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Die Arbeiter verteidigen die Ukraine. Der ukrainische Staat beseitigt ihre Rechte

Eingereicht on 7. Juni 2022 – 17:32

Malgorzata Kulbaczewska-Figat. Im Schatten des Krieges setzt die ukrainische Regierung Arbeitsreformen durch, die seit mehr als zwei Jahrzehnten geplant waren, aber aus verschiedenen Gründen nie umgestzt wurden. Und dies sind nicht die Reformen, für die die Gewerkschaften gekämpft haben. Vielleicht wäre der Begriff «Gegenreformen» angemessener: Wenn der ukrainische Arbeitsmarkt schon lange vor dem Krieg kein günstiger Raum für Lohnabhängige war, wird er nun weiter destabilisiert, dereguliert und den Interessen der Unternehmer weiter angepasst.

Im März stimmte das Parlament ab und Präsident Volodymyr Zelensky unterzeichnete das Gesetz 2136, das «Gesetz über die Arbeitsbeziehungen unter Kriegsbedingungen». Offiziell handelt es sich bei dem Gesetz um eine zeitlich befristete Maßnahme, die denjenigen Unternehmen helfen soll, die von dem Konflikt stark betroffen sind und nicht in dem bisherigen Umfang weiterarbeiten können. Staatliche Beihilfen bestehen jedoch nicht aus Subventionen, Darlehen oder Steuervergünstigungen. Der ukrainische Staat scheint anzudeuten, dass er nicht über die Mittel für eine dieser Maßnahmen verfügt. Stattdessen gibt sie den Unternehmern freie Hand, die Lohnabhängigen noch stärker auszubeuten.

Gesetzentwurf 2136 gibt dem Untrnehmer das Recht, den Arbeitsvertrag auszusetzen. Das bedeutet, dass der Lohnabhängige weder entlassen noch bezahlt wird. Darüber hinaus gibt der Gesetzentwurf den Unternehmern die Möglichkeit, für bereits geleistete Arbeit nicht zu zahlen. Es reicht aus, wenn sie erklären, dass sie aufgrund von Kriegsereignissen nicht rechtzeitig zahlen könnten. Es gibt keine Institution, die sie zur Zahlung zwingen kann – erklärt Vitaliy Dudin, Experte für Arbeitsrecht und einer der Führer der ukrainischen Linksorganisation Sotsialny Rukh (Soziale Bewegung). Und das ist noch nicht alles: Der Unternehmer hat nun auch das Recht, bestehende Tarifverträge am Arbeitsplatz aufzuheben. Eine Rechtfertigung ist nicht erforderlich.

Für Dudin liegen die Schlussfolgerungen auf der Hand: «In einer kritischen Situation gibt der ukrainische Staat den Interessen der Unternehmen den Vorrang, nicht denen der Lohnabhängigen».

Wie in jeder Gesellschaft sind die Lohnabhängigen die Mehrheit der Gesellschaft, aber sie haben keine nennenswerte Vertretung im politischen Leben. Der Name der Partei von Volodymyr Zelensky, «Volksdiener», klingt wie eine bittere Ironie. Es ist nicht das erste Mal, dass die «Diener» eine extrem neoliberale Politik befürworten, mehr Deregulierung fordern und sich nicht um die katastrophale Lage der arbeitenden Bevölkerung kümmern.

Vor der russischen Invasion wanderten Millionen ukrainischer Lohnabhängiger in die EU-Länder aus (und nicht nur dorthin), wohl wissend, dass selbst die ärmsten unter ihnen, Bulgarien und Rumänien, den Durchschnittsarbeitern ein deutlich besseres Einkommen boten als ihr Herkunftsland. Das benachbarte Polen war eine beliebte Wahl. Geografisch nahe gelegen und durch Straßen und Eisenbahnen hervorragend an die Ukraine angebunden, mit einer Sprache, die für Ukrainer und Russen relativ leicht zu erlernen ist, verfügte es 2019 bereits über eine Gemeinschaft ukrainischer Arbeiter von 2-3 Millionen. Während einige von ihnen einige Monate in Polen arbeiteten und dann zu ihren Familien in die Ukraine zurückkehrten, blieben andere für immer. Auch wenn Polen seine eigenen ernsthaften Probleme mit den Rechten der Lohnabhängigen hat, ist es kaum mit der Ukraine zu vergleichen.

«Polnische und europäische Aktivisten kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen, während wir für die grundlegendsten Garantien kämpfen», sagt Vitaliy Dudin. «Niedrige Löhne ersticken unsere Wirtschaft praktisch im Keim. Darüber hinaus sind 20-30 % der ukrainischen Lohnabhängigen ‚inoffiziell‘ beschäftigt».

Selbst die Arbeit in einem staatlichen Unternehmen, in einem kritischen Sektor der Wirtschaft, garantiert kein stabiles Gehalt, das einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglicht. Wie Dudin hervorhebt, sind die Bergleute eine der Berufsgruppen, die regelmäßig mit Zahlungsverzögerungen konfrontiert sind. Es ist ihre harte und unsichere Arbeit, die den ukrainischen Energiesektor sichert. Es gab jedoch eine Zeit vor dem Krieg, in der der Staat ihnen mehr als 4 Milliarden ukrainische Griwna schuldete, etwa 136 Millionen Dollar an nicht gezahlten Löhnen.

Die Bergarbeiter organisierten regelmäßig spontane Protestaktionen, darunter auch die verzweifeltste Maßnahme – einen illegalen Protest. Eine solche große Protestaktion fand 2020 in Kryvy Rih statt, dem Zentrum des transnationalen Eisenerzbergbaus. Eine Gruppe von Arbeitern von KZRK, einem ehemaligen Staatsbetrieb, der aus vier Eisenerzminen und mehreren angeschlossenen Fabriken besteht, verbrachte mehr als einen Monat in den Minen und forderte eine Lohnerhöhung. Vor der Aktion lag ihr Lohn bei nicht einmal 1.000 Euro. Ihre Kollegen und Familienangehörigen, die zeitgleich in der Stadt protestierten, gestalteten ein Transparent mit der Aufschrift «Würde beginnt bei 1.000 Euro». Eine klare Anspielung auf die Euromaydan-Ereignisse, die in der Ukraine als «Revolution der Würde» bezeichnet werden, und eine Frage: Können wir wirklich von nationaler Würde sprechen, wenn die Menschen so schlecht für ihre harte Arbeit bezahlt werden?

Für die ukrainischen Gesetzgeber ist das offenbar kein Widerspruch.

Nachdem sie den Gesetzentwurf 2136 eingebracht hatten, arbeiteten sie an dem Gesetzentwurf 5371. Und obwohl viele Arbeiter den Gesetzentwurf 2136 als eine harte, aber unerlässliche Maßnahme betrachteten, hat der Gesetzentwurf 5371 nichts mit dem laufenden Krieg zu tun.

Es wurde vor zwei Jahren vom Office of Simple Decisions and Results (Büro für einfache Entscheidungen und Ergebnisse) ausgearbeitet, einer NRO, die von Micheil Saakaschwili unter Beteiligung von USAID und Unternehmern gegründet wurde, um die ukrainische Regierung bei der Gesetzgebung zu beraten. Der Kerngedanke des Gesetzentwurfs ist die Einführung eines Höchstmaßes an Flexibilität und Deregulierung für kleine und mittlere Unternehmen (bis zu 250 Beschäftigte). Dem Gesetzentwurf zufolge sollen die Arbeitsbedingungen und das Entgelt eines jeden Lohnabhängigen durch seinen individuellen Arbeitsvertrag festgelegt werden. Ein Vertrag, den der Unternehmer auf einfache Art und Weise kündigen kann.

«Die Unternehmer werden alles in diese Verträge schreiben können», sagt Vitaliy Dudin. «Sie können sich zum Beispiel ihr Recht sichern, einen Lohnabhängigen an einem freien Tag zur Arbeit zu rufen. Sie können auch Gründe für eine fristlose Entlassung enthalten, und ich möchte mir nicht ausmalen, was sie sonst noch enthalten werden. Ein feindseliger Blick? Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung? Denn nein, mit dem Gesetzentwurf 5371 ist alles möglich».

Der Arbeitsrechtsexperte erwartet, dass große Unternehmen künstlich in kleinere Einheiten von 250 Mitarbeitern aufgeteilt werden, damit auch die größten und stärksten Unternehmen maximale Flexibilität nutzen können. Er hat keinen Zweifel daran, dass ukrainische Unternehmen jede Gelegenheit nutzen, um ihre Position zu stärken. «Mit diesen Gesetzen wird das bestehende Kräfte-Ungleichgewicht zwischen Unternehmern und Arbeitern weiter verschlechtert», resümiert er und fügt hinzu, dass bereits vor dem Krieg ein sehr ungünstiges Kräfteverhältnis herrschte. Nicht nur wegen der Logik des kapitalistischen Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital, in dem die Lohnabhängigen immer die schwächere Seite sind. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass es in der Ukraine keine staatliche Einrichtung gibt, die sich speziell mit der Verteidigung der Arbeiterrechte befasst. Arbeitsmarktfragen fallen in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministeriums, und dasselbe Ministerium soll sich für das «Unternehmertum» und die Rechte der Unternehmer einsetzen.

Sotsialny Rukh hat eine schwarze Liste ukrainischer Unternehmen erstellt, die bereits von den Möglichkeiten des Gesetzentwurfs 2136 Gebrauch gemacht haben: Aussetzung von Arbeitsverträgen, Entlassungen oder Verzicht auf einen Teil des Tarifvertrags. Dazu gehört auch ArcelorMittal Kryvyy Rih, ein weiterer Stahlriese. Die Aktivisten stellen die schwarze Liste anhand von Informationen zusammen, die in den Medien veröffentlicht wurden und/oder von den Lohnahängigen selbst stammen. Und sie sind sich ziemlich sicher, dass die Liste unvollständig ist.

Um den Gesetzesentwurf 5371 zu stoppen, veröffentlichen sie Appelle an die ukrainischen Gesetzgeber, in denen sie darauf hinweisen, dass dieses Gesetz die europäischen Ambitionen des Landes gefährden könnte. Schließlich ist Europa, selbst nach seinen eigenen Gegenreformen in verschiedenen vom neoliberalen Denken betroffenen Staaten, nicht einmal annähernd so weit wie die von ukrainischen Politikern befürwortete Deregulierung. Der Gesetzentwurf 5371 widerspricht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ganz zu schweigen von den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation.

Wird diese Art der Argumentation die ukrainischen Arbeiter vor weiterer Erniedrigung bewahren? Das werden wir bald erfahren, denn die Parlamentsmehrheit drängt auf eine möglichst baldige Abstimmung über den Gesetzentwurf 5371. Vitaliy Dudin hat keine Zweifel, als ich ihn frage, welche Art von Arbeitsgesetzen stattdessen hätten verabschiedet werden sollen. «Die Lohnabhängigen sollten das Recht haben, die Arbeit niederzulegen, wenn das Unternehmen ihnen den ihnen zustehenden Lohn schuldet. Wir brauchen auch Schutz vor Diskriminierung, Mobbing und einen besseren Schutz von aktiven Gewerkschaftern. Darüber hinaus erlaubt die ukrainische Gesetzgebung den Gewerkschaften eine Beteiligung an der Unternehmensführung. Das haben wir vergessen, und wir müssen dafür kämpfen, dass diese Bestimmung umgesetzt wird. Ich bin nicht prinzipiell gegen staatliche Unterstützung für Unternehmen. Und ja, es gibt Unternehmen, die faktisch zerstört wurden und ohne staatliche Unterstützung nicht mehr weiterbestehen können.

Quelle: sinpermiso.info... vom 7. Juni 2022; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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