arbeitsvolumens ab, ein Defizit von über 20% gegenüber dem, was vereinbart wurde. Ein Zustand, der sich unweigerlich in der Zahl der Beschäftigten und den entsprechenden Abschätzungen für die kommenden Jahre niederschlagen wird. Dies gibt uns keine Sicherheit, im Gegenteil, vor unseren Augen nimmt das Gespenst des programmierten Niedergangs immer mehr Gestalt an. Überdies haben die SBB keinerlei Absicht, den OBe innovative Tätigkeiten anzuvertrauen, wie etwa Elektrozüge, Lokomotiven der neuen Generation, Zugselektronik, usw. Sie blockieren uns vielmehr auf veralteten Technologien, die kurz vor dem Auslaufen stehen. Wenn wir dann noch die fehlenden Investitionen  und die uns durch die SBB von der Zentrale her aufgezwunge Organisation in Betracht ziehen, erscheint es beinahe undenkbar, dass die OBe je konkurrenzfähig am Markt wird auftreten können. Eine Gleichung also, deren Resultat zum Vorneherein feststeht!

In den vergangenen Wochen scheint sich jedenfalls der Konflikt zu verschärfen, in dem die Arbeiter und Arbeiterinnen der Officine den SBB über den oben beschriebenen Vertrag seit einiger Zeit gegenüberstehen. Bedeutet dies, dass ihr nicht mehr an die Versprechen der SBB glaubt, oder dass ihr nicht mehr bereit seid, weitere Verzögerungen bei der Umsetzung dieser Verträge hinzunehmen?

Es geht da nicht einfach um eine Frage von mehr oder weniger Glaubwürdigkeit, sondern darum, dass die SBB mit den Vorschlägen, die sie gegenüber den OBe seit zwei, drei Jahren vorbringt keinerlei Zweifel darüber aufkommen lässt, was die Folgen für die OBe wären. Es steht mittlerweile ausser Zweifel, was die SBB mit den unterschriebenen Vereinbarungen beabsichtigen: Sie haben sie nicht eingehalten und aufgrund aller uns bekannten Indizien hatten sie nie und nimmer die Absicht, sich je an diese zu halten. Punkt! Ein provozierender und offensichtlich bedrohlicher Sachverhalt für das Überleben der OBe, der uns keinesfalls gleichgültig lassen kann, sowohl uns wie auch alle anderen –  die Kantonsregierung, den Gemeinderat eingeschlossen – nicht, die seit 2008 erklärt haben, sich um das Schicksal der Officine und ihrer ca 500 Lohnabhängigen zu kümmern.

In euren Stellungnahmen bezieht ihr euch oft auf die Rolle, die die politischen Autoritäten spielen müssten, insbesondere die Tessiner Kantonsregierung. Inwiefern verlangt ihr ein entschiedeneres Eingreifen?

Wir benötigen dringend die Einsetzung einer Art von “zivilem Volksgericht”. Dieses muss die direkte und indirekte Verantwortung aller, nebst den Managern und Betriebsleitern vor allem der Organisationen und der politischen Institutionen, die  mit ihrer Passivität, ihren Ablenkungsmanövern und ihren Schlampereien zur Verschleuderung der “öffentlichen Güter” beigetragen haben, verhandeln und einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Dies betrifft natürlich das, was über die vergangenen Jahre in den Officine in Bellinzona geschehen ist, aber auch andere Realitäten der Arbeitswelt, die von öffentlichem Interesse sind, unter anderen die RSI. Es wird immer unverständlicher und unakzeptierbarer, dass es auf politisch-institutioneller Ebene nicht gelingt, genaue und verbindliche Verträge durchzusetzen, die von den SBB unterschrieben wurden, und zwar nicht vor hundert Jahren, sondern “vorgestern”!

Eine Übernahme der politischen Verantwortung, die neben der Sicherung der vorhandenen Beschäftigung der Pflege des so hoch gepriesenen “sozialen Friedens” dienen würde, würde das extrem provokatorische Verhalten der SBB erneut auf eine harte Probe stellen. Wir müssen also nun erneut, ganz gegen unseren Willen, sehr gut vermeidbare Kriegspläne ausarbeiten, um das zu bestätigen, was durch verfassungsmässige Urkunden (Vereinbarung über das Kompetenzzentrum, usw.) unzweideutig besiegelt wurde. Vereinbarungen, die durch die politischen Kräfte gegenüber der SBB ohne Wenn und Aber vollumänglich durchgesetzt werden müssten!

Für die kommenden Wochen sind verschiedene Aktivitäten vorgesehen. Ihr habt eine breite Petition zur Unterstützung eurer Forderungen lanziert. Am 19. März wird dann das sogenannte Officine-Fest gefeiert, das in einer, sagen wir mal, heissen Phase stattfindet. Und dann?

Nach dem 15. April, dem Ablauf der Frist für die SBB zur Umsetzung und die Einhaltung der unterschriebenen Vereinbarungen, wird sich das Personal der Officine versammeln, um über die zu treffenden Massnahmen zu diskutieren und zu entscheiden. Darüber hinaus ist auf den 20.April hin eine Versammlung des Vereins „Giù le mani“ angesetzt. Alle diese Schritte zeugen von einem entsprechenden kollektiven Sinn für Verantwortung, um den SBB nicht zu erlauben, ihr Ziel einer Zerschlagung der OBe zu erreichen. Gerade dies wurde ja 2008 dank der mutigen und beispielhaften Mobilisierung der Arbeiterschaft, unterstützt durch eine einhellige und spannende Unterstützung in der breiten Bvölkerung, verhindert. Wir werden unsere Strategie einer Antwort aufgrund der Entscheide der SBB und, parallel dazu, der politischen Insttutionen (Kantonsregierung,…) festlegen…

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