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Der Holocaust gehört uns!

Eingereicht on 24. August 2022 – 10:35

Wolf Wetzel. Sie sind in ständiger Rufbereitschaft. Wenn sie angepiepst werden, sind die sofort zur Stelle: Sie sperren das Gelände weiträumig ab, markieren die Gefahrenstelle mit einem rotweißen Flatterband und organisieren Umleitungen. Je nach Schwere des Ereignisses stellen sie auch Sichtblenden auf.

Dieses Mal ist der Trupp (den man auch unter Eingeweihten »Holo-Wächter« nennt) ausgerückt, nachdem der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas eine Provokation mit einer Provokation beantwortet hatte. In der gut kontrollierten Pressekonferenz in Berlin am 16. August 2022 hat man genau diese Frage an Herrn Abbas stellen lassen:

»Abbas wird gefragt, ob er sich anlässlich des 50. Jahrestag des Olympia-Attentates entschuldigen wolle. Ein palästinensisches Kommando nahm mitten im olympischen Dorf in München israelische Sportler als Geisel. Im Laufe der Geiselnahme waren alle elf Geiseln getötet worden.« (ZDF vom 17.8.2022)

Mahmud Abbas antwortete:

»Israel hat seit 1947 bis zum heutigen Tag 50 Massaker in 50 palästinensischen Orten begangen – 50 Massaker, 50 Holocausts.«

Danach ging alles wie am Schnürchen.

Was hat Abbas gesagt?

Es folgte die nächste Welle. Man zeigte sich empört, sehr empört. Man hielt das Gesagte, also den einen Satz für unerträglich. Man forderte Konsequenzen. Köpfe sollten rollen und parallel dazu sollten die Gelder, die Deutschland für die palästinensische Autonomiebehörde bereitstellt, gestrichen werden.

Diese zweite Welle ist prominent besetzt und erinnert sich – im Gegensatz zu anderen Gelegenheiten – sofort. Deutschland habe eine historische Verantwortung, dürfe Holocaustleugnern nicht dulden, dürfe kein Platz für Relativierung des Holocaust sein.

Die Wirkung ist erprobt und immer dieselbe: Man fragt am besten erst gar nicht nach. Was hat Abbas gesagt, außer dem einen Satz? Gab es diese erwähnten 50 Massaker in 50 palästinensischen Orten, seit 1947, unter Führung der israelischen Armee?

Was veranlasst Mahmud Abbas, diese Massaker mit dem Holocaust zu vergleichen? Worauf will er – selbst wenn der Vergleich falsch ist – aufmerksam machen?

Haben 50 Massaker stattgefunden?

All das wurde nicht gefragt. All das spielt keine Rolle. All das soll eben nicht zur Sprache kommen. Und fast alle machen brav mit. Die einen, weil sie wissen, was die Staatsraison von ihnen verlangt. Die anderen, weil man sich jetzt bloß nicht Finger verbrennen will, womit ein bisschen mehr gemeint ist, unter anderem die Karriere, das auskömmliche Auskommen.

Das Stadion der organisierten Empörung hat sich längt geleert. Man hat fast alles erreicht. Über die vielen Fragen, denen man nachgehen müsste, liegt längst der Löschschaum der Sieger.

Fangen wir an –  wir sind in diesem Stadion so gut wie alleine.

Haben diese erwähnten 50 Massaker stattgefunden? Ja. Es gehört zu den großen Verdiensten israelischer Historiker und Wissenschaftler, dass sie Mitte der 1980er Jahre die eigene »dunkle« Geschichte der Staatsgründung und der Staatswerdung aufgearbeitet haben – gegen die eigene Legendenbildung, die mit der Okkupation palästinensischer Gebiete einherging. Dazu gehörte die Legende, man habe staubiges unbewohntes Land vorgefunden. Dazu gehört, dass die »Araber« freiwillig ihr Land verlassen haben. Dazu gehört die Lüge, dass sich die Israelis nur gewehrt hätten, nachdem sie von »Arabern« angegriffen worden seien.

Man kann diese ausgezeichneten Arbeiten nur allen ans Herz legen, die nicht wegrennen, wenn die »Holo-Wächter« auftauchen:

»Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung«, Tom Segev, Rowohlt, 1995

»Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels«, Tom Segev, Siedler Verlag, 1990

Ja, das sind jeweils Werke mit über 600 Seiten. Mehr als der eine Satz. Aber an der Zeit soll es nicht scheitern.

Die zweite Frage wäre dann, ob man die erwähnten Massaker mit dem Holocaust vergleichen kann.

Jedes Kollektiv hat sein eigenes Trauma

Für mich selbst ist die Dimension des Verbrechens der Shoa so unfassbar groß, dass ich mich innerlich sträube, ein Ereignis in diese Nähe zu rücken. Das fällt mir aber auch leicht, denn ich lebe in Deutschland nicht in einem Zustand, wo der Krieg mehr Alltag als der Frieden hat, wo mehr gestorben als gelebt wird.

Ob Mahmud Abbas ganz andere Erfahrungen gemacht hat, die ihn zu diesem Vergleich drängen, kann ich nicht sagen.

Moshe Zuckermann, für den der Holocaust, also die industrielle Ermordung von Juden, ihre gezielte Ausrottung ein singuläres Ereignis darstellt, kann dennoch verstehen, wenn sich andere nicht daran halten – nicht aus Berechnung, sondern in dem Versuch, das eigene Leid einzuordnen. Er beschreibt dies mit folgender Begegnung:

»Ein deutscher Professor, der in den 1990er Jahren einen Lehrauftrag in Hawaii wahrgenommen hat, erzählte mir, dass er im Unterricht versuchte, den Holocaust zum universellen Paradigma menschlicher Leiderfahrung zu erheben. Die Reaktion seiner Studenten hatte er nicht erwartet: Die Schwarzen wollten, dass man über die Sklaverei redet. Die Roten hoben den an den Indianern begangenen Völkermord hervor. Die japanischen Gelben wollten, dass man Hiroshima und Nagasaki thematisiert. Die chinesischen Gelben beklagten die Gräueltaten, die von den Japanern an ihnen im Zweiten Weltkrieg verübt worden waren. Jedes Kollektiv, so schien es, hatte seine eigenen Traumata. Jedes hatte seinen eigenen Holocaust.«

Nähern wir uns dem, was die »Holo-Wächter« zum Schweigen bringen wollen.

Nehmen wir an, der hier gemachte Vergleich ist anmaßend und/oder falsch, dann leugnet Abbas doch damit nicht den Holocaust, sondern relativiert ihn im schlimmsten Fall.

Genau das aber ist nicht singulär, sondern eine inflationäre Praxis, die gerade von denen beherrscht wird, die die Geschichte wie eine Munitionskiste benutzen.

Über die Gerechten und die Scheinheiligen

Die Relativierung des Holocaust wird seit Jahrzehnten betrieben, sehr staatsmännisch und sehr gekonnt, gerade von denen, die sich über Abbas das Maul zerreißen.

Wie wäre es, wenn die Gerechten und die Selbstgerechten in dieser Welt, mit jüdischer und nicht-jüdischer Geschichte, sich selbst anschauen und rekapitulieren, wie oft sie den Holocaust relativiert haben, indem sie ihn für politische Zwecke instrumentalisieren?

Greifen wir ein paar Bespiele heraus.

Im Vorlauf zum Sechs-Tage-Krieg 1967, den man in Deutschland gerne als »Blitzkrieg« verehrt hat, im völkerrechtlichen Sinne ein israelischer Angriffskrieg war, wurden die Gegner Israels mit Hitler verglichen. Der bekannte Kommentator und ehemalige Mapai-Abgeordnete Elieser Livneh formulierte das in Haaretz so: »Auf den Spiel steht die Existenz oder Nicht-Existenz des jüdischen Volkes. Wir müssen die Machenschaften des neuen Hitler im Keim ersticken, solange es noch möglich ist …« (Tom Segev, Die siebte Million, S.514)

Der »neue Hitler« sollte der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser sein.

Während des Libanonkrieges 1982 erklärte der israelische Ministerpräsident Menachem Begin, die Alternative zur israelischen Besatzung in Beirut sei ein neues Treblinka. Um die Einebnung von Geschichte komplett zu machen, wollte Menachem Begin auch Arafat zum »Hitler« machen und als »Biest auf vier Beinen« gesehen haben. Anlässlich der Bombardierung von Beirut 1982 wurde der dortige Bunker von PLO-Chef Jassir Arafat in Israel folgerichtig als »Hitler- bzw. Führerbunker« tituliert und Begin wollte »Hitler aus seinem Bunker« holen.

Nie wieder Auschwitz!

Die Relativierung und Instrumentalisierung machte nicht einmal vor inner-israelischen Machtkämpfen Halt: So schreibt David Ben Gurion in seiner Biographie, dass er, wenn er die krächzende Stimme seines politischen Rivalen Begin im Radio hörte, an Adolf Hitler denken musste. Und als der israelische Ministerpräsident Rabin in den 1980er Jahren Friedensverhandlungen mit der PLO einleitete, wurde er von seinen religiös-orthodoxen und reaktionären Gegnern als Puppe in SS-Uniform durch die Straßen (vor-)geführt.

1999 war es der grüne deutsche Außenminister Joschka Fischer, der den ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945 gegen Jugoslawien auf dem Grünen Sonderparteitag am 13. Mai 1999 wie folgt legitimierte: »Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.«

Auch der sozialdemokratische Verteidigungsminister Scharping wähnte sich im Kampf gegen Nazi-Deutschland, dieses Mal auf der richtigen Seite, als er im Stadion in Pristina ein KZ ausfindig machte. Plötzlich waren alle Antifaschisten und Nazigegner, auch die BILD-Zeitung: Am 1. April 1999 wartete sie mit der »Riesenschlagzeile »… sie treiben sie ins KZ« auf. Darunter war ein Foto mit Flüchtlingen auf dem Weg zur mazedonischen Grenze zu sehen.« (Der Kosovo, die UCK und Psdychedelia à la Rudolf Scharping, Telepolis, 10. Juni 2001)

Die ganze Debatte um die richtige Einordung des Holocaust ist also kein palästinensisches Problem, sondern ein machtpolitisches!

Der Relativierungsvorwurf als Blendgranate

Aber worum ging es, als der palästinensische Präsident auf die Kriegsverbrechen Israels aufmerksam gemacht, auf das dauerhafte Schweigen der »Wertegemeinschaft«, auf ihre Komplizenschaft.

Es gäbe doch keine bessere und ehrenhaftere Gelegenheit, am Israel-Palästina-Konflikt den heutigen Wertekanon zu überprüfen.

Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 hören wir von den »Gerechten« und Selbstgerechten erstaunliches: Man dürfe nicht zulassen, dass die Gewalt des Stärkeren über dem Recht triumphiere. Man dürfe nicht zulassen, dass Grenzen aufgrund von irgendwelchen historischen Verweisen verschoben werden.

Man dürfe auf keinen Fall einen Angriffskrieg rechtfertigen und hinnehmen.

Imperiale Empörung

Warum werden diese Maxime, die durchaus etwas für sich haben, nicht überall angewandt, stattdessen recht exklusiv und selektiv, so wie es einem passt?

Abbas hat in seiner Rede vor allem auf die 60 Jahre währende Geschichte der Unterdrückung verwiesen, Er hat die Besatzung gemeint, die de facto Grenzen verschoben hat. Er hat die Gewalt des Stärkeren angeprangert, der Krieg führen, der Grenzen verschieben, Annexionen betreiben kann und bei all dem den Schutz der Gerechten und Selbstgerechten genießt.

Ist das Leben, das schiere Überleben von Palästinenserinnen im Gazastreifen, in den besetzten Gebieten, in permanenter Kriegsgefahr ein untragbarer Zustand, der besser wird, wenn er nicht mit dem Holocaust vergleichbar ist?

Die Empörung über Abbas Einordnung der Massaker in die Geschichte der Menschheit hat einen sehr niederträchtigen Grund: Man möchte die Diskussion darüber, dass alles, was man Russland heute vorwirft, selbstverständlicher Bestandteil imperialen Politik ist, zum Schweigen bringen.

#Bild: Joseolgon, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Quelle: overton-magazin.de… vom 24. August 2022

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