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Autorenkollektiv: Arbeiterkämpfe in der Schweiz 1945 – 1973. Die Entstehung einer multinationalen Arbeiterklasse

Eingereicht on 30. November 2014 – 15:17

Wir bringen im Folgenden die Wiedergabe einer Broschüre einer Schweizer Strömung des Operaismus aus dem Jahre 1974. Sie bringt eine bis heute einmalige Zusammenstellung von Arbeiterkämpfen über die beinahe 30 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Da diese Broschüre zudem kaum mehr auffindbar ist, rechtfertigt sich die Arbeit, sie erneut zugänglich zu machen. Uns ist keine Arbeit bekannt, die so weit in die wirklichen Verhältnisse und Probleme der Arbeiterklasse in ihrem Alltag und vor allem in ihren Kämpfen vordringt. Wenn die angekündigte Arbeit von Frédéric Deshusses ( Grèves et contestations ouvrières en Suisse 1969-1979) erscheint, wird man sehen, ob sie zumindest annähernd in eine ähnliche Richtung zielt.

Man mag eine lange Liste von Kritik an den Einschätzungen und vor allem an den strategischen und taktischen Schlussfolgerungen der Operaisten und Ansätzen der Arbeiterautonomie vorbringen, die teilweise oder weitgehend gerechtfertigt sind. Dieser Ansatz, der die Arbeiterklasse als das Hauptsubjekt im modernen Kapitalismus voraussetzt, das Subjekt, das «das Kapital mit seinen Kämpfen vor sich her treibt»,  hat sich unseres Erachtens vor allem historisch als verfehlt herausgestellt. Insbesondere wären die über die vergangenen 30 bis 40 Jahre erlittenen Verschärfungen der Arbeitsdisziplin, des Vormarsches der Warenform bis tief in alle Arbeits- und Lebenszusammenhänge, der Atomisierung der Arbeiterklasse und andere regressive Entwicklungen vor dem Hintergrund einer über die Zeit gesehen «spontan wachsenden Kampfkraft eines Subjekts  Arbeiterklasse» nicht verstehbar. Die Operaisten waren denn auch – angesichts der sich abzeichnenden Stagnation und gar Rückschläge der Arbeiterkämpfe – zum bewaffneten Kampf übergegangen,  quasi als Substitution für die zunehmend stagnierenden Arbeiterkämpfe. Sie verstiessen dabei gegen eines der Grundprinzipien ihres Ansatzes, indem sie versuchten «den Arbeiterstandpunkt stellvertretend für die Arbeiter einzunehmen» (52).  Eine wichtige «Inspiration» dafür waren die seit den 1950er Jahren da und dort erfolgreichen bewaffneten antikolonialistischen Kämpfe in Palästina, Indochina, Afrika und die Guerillas in Lateinamerika.

Kein Wunder, dass dieser Ansatz der Arbeiterautonomie in Italien Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre zur vollen Blüte gelangte: damals gipfelten die Kämpfe der Arbeiter und Arbeiterinnen vor allem in Norditalien in der Besitznahme von Fabriken, Stadtteilen, Universitäten und  sie begannen, die Arbeits- und Lebenszusammenhänge von Hundertausenden mit einem Licht von Freiheit und Würde zu beleuchten, das weit herum zu sehen war, und die Bourgeoisie in den USA und in Europa zum Zittern brachte. In dieser Zeit begann denn auch die Schweizer Armee ihre Übungsdispositive und Einsatzdoktrinen – nebst dem Dauerbrenner eines Krieges gegen die Sowjetunion – auch auf Arbeitererhebungen auszurichten.

Der wohl richtige Kern des Ansatzes der Operaisten liegt darin, dass erfolgreiche Kämpfe nur möglich sind, wenn sie nicht vollständig durch die Führungen der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung – den Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, den Kommunistischen Parteien – kontrolliert werden können, sondern wenn  es ihnen gelingt, diese in  den Dienst ihrer Kämpfe zu stellen. Gerade in Norditalien entwickelten sich die Arbeiterkämpfe ausserhalb dieser institutionell orientierten Strukturen, und gerade dies verhalf ihnen zu ihrer historisch beinahe einmaligen Durchschlagskraft. Ebenso sehr ist der Historische Kompromiss, wie er von massgebenden Kreisen der PCI spätestens seit den frühen siebziger Jahren angestrebt wurde, ein wesentlicher Faktor, der zur Lähmung der italienischen Arbeiterbewegung beitrug.

In den letzten Jahren kannte die Schweiz mehrere Arbeiterkämpfe, die die Insignen der Autonomie trugen, etwa die Streiks im öffentlichen Sektor in Genf, wo die Streikenden einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Kämpfe hatten. Oder kleinere Konflikte im Tessin (Verkauf, Industrie).Das vielleicht leuchtendste Beispiel ist der Streik vom Frühjahr 2008 in den SBB-Werkstätten in Bellinzona, wo die Arbeiter gleich zu Beginn klar deklarierten, dass ausschliesslich das von ihnen gewählte Streikkomitee für alle Belange des Kampfes zuständig sei und nicht die Gewerkschaft; diese wurde so zum Instrument des Kampfes unter der Kontrolle der Arbeiter. Allen diesen Kämpfen ist ebenfalls gemeinsam, dass sie ihn an die Öffentlichkeit trugen und versuchten, eine breite Solidarität aufzubauen. (Redaktion maulwuerfe.ch)

Die Broschüre: Arbeiterkämpfe in der Schweiz 1945 – 1973

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