Im zerstörten Mariupol: Greueltaten durch Neonazibataillon
Guillermo Quintero. Bevor ich in die ukrainische Hafenstadt Mariupol fahre, spreche ich mit einem jungen spanischen Journalisten, der gerade dort gewesen ist. Er erzählt mir unter anderem davon, dass er »Dutzende Menschen befragt« habe, die »alle bestätigt haben, dass ›Asow‹ wahllos mit Scharfschützen auf Zivilisten schießt«. Das neonazistische »Asow«-Bataillon hat in Mariupol sein Hauptquartier und ist Teil der ukrainischen Nationalgarde.
Nach einer Menge Papierkram und nachdem wir Helme und kugelsichere Westen auftreiben konnten, erhalten wir die Genehmigung, nach Mariupol zu fahren. Doch die Erlaubnis kommt so plötzlich, dass wir nicht einmal Zeit haben zu tanken. Unser unermüdlicher Leiter und Übersetzer erzählt: »Mariupol ist eine Hafenstadt mit etwa einer halben Million Einwohnern, von großer Bedeutung für Donezk. Auch hier fand 2014, nach dem Massaker von Odessa, ein Referendum über die Unabhängigkeit statt.« Und auch dort hätten dabei die Unabhängigkeitsbefürworter gewonnen. »Im selben Jahr begann die Konfrontation mit der Ukraine, und Pro-NATO-Kräfte drangen in Mariupol ein.« Seitdem lebten die Menschen unter dem Kommando des »Asow«-Bataillons in Angst.
Nachdem wir viele Kontrollpunkte passiert haben und wegen des schweren Beschusses Umwege auf uns nehmen mussten, erreichen wir die Stadt. Das erste, was ich sehe, ist ein großer ehemaliger Verbrauchermarkt. Hier werden humanitäre Hilfsgüter aus Russland verteilt, es gibt Tausende Menschen, Warteschlangen, Krankenwagen und Leute, die nach vermissten Angehörigen suchen. Dann die brutale Zerstörung von Mariupol. Überall verbrannte, zerstörte, bombardierte Gebäude. Es ist ein danteskes Bild einer einst blühenden Stadt. Zwischen den Trümmerhaufen liegen Abfälle, Spielzeug, Gebrauchsgegenstände, ich sehe auch ein totes Tier, das ich nicht identifizieren kann.
Wir erreichen einen mehr oder weniger sicheren Punkt, schwere Artillerie tönt etwa 700 Meter entfernt von hier. Wir können filmen und den Leuten frei Fragen stellen. Eine Familie kocht Tee und etwas, das wie Suppe aussieht, auf einem behelfsmäßigen Grill. Ein älterer Mann bittet mich um Essen – zum Glück ist mit uns zusammen ein Transporter mit humanitärer Hilfe gekommen. Auf der einen Seite der Straße fegt eine Frau rund um die Ruinen, vielleicht, um wieder so etwas wie Normalität herzustellen. Ich frage eine Familie, warum sie trotz der Artillerieangriffe hierbleibt: »Wir können nirgendwo hin. Unser Haus ist hier, und wir haben kein Geld oder irgend etwas außerhalb von hier.« Außerdem wollten sie weiter nach verlorengegangenen Verwandten suchen, wird mir erklärt.
Auf einem Spielplatz sehen wir mehrere improvisierte Gräber, hier scheinen die Detonationen näher. Anwesende erklären: »Wir müssen die Toten schnell begraben, um den Ausbruch von Krankheiten zu vermeiden.« Auf dem Weg zu dem Punkt, von dem aus wir zurückkehren sollen, bleibe ich beim Anblick eines großen, sehr frischen Kraters stehen. Er scheint durch eine Explosion verursacht worden zu sein. Als ich mich vorsichtig dem Rand nähere, entdecke ich, dass es sich um ein Massengrab handelt. Darin liegen mehrere Leichen, die mit Plastik und Decken bedeckt sind. »›Asow‹ hat uns sehr schlecht behandelt, sie sind schlimmer als Faschisten, sie sind Tiere«, sagt eine alte Frau, die ich treffe.
Auf dem Weg zurück nach Donezk geht uns fast das Benzin aus – mitten im Nirgendwo, ganz in der Nähe ist Artilleriefeuer zu hören. Nachdem wir ein halbes Dutzend zerstörter Tankstellen passiert haben, finden wir glücklicherweise eine funktionierende. Alle Beschriftungen sind auf ukrainisch, obwohl wir uns in einem mehrheitlich russischsprachigen Gebiet befinden. Wir haben es geschafft und die Stadt über große Umwege wieder erreicht.
»›Asow‹ ist in der Fabrik (›Asow‹-Stahlkombinat im Osten von Mariupol, jW) und im Hafen konzentriert«, erklärt ein Mann namens Andrej. Ihre Situation sei ausweglos, »aber in der Zwischenzeit wollen sie so viele Menschen wie möglich töten, auch wenn es Zivilisten sind«. In Donezk sind Hunderte Zivilisten untergekommen, denen die Flucht aus Mariupol gelungen ist. »Aus den Häusern heraus und zum humanitären Korridor zu kommen ist ein Kunststück«, sagen uns Menschen vor einem Aufnahmezentrum. Sergej und seine Partnerin wollen nicht gefilmt werden. Sie erzählen uns, dass sie von Kämpfern des »Asow«-Bataillons aufgehalten und aus dem Auto gezerrt worden seien. Das Auto sei ihnen gestohlen worden, ebenso wie die wenigen Dinge, die sie für die Flucht eingepackt hatten. Die beiden zeigen uns Bilder von dem Gebäude, in dem sie lebten, die oberen Stockwerke sind zerstört. Sergej erzählt, ukrainische Soldaten seien in das Haus gekommen, um auf der Terrasse Position zu beziehen. »Von dort aus schossen sie auf die Russen, die unter dem Haus vorbeikamen. Sie feuerten von der Terrasse, während das Gebäude von Zivilisten bewohnt war.«
Die Geschichten derjenigen, mit denen wir sprechen können, ähneln sich. Eine Frau erzählt: »Mein Mann wurde vom ›Asow‹-Bataillon angeschossen, als er die Straße überquerte.« Sie habe drei Tage an seiner Seite verbracht, da er an beiden Beinen verwundet gewesen sei. »Wir baten bei einem Posten der ukrainischen Armee um Hilfe, aber sie verhöhnten uns nur und schickten uns zurück auf die Straße.« Als sie schon gedacht hätten, dass er nicht überleben werde, habe ihnen nach drei Tagen ein Arzt geholfen, ihrem Mann seien beide Beine amputiert worden. Aber: »Wir haben es geschafft, mit unserer Tochter und meinem verletzten Mann den humanitären Korridor zu erreichen«, so die Frau weiter.
Quelle: jungewelt.de… vom 18. April 2022
Tags: Faschismus, Imperialismus, Repression, Russland, Ukraine
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