Ukraine-Krieg und Zwei-Klassen-Migration
Karl-Heinz Hermann. Der Ukrainekrieg hat das weltweite Flüchtlingsproblem drastisch verschärft. Doch nicht nur die neuen Rekordzahlen an Geflüchteten empören, sondern auch ihre ungleiche Behandlung. Dabei müssen wir nicht nur an durch kriegerische Gewalt Vertriebene denken, sondern auch an durch Klimawandel und Armut Verdrängte. Was tun die Verantwortlichen in den Aufnahmeländern und warum ist das unzureichend?
Zahlen
100 Millionen Menschen sind weltweit vor gewaltsamen Konflikten geflohen, so viele wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen des UN-Flüchtlingshilfenetzwerks UNHCR. Hungerkatastrophen drohen, weil seit dem Krieg die Ukraine als Kornkammer für die Welternährung ausfällt. Hinzu vertreibt der Klimawandel Menschen aus ihren angestammten Regionen.
Durch den Krieg sind bereits acht Millionen innerhalb der Ukraine und mehr als sechs Millionen außer Landes vertrieben worden. Weitere Herde gewaltsamer Auseinandersetzungen stellen Äthiopien, Burkina Faso, Myanmar, Nigeria, Afghanistan und die Demokratische Republik Kongo (ehem. Zaire) dar. Zu den Zahlen des UNHCR gehören allein 53,2 Millionen Binnenflüchtlinge.
Somalia ist ein Beispiel, wo sich Krieg und Klimakrise paaren: anhaltende Dürre mit der Folge wachsender Armut gesellt sich hier mit einem de facto Bürgerkrieg der Regierung gegen die islamistische Terrormiliz Al-Shabaab.
„Unsere Stimmen sollen endlich gehört werden“
So äußerte sich ein Teilnehmer einer Demonstration am 14. Mai 2022 in Frankfurt (Oder) unter dem Motto „Fight Fortress Europe – Solidarität mit allen Geflüchteten an den EU-Außengrenzen“, organisiert von Seebrücke Jena und Potsdam sowie den Gruppen „No Border Assembly“ und „Borderline Europe“. Die Aktivist:innen bemängelten, dass nach Beginn des Ukrainekriegs plötzlich die seit 2001 geltende EU-Massenzustromrichtline aus dem Ärmel gezaubert wurde, aber nicht 2015 oder angesichts der unhaltbaren Zustände jüngst an der polnisch-belarussischen Grenze. Mit ihr entfallen viele Einschränkungen, die den Behördenhindernislauf durchs Asylverfahren normalerweise begleiten. Mit „Festung Europa“ sprachen sie nicht nur die EU- Außen-, sondern auch strukturelle Grenzen an, die beispielsweise das Recht, zu gehen und zu bleiben, nach Hautfarbe unterschiedlich verteilten. Darunter fallen auch solche aus der Ukraine.
Thema Wohnen: Viele Asylsuchende und ausländerrechtlich einstweilen Geduldete sind manchmal über Jahre gezwungen, in Lagern zu leben. Hier erfolgen Eingangs- und Zimmerkontrollen, Übergriffe seitens des Wachpersonals und von außen. Für Frauen und queere Menschen gibt es keinen Schutz. In Brandenburg liegen vier Erstaufnahmezentren in ehemaligen Kasernen, schlecht an den Verkehr angebunden und weit ab vom Schuss.
82 % der „richtigen“ Geflüchteten aus der Ukraine sind hier dagegen privat untergebracht. Sozialministerin Nonnenmacher (Grüne) kündigte Unterstützung bis zu 7000 Euro Pauschale pro Wohnung an.
Thema Arbeit: Diese Personengruppe soll ab Tag 1 arbeiten dürfen. Viele Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie sog. Geduldete unterliegen dagegen zum Teil über Jahre einem Beschäftigungsverbot. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fristen sie ein Leben unterhalb des Existenzminimums, während Geflohene mit ukrainischem Pass ab Juni reguläre Sozialgelder beziehen können sollen. Selbst Geduldete dürfen also weder ihre Wohnung frei wählen oder regulär mieten noch sich Arbeit suchen.
Trostpflaster gegen Überausbeutung
Doch auch Ukrainer:innen mit „richtiger“ prowestlicher Gesinnung und Hautfarbe unterliegen rassistischer Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping warnt Geflüchtete vor dem Krieg vor dubiosen Stellenanzeigen. Arbeiten ohne Pass, Zwang in die Scheinselbstständigkeit, Schuften ohne offiziellen Vertrag: Das ist für viele Arbeitsalltag. So hat Fleischganove Tönnies in Auffanglagern an der polnisch-ukrainischen Grenze Anwerbungsversuche gestartet. Die Reinigungsbranche und subunternehmerische Paketzustelldienste erweisen sich als Horte prekärer Beschäftigung. Europol und Zoll warnen lt. Philipp Schwertmann, Fachbereichsleiter des Berliner Beratungszentrums für Migration und Gute Arbeit (Bema), vor Menschenhandel und Arbeitsausbeutung. Marxist:innen würden es Überausbeutung nennen, denn schließlich wird jede, auch die reguläre Form von Lohnarbeit (Normalarbeitsverhältnis) ausgebeutet.
Mehrwert ist kein Randprodukt des Arbeitsmarkts, sondern sein Kern. Schwertmann weist auch zu Recht auf das relativ bessere Schicksal von Flüchtigen hin, die unter die Massenzustromrichtline fallen (s. o.), im Unterschied zu denen, die z. B. 2015 aus Syrien oder Afghanistan kamen. Anzubieten hat er Aufklärung und Beratung, v. a. durch seine Behörde – hoffentlich in den jeweiligen Landessprachen der Klient:innen, denn mit ausländerrechtlichem Beamtendeutsch kommen selbst deutsche Jurist:innen oft nicht klar.
Allerdings tangiert das nicht das Problem der Berufsanerkennung, was zur Entscheidung drei bsi vier Monate braucht – mit ungewissem Ausgang, versteht sich. Gen. Sozialsenatorin schiebt denn auch die Verantwortung für die Lösung des Problems, das sie niedlich auf Staus in den Anerkennungsstellen verkürzt, gleich auf den Bund, genauer die Bildungsminister:innenkonferenz ab. So sind sie, unsere Beamt:innenseelen! Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!
Herz für Migration – oder Scherz?
In der Aktuellen Stunde des Berliner Abgeordnetenhauses am 19. Mai 2022 kam u. a. heraus, dass seit Beginn des Ukrainekriegs 250.000 Menschen in der Hauptstadt angekommen waren und zwischenzeitlich untergebracht werden mussten. Ohne den uneigennützigen Einsatz vieler ehrenamtlicher Helfer:innen wäre die Bewältigung dieses Zustroms nicht möglich gewesen. Ihnen sei gedankt.
Was gedenkt man, für die 800.000 Personen ohne deutschen Pass, mehr als ein Fünftel der Hauptstadtbewohner:innen, zu tun? Man will die Einbürgerungsquote von jährlich 6.000 auf 20.000 erhöhen, was das Verfahren von 133 auf 40 Jahre verkürzen würde. Trotzdem werden viele ihren Pass erst posthum erhalten können. Die neue Zentralstelle, die das Verfahren so rasant beschleunigen, mit 200 Stellen besetzt werden und rund 10 Millionen Euro kosten soll, wird wohl erst in zwei Jahren tätig werden können. Das sei ein zäher Prozess, wurde geäußert. Aber das ist in unserem Beamt:innenstaat ja nahezu alles. So wundert es nicht, dass ca. 14.200 Menschen teils seit Jahrzehnten im Rahmen sogenannter Kettenduldungen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in der Spreemetropole verbringen dürfen – ein „zäher Prozess“ eben!
Volle demokratische Rechte für alle Geflüchteten erleichtern ihre Integration in die Arbeiter:innenbewegung
Wir treten für offene Grenzen, volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben wollen, und Abschaffung aller Ausländersondergesetzgebung ein, weil die Legalisierung aller Migrant:innen die vom imperialistischen System befeuerte Spaltung in einheimische und ausländische Arbeitskräfte zu überwinden erleichtert. Damit kann ein erster Schritt gemäß der proletarischen Losung „Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch!“ zurückgelegt werden. Dies erleichtert die Integration in Gewerkschaften und andere Arbeiter:innenorganisationen, die Unterschiede in Herkunft, Nationalität, Geburtsland, Geschlecht, Religions- und Parteizugehörigkeit sowie sexueller Orientierung ignorieren müssen, wollen sie für die ökonomischen und politischen Interessen so wirksam wie möglich kämpfen, die Konkurrenz innerhalb der Klasse so weit wie möglich unterm kapitalistischen System minimieren. Dazu gehören auch kostenlose Sprachkurse, durch progressive Besteuerung bezahlte Dolmetscher:innen, Anstellung in den gelernten Berufen. Ferner sollen die Auswanderungsländer eine nach Dauer der Auswanderung ins „Exil“ anteilig bemessene Rückerstattung ihrer Ausbildungskosten erhalten, wie sie für die Aufnahmeländer entstanden wären, bezahlt aus Unternehmensbesteuerung.
Nur ein sozialistisches Weltsystem kann jedoch nach und nach die Unterschiede in Lebensstandards mittels gleichmäßiger Verteilung von Industrie und Technik über den gesamte Erdball nivellieren. Wiederum ist es der Imperialismus, der nämlich mithilfe des Finanzkapitals die vom europäischen Kolonialismus ausgeraubten und von europäischen Siedler:innen unterdrückten, wenn nicht ausgelöschten Völker täglich weiter bestiehlt. Das Wertgesetz wirkt ja bekanntlich auf dem Weltmarkt ungleichmäßig und ungleichzeitig, degradiert die nationale Durchschnittsarbeit der Halbkolonien immer weiter im Verhältnis zu den imperialistischen Metropolen. Diese Schere zu schließen, einen wirklich weltweiten Entwicklungs-, Reparations- und Wiedergutmachungsplan zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse umzusetzen, ist eine der vordringlichsten Aufgaben jedes zukünftigen Arbeiter:innenstaats und erhält bereits heute einen vorrangigen Platz im Programm revolutionär-kommunistischer Organisationen, die sich der Herkulesaufgabe des Aufbaus einer neuen, revolutionären Fünften Internationale verschrieben haben.
Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 3. Juni 2022
Tags: Flüchtlinge, Imperialismus, Politische Ökonomie, Rassismus, Repression, Ukraine
Neueste Kommentare