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Branchen- und gewerkschaftsübergreifende Streiks in Großbritannien 2022

Eingereicht on 10. Oktober 2022 – 14:50

Dossier. Am Dienstagmorgen meldete der britische Ölkonzern BP, dass er im zweiten Quartal dieses Jahres einen Gewinn von fast sieben Milliarden Pfund (8,3 Milliarden Euro) gemacht hat; es ist der höchste Profit seit 14 Jahren. Wenig später berichtete das Forschungsinstitut National Institute of Economic and Social Research, dass die Inflation in Großbritannien noch vor Jahresende elf Prozent erreichen werde – nächstes Jahr werde die Teuerung in »astronomische Höhen« klettern. Millionen der ärmsten Haushalte werden davon am stärksten getroffen werden, schreibt das Institut. Dies ist der Hintergrund, vor dem die derzeitige Streikwelle in Großbritannien zu verstehen ist: Exorbitante Profite auf der einen Seite, eine tiefe und sich verschlimmernde soziale Krise auf der anderen…“ Artikel von Peter Stäuber vom 05.08.2022 im ND online („Massenstreiks gegen Lohnverlust: Zehntausende Beschäftigte haben in Großbritannien die Arbeit niedergelegt. Eisenbahner ebenso wie Call-Center-Angestellte und Uni-Dozenten“) – hierzu weitere Entwicklungen:

  • Streikwelle in Britannien setzt sich fort – mit u.a. British Telecom und Scot Rail im Ausstand, weitere koordinierte Streiktage geplant am 13. und 20. Oktober
    • „Die Leute stehen voll hinter uns.“ RMT Gewerkschafter Mick Lynch spricht über den heutigen Scot Rail  treik und die anhaltende nationale Auseinandersetzung auf den Schienen.“ Twitterpost der RMT vom 10. Oktober 2022 (engl.)
    • „Heute Morgen wieder beim CWU BT-Streikposten in der Arnold Road, Nottingham. Der nächste BT-Streik findet am Donnerstag, den 20. Oktober, statt, wenn sich die Postangestellten anschließen werden. Der Vertreter dankte Nottingham TUC für unsere Unterstützung. Bitte schließt euch einem Streikposten an, je mehr Solidarität, desto besser. Der nächste Postbeamt:innenstreik ist am Donnerstag, den 13. Oktober.“ Twitterpost von Liam Conway vom 10. Oktober 2022 (engl.).
    • Briten im Arbeitskampf
      „… Ein Ende der Arbeitskämpfe ist derzeit nicht in Sicht. Erst am Mittwoch scheiterte die letzte Verhandlungsrunde zwischen Gewerkschaften und Unternehmen. Die Delegationen von Aslef und der Transport- und Reisebranchengewerkschaft TSSA verließen das Treffen vorzeitig. Lynch erklärte zwar, die Verhandlungen werden weitergehen, »wir haben aber bisher noch nichts bekommen außer einem Handschlag und einer Tasse Tee«. Seine Gewerkschaft hat daher eine neue Mitgliederbefragung begonnen, um sich das Streikmandat für weitere sechs Monate verlängern zu lassen. In den vergangenen Monaten hatten bereits Postangestellte, Journalisten und Pfleger gestreikt. Viele Branchengewerkschaften haben für die Herbstmonate weitere Arbeitskämpfe angekündigt. Derzeit lässt die Lehrergewerkschaft NAHT ihre Mitglieder befragen, welche Arbeitskampfmaßnahmen angesetzt werden sollen. In einer Stellungnahme erklärte NAHT, es werde »ein vereinbartes Programm« an Kampfmaßnahmen bis hin zu Streiks geben, um den Forderungen nach Lohnerhöhung Nachdruck zu verleihen. Laut einem Bericht der Irish News lässt erstmals in der 106jährigen Geschichte der Institution das Royal College of Nursing (RCN) die Mitglieder über mögliche Arbeitskämpfe abstimmen. RCN betonte, die 300.000 Pflegerinnen im Vereinigten Königreich seien bereit, die Arbeit niederzulegen, falls es keine Einigung in den Lohnverhandlungen gebe. Die Abstimmung läuft bis zum 2. November. Im Kampf gegen die Teuerungswelle werden die Gewerkschafter von der rechten Labour-Führung um Keir Starmer nicht unterstützt. Trotz Aufforderungen, an den Kundgebungen teilzunehmen, ließ sich bisher niemand aus Starmers Clique bei den Protesten blicken. Starmer hatte zuletzt immer wieder deutlich gemacht, dass er gegen Streiks ist. Am Donnerstag sagte er auf BBC Radio Devon: »Lassen Sie mich klar betonen: (…) Ich will nicht, dass diese Streiks stattfinden. Das Letzte, was jemand, der im (Gesundheitsdienst) NHS arbeitet, will, ist zu streiken.« Als er vom Moderator erneut gefragt wurde, ob er die Krankenschwestern unterstützen werde, falls sie sich für einen Streik entscheiden, sagte er: »Ich verstehe, warum sie Maßnahmen ergreifen wollen. Ich möchte nicht, dass die Streiks stattfinden. Ich glaube nicht, dass sie Streiks wollen. Natürlich tun sie das nicht.«“ Artikel von Dieter Reinisch in der jungen Welt vom 10. Oktober 2022
  • Nach Tod der Queen: Streiks in Großbritannien nehmen wieder Fahrt auf – TUC Kongress nun für 18.-20. Oktober 2022 geplant
  • Kommt in Großbritannien der Generalstreik zurück? Die zwei größten Gewerkschaften UNISON und UNITE sowie Gewerkschaftsdachverband TUC sprechen sich für koordinierte Kämpfe aus
    • Gewerkschaften drohen mit einer „Welle von Arbeitskampfmaßnahmen“ wegen der Lebenshaltungskostenkrise in Großbritannien
      „… In einer Reihe von Anträgen, die die größten Gewerkschaften des Landes im Vorfeld des TUC-Kongresses im nächsten Monat eingebracht haben, wird gefordert, dass sie eng zusammenarbeiten, um ihre Wirkung zu maximieren und den Kampf um inflationsbedingte Lohnerhöhungen zu „gewinnen“. Der Antrag, an dem auch die beiden größten Gewerkschaften Unison und Unite beteiligt sind, kommt inmitten wachsender Wut über das Versäumnis der Regierung, sich auf ein detailliertes Hilfspaket für Familien zu einigen, nachdem am Freitag bekannt wurde, dass die durchschnittlichen Gas- und Stromrechnungen um 80% steigen werden. Auch wenn koordinierte Aktionen nicht mit einem „Generalstreik“ vergleichbar sind, den einige führende Gewerkschaftsvertreter:innen ins Gespräch gebracht haben, würde der Antrag der Unite dem TUC die Aufgabe übertragen, dafür zu sorgen, dass die Arbeitsniederlegungen synchronisiert oder absichtlich gestaffelt sind, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Unterstützt von der Bahngewerkschaft RMT, die in den letzten Wochen eine Reihe von Streiks angeführt hat, und der Communication Workers Union, die am Freitag in den Ausstand getreten ist, fordert die Unite den TUC auf, „die Arbeitskoordination zwischen den Gewerkschaften zu erleichtern und zu fördern, damit die Arbeitenden ihre gewerkschaftliche Macht so effektiv wie möglich nutzen können, um zu gewinnen“. In einem weiteren Antrag von Unison, der größten Gewerkschaft des Landes, heißt es, dass die Krise der Lebenshaltungskosten eine „Niedriglohnkrise“ ist, und fordert den TUC auf, Gewerkschaftsaktionen zu koordinieren, um sich für Lohnerhöhungen „mindestens in Höhe der Inflation“ – derzeit 10,1 % – sowie für einen Mindestlohn von 15 £ pro Stunde einzusetzen. (…) Angesichts der sich ausbreitenden Unruhen wird die Gewerkschaft GMB eine Urabstimmung über die Annahme der von den kommunalen Arbeitgebern angebotenen Lohnerhöhung von 1.925 Pfund durchführen. Die GMB führt außerdem eine Urabstimmung über die Gehälter von mehr als 100.000 Beschäftigten der Kommunalverwaltungen durch, während das Royal College of Nursing seine Mitglieder befragen will, ob sie zu einem Streik bereit sind…“ engl. Artikel von The Observer/ Donald Macintyre und Toby Helm erschienen am 27. August 2022 im Guardian, siehe außerdem:
    • „Die größten Gewerkschaften Großbritanniens schlagen koordinierte Streiks im Herbst vor“
      „… Die Gewerkschaft Unison, die 1,3 Millionen Mitglieder zählt, beteiligt sich an den Streiks der Müllabfuhr in Schottland und plant Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten in Schulen, Kindergärten und Schulämtern. Unison und andere Gewerkschaften sind mit ihrer Forderung nach Lohnerhöhungen, die an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst sind, weitgehend abgeblitzt. (…) Am Sonntag erklärte Unite-Chefin Sharon Graham in der BBC Radio 4-Sendung Broadcasting House, dass ihre Organisation nicht nachgeben werde. Sie sagte, dass 73.000 ihrer Mitglieder im letzten Jahr in einen Konflikt involviert waren und dass 80% dieser Aktionen erfolgreich waren. (…) Graham kritisierte auch die Labour-Partei dafür, dass sie die Streiks nicht stärker unterstützt habe, und fügte hinzu, dass der Parteivorsitzende Sir Keir Starmer „mehr Rückgrat“ zeigen müsse. „Die Gewerkschaften erweisen sich als die Einzigen, die sich für die Arbeitenden einsetzen“, sagte sie. „Ich habe das Gefühl, dass das Parlament von der Wirtschaftslobby vereinnahmt wurde.“ BBC Meldung vom 28. August 2022 (engl.).
  • Britische Regierung stellt klammheimlich die Veröffentlichung der Streikerfassung ein
    „Der ‚heiße Streiksommer‘ wird noch heißer. Beschäftigte des öffentlichen und privaten Sektors, von Müllleuten bis zu Callcenter-Betreiber:innen, befinden sich derzeit im Arbeitskampf. Im Herbst könnten sich Pflegekräfte, Lehrer:innen, Beamte und Feuerwehrleute anschließen, da der Widerstand gegen die Krise der Lebenshaltungskosten wächst. Es mag daher seltsam erscheinen, dass die Regierung nur die spärlichsten Daten über Streiks aufzeichnet. Die Aufzeichnungen über Streiks in Großbritannien begannen 1891, wobei drei Messgrößen verwendet wurden: die Anzahl der Streiks (als ‚Arbeitsniederlegungen‘ bezeichnet), die Anzahl der beteiligten Arbeitenden und die Anzahl der nicht gearbeiteten Tage (als ‚Ausfalltage‘ bezeichnet). Diese Daten wurden nach Sektoren, Regionen und Ländern aufgeschlüsselt, so dass sie sowohl für England, Schottland, Wales und Nordirland als auch für das Vereinigte Königreich als Ganzes vorlagen. Mehr als fünf Jahrzehnte lang erstellte die Regierung jährlich einen Artikel, in dem der Stand der Dinge für das vorangegangene Kalenderjahr zusammengefasst wurde. Am 17. Mai 2019 veröffentlichte das Office for National Statistics (ONS) die jährlichen Streikdaten für 2018. Seitdem hat es keine solchen Berichte mehr gegeben. Das bedeutet, dass wir keinen Überblick über die Streiks in Großbritannien in den letzten drei Jahren haben. Ein Jahr später wurde in der Veröffentlichung vom Mai 2019 eine Erklärung eingefügt. „Die Auswirkungen der Pandemie auf die Kapazitäten und Fähigkeiten des ONS während dieses Zeitraums haben dazu geführt, dass wir die bestehenden Arbeitsmarktveröffentlichungen überprüft haben“, hieß es darin. „Infolgedessen werden die Datenerhebung und die Veröffentlichung von Arbeitskonflikten für die absehbare Zukunft eingestellt. Diese Maßnahme wird die Lieferung und Qualität unserer verbleibenden Veröffentlichungen schützen und sicherstellen, dass wir auf neue Anforderungen als direkte Folge von Covid-19 reagieren können“. Kurzum: Der Streikdatendienst hatte seinen Betrieb eingestellt. Seitdem gibt es keine Neuigkeiten über die zukünftige Veröffentlichung von Streikstatistiken. (…) Während der Pandemie hat das ONS jedoch weiterhin die Anzahl der nicht gearbeiteten Tage pro Monat veröffentlicht. Wenn das ONS weiterhin Daten über die Zahl der nicht gearbeiteten Tage sammeln kann, muss es auch wissen, wie viele Streiks es gegeben hat und wie viele Arbeitenden an diesen Streiks beteiligt waren. Wenn man ein wenig sucht, findet man auf der ONS-Website die monatlichen Statistiken über die Zahl der Streiks und die Zahl der beteiligten Arbeiter:innen (allerdings nur bis Januar 2020). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Jahresstatistiken berechnet werden können, da sich einige Streiks über mehrere Monate erstrecken. Letztlich bedeutet die beklagenswerte Unvollständigkeit der Daten, dass die größte Arbeitskampfwelle seit Jahren weitgehend unbemerkt bleibt. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Medien umfassend darüber berichten, denn selbst die fleißigsten Medien können nur Momentaufnahmen liefern. So wird die Öffentlichkeit über den Zustand der Gewerkschaftsbewegung im Unklaren gelassen…“ Artikel von Gregor Gall, erschienen am 15. August 2022 bei Novora Media („The Government Has Quietly Stopped Sharing Strike Data”).
  • Siehe auch einige Beispiele im Artikel von Peter Stäuber vom 05.08.2022 im ND online: „… In diesem Sommer dürfte es die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten geben. In den vergangenen Monaten haben 40 000 Eisenbahner von der Gewerkschaft RMT die Schienen im ganzen Land mehrere Tage lang lahmgelegt, zwei weitere Gewerkschaften wollen sich nun den Streiks anschließen. Zudem sind Postbeamte, Strafverteidiger und Unidozenten in den Ausstand getreten. Letzte Woche haben die Call-Center-Angestellten vom Telekom-Konzern BT zum ersten Mal überhaupt die Arbeit niedergelegt. In mehreren Regionen und Städten sind weitere kleinere Konflikte im Gang. Auch Ärzte, Hebammen, Lehrer und andere Angestellte im öffentlichen Sektor haben Streikabstimmungen in Aussicht gestellt. (…)
    Auch anderweitig zeigen sich Briten bereit zu zivilem Ungehorsam: Die Kampagne »Don’t Pay« hat sich zum Ziel gesetzt, mindestens eine Million Menschen dazu zu bringen, ab 1. Oktober schlicht keine Energierechnungen mehr zu bezahlen, aus Protest gegen die exorbitanten Kosten
    …“
  • Siehe davon im LabourNet:
  • Siehe auch Ein neuer „Winter der Unzufriedenheit“ in Großbritannien 2021?

Quelle: labournet.de… vom 10. Oktober 2022

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