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Russland: Ist Putinland faschistisch?

Eingereicht on 22. November 2022 – 12:20

Klaus Henning. Historiker wie Timothy Snyder behaupten, Putins Russland sei ein faschistischer Staat, andere hoffen, das Regime stünde kurz vor dem Sturz. Acht Thesen zum Charakter des Putin-Regimes.

  1. Der Angriff auf die Ukraine ist ein zentrales Projekt des russischen Imperialismus. Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens eskalieren den Konflikt weiter. 

Der Angriff Russlands vom 24. Februar 2022 zielt nicht nur darauf ab, die Ukraine wegen ihrer Rohstoffe und geostrategischen Lage zu erobern. Es geht auch darum, anderen Staaten in der Nachbarschaft aufzuzeigen, dass potentieller Widerstand gegen die Interessen Russlands mit militärischer Gewalt unterdrückt werden kann. Ein Ziel in diesem Zusammenhang besteht darin, ehemalige Sowjetrepubliken von einer Annäherung an den Westen abzuschrecken, zu einem Zeitpunkt, wo der westliche Imperialismus eine Reihe von Niederlagen (Irak und Afghanistan) und der russische einen relativen Sieg (Syrien) davongetragen hat. Eine Niederlage in der Ukraine wäre für die russische herrschende Klasse ein Rückschritt in diesem Vorhaben und könnte Sezessionsbewegungen in Russland sowie die Abwendung benachbarter Länder von Russland befeuern. Für die herrschende Klasse in Russland ist ein Sieg in der Ukraine also zu wichtig, als dass von ihr eine schnelle Beendigung des Krieges ohne substantielle Erfolge erwartet werden kann.

Waffenlieferungen und Sanktionen dienen dem westlichen Imperialismus als langfristiges Mittel, seinen russischen Konkurrenten zu schwächen. Die Sanktionen werden als friedliche Alternative zum Krieg dargestellt, doch das ist falsch. Die Bundesregierung behauptet, die Sanktionen könnten den Krieg schneller beenden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Durch den Wirtschaftskrieg des Westens eskaliert der Konflikt, der Krieg tobt weiter. Die Reaktionen des Westens haben Putin in keiner Weise veranlasst, seinen Kriegskurs zu überdenken. Vielmehr kann er westliche Waffenlieferungen und Sanktionen nutzen, um gegenüber der eigenen Bevölkerung seine aggressive Außen- und repressive Innenpolitik als alternativlos darzustellen. Nicht Druck von außen, sondern von innen, durch die russische Opposition und die Antikriegsbewegung, stellt den Schlüssel für die Beendigung des Krieges dar. (Lies hier die marx21-Artikel »Der Sanktions-Bluff« und »Warum Sanktionen alles nur noch schlimmer machen«.)

  1. Russland hat sich in den letzten zwölf Jahren sukzessive von einem autoritären Hybridregime in eine Diktatur verwandelt. 

Beim Angriff auf die Ukraine gab es keine nationalistische »Euphorie« wie nach der Annexion der Krim 2014. Stattdessen gingen Menschen trotz der Repressionen auf die Straße. Aber die Antikriegsproteste wurden niedergeschlagen. Der 24. Februar 2022 markierte auch innenpolitisch für Russland einen weiteren Einschnitt. Die schon zuvor bestehende Repression wurde nach dem Angriff drastisch verstärkt. Widerstand, selbst wenn er sich nicht zum Thema Ukraine äußert, ist derzeit fast nur im Untergrund möglich. Öffentlicher Protest gegen den Krieg ist schwer zu organisieren und kann gemäß eines Gesetzes gegen die »Diskreditierung der Armee« mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet werden. Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen, aber auch einfache Bürger:innen können durch Behörden zu »ausländischen Agenten« erklärt werden und müssen damit rechnen, auf Grundlage fingierter Anschuldigungen inhaftiert zu werden. Die öffentliche Kritik an Staatsorganen wird als »Fake-News« diffamiert und mit hohen Strafen geahndet. Führerende Akteur:innen der Opposition sind bereits inhaftiert worden oder haben das Land verlassen. Medienpersönlichkeiten, Künstler:innen, Intellektuelle, die nichts mit Politik zu tun haben, werden verfolgt, damit sich »falsche« politische Haltungen nicht in die Kultur und Kunst einschleichen. Die Repressionen können auch einfache Bürger:innen willkürlich und unvermittelt treffen. Falsche Smileys oder Kommentare in sozialen Netzwerken reichen manchmal aus, um hohe Geld- oder Haftstrafen zu bekommen. Umso erstaunlicher ist es, dass es den russischen Behörden bis heute nicht gelungen ist, den Protest gegen den Krieg zu unterbinden. Dieser äußert sich momentan allerdings der repressiven Situation entsprechend häufig individuell und anonym.

Zwar gibt es in Russland noch Wahlen, diese sind aber nicht frei, die Zulassung der Kandidat:innen wird streng kontrolliert. Immer wieder gibt es Berichte über Wahlfälschungen. Der Historiker Tony Wood bezeichnet das System als »Imitierte Demokratie«: Es werden Wahlen abgehalten, um den Schein einer Demokratie wie im Westen beizubehalten, die Zügel liegen jedoch in den Händen einer politischen Klasse, die in der Partei Putins, Einiges Russland, organisiert ist. Daneben gibt es noch »Blockparteien«, die die Macht der Regierungspartei nicht in Frage stellen. Es existiert auch  kein wie auch immer gearteter Rechtsstaat mehr. Zwar gibt es formell noch ein System von Gerichtsverfahren mit Gesetzen und Rechtsanwälten. Doch auch dieses System ist imitiert. Die Gesetze sind sehr unkonkret und bieten Staatsanwälten und Richtern viele Spielräume, die ohnehin auf der Seite des Regimes stehen.

Gleichzeitig pflegten Putin und seine Gefolgsleute in den vergangenen Jahren einen immer aggressiveren Chauvinismus, der den Ansichten russischer Faschisten (z.B. Alexander Dugin) kaum nachsteht. Auch in anderen politischen Fragen förderte das Regime extrem konservative Ideen (z.B Unterdrückung von LGBTQIA-Proteste). Es förderte auch nationalistische sowie proto-faschistische Parteien und Bewegungen im Westen und viele dieser Bewegungen beziehen sich positiv auf Putins Russland (beispielsweise die AfD in Deutschland, Rassemblement National in Frankreich oder die Lega in Italien).

 

Antikriegsprotest in Hong Kong am 25. Februar 2022. Auf dem Schild steht »Ich bin Russin. Ich bin gegen Krieg.«

3. Trotz der zunehmenden Repression wäre es falsch, das Regime in Russland als faschistisch zu beschreiben. 

Die antidemokratischen und repressiven  Entwicklungen in Russland haben dazu geführt, dass eine wachsende Zahl von Kommentator:innen im Putin-Regime einen neuen Faschismus sieht.  So etwa Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der das russische System  in der Tagesschau als »zunehmend faschistisch« charakterisierte. In jeder großen Tageszeitung wurden in der letzten Zeit Artikel oder Kommentare veröffentlicht, in denen Putin oder der russische Staat als faschistisch bezeichnet wurde. Den theoretischen Unterbau liefert der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder, der im Mai 2022 schrieb: »Wir sollten es sagen. Russland ist faschistisch«. Der Faschismusvorwurf dient der Begründung für Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine und schärferen Sanktionen gegen Russland.

Wer Russland faschistisch nennt, verschleiert, was Faschismus bedeutet, und verdeckt die Gefahr durch echte Faschisten. Der Faschismus entsteht durch eine gewalttätige Bewegung zur Vernichtung jeden Widerstands mit einer von Staat und Kapital zunächst weitgehend unabhängigen Massenbasis auf der Straße (Trotzki). Faschistische Regime an der Macht besitzen deswegen im Unterschied zu bürgerlichen Regimen einen Doppelstaat (Fraenkel), mit dem sie jede Form der Opposition unterdrücken können. Die Besonderheit eines faschistischen Systems besteht nicht primär in der besonders scharfen Repression oder im Nationalismus (beides Eigenschaften, die auch Militärdiktaturen aufweisen können), sondern in der Methode der Unterdrückung, basierend auf Mittelklasse-Milizen. Beide Merkmale des Faschismus fehlen im Falle Russlands: Es gibt keine vom Staat unabhängige Massenbewegung des Kleinbürgertums, die die Macht an sich gerissen hätte. In Putins Russland wurden alle Bewegungen, auch faschistische, unterdrückt, Dugins Partei, die »Nationalbolschewistische Partei«, wurde 2005 verboten. Auch das Merkmal eines faschistischen Doppelstaates mit bewaffneten Milizen, die sich neben die staatlichen Organe der Gewalt stellen würden, fehlt in Russland vollständig. (Lies hier den marx21-Artikel »Die Gegenwart des Faschismus«.)

4. Russland von heute ist zweifelsfrei eine Diktatur. Das bedeutet aber nicht, dass Widerstand und Klassenkampf verschwunden sind oder dass die Bevölkerung keine Chance hätte, das Regime zu stürzen. 

Manche Kommentator:innen, auch auf der Linken, die Waffenlieferungen und Sanktionen unterstützen, sind zwar nicht der Meinung, dass es sich bei Russland um Faschismus handelt. Doch viele von ihnen überbetonen die Macht Putins und des russischen Regimes und schätzen die Handlungsfähigkeit der russischen Arbeiterklasse und der Opposition als gering ein. Sie sehen daher die Politik der Sanktionen und die militärische Bezwingung des russischen Imperialismus als alternativlos an. Diese Haltung bringt Linke in gefährliches Fahrwasser, weil die Handlungen des westlichen Imperialismus unkritisch unterstützt werden. Damit leisten sie der Militarisierung und dem Nationalismus Vorschub und verabschieden sich von einer internationalistischen Position.

Das Ausmaß der Repression in Russland unterscheidet sich nicht von vielen anderen Ländern auf der Welt. Von allen Staaten auf der Welt sind nur ca. 20 vollständige Demokratien und weitere 50 unvollständige Demokratien. Der Rest sind Hybridregime wie die Türkei und die Ukraine, oder diktatorische Regime wie Russland. Wenn die Existenz repressiver Regime, vor allem in ärmeren Staaten, bedeuten würde, dass sich diese Länder nicht selbst befreien könnten, wäre jede Perspektive der Emanzipation begraben. Die Realität ist jedoch, dass es in Ländern mit ähnlichen oder sogar schärferen Repressionen Klassenkampf und Widerstand gibt, es immer wieder zu Aufständen kommt und autoritäre Regime mit ihren Diktatoren gestürzt werden (z.B. Nordafrika, Naher Osten).

Antiregimeproteste in Moskau im März 2021

5. Das politische und wirtschaftliche System in Russland hat sich in den letzten 30 Jahren autoritär entwickelt, jedoch nicht grundsätzlich gewandelt.

Putin hat die Oligarchen als Klasse nicht entmachtet. Sie waren nie so reich wie heute, die Korruption hat nie so hohe Ausmaße erreicht wie heute. In seiner Herrschaftszeit hat Putin viele neoliberale Reformen durchgeführt, dadurch hat sich die Lage der Bevölkerung, die ums tägliche Überleben kämpft, seit 2014 massiv verschlechtert. Auch Putins Vorgänger, Boris Jelzin, von 1991 bis 1999 der erste Präsident Russlands, war kein Demokrat. Er hat 1993 den Volksdeputiertenkongress mit Granaten beschießen lassen, weil dieser seine Wirtschaftspolitik nicht unterstützte. 190 Menschen sind damals ums Leben gekommen. Jelzin hat auch den brutalen Krieg gegen Tschetschenien begonnen, Massenbombardierungen und Kriegsverbrechen gehörten ebenso dazu wie Unterdrückung und Ermordung von Kriegsgegner:innen. Der Übergang von Jelzin zu Putin verlief friedlich und Putin setzte das fort, was Jelzin begonnen hatte. Er setzte den Tschetschenienkrieg fort, ließ die Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja ermorden, startete einen Krieg gegen Georgien, gegen Syrien und schließlich gegen die Ukraine. Die Kriegsverbrechen von Putin in Butscha und Mariupol hatten ihre Vorläufer während der beiden Tschetschenienkriege in Grosny oder eben im Syrien-Krieg in Aleppo. Die derzeitige Repression in Russland ist auch nicht grundsätzlich neu. Bereits während der Tschetschenienkriege war sie ein Mittel, um Oppositionelle mundtot zu machen. Die Repression ist für die Herrschenden in Russland nicht nur notwendig, um Krieg zu führen. Sie ist auch notwendig, um die Bevölkerung zu atomisieren und den Widerstand gegen soziale Angriffe klein zu halten.

6. Viele Oligarchen in Russland sind abhängig vom Staat oder eng mit ihm verbunden. Von ihrer Seite ist kein Widerstand gegen den Krieg zu erwarten.

Für die Angehörigen der herrschenden Klasse Russlands hat sich in den 1990er Jahren der Begriff Oligarchen etabliert. Im ursprünglichen Sinne wurde damit eine neue Klasse von Neureichen bezeichnet, die sich durch den Diebstahl von Staatseigentum skrupellos bereichert hatte. Die erfolgreichsten Neureichen waren jene, die enge Kontakte in den Staatsapparat hatten. Diese waren nötig, um bei Privatisierungen den Zuschlag zu erhalten. Um den Einfluss im Staatsapparat zu erhöhen, schufen sich die Oligarchen zunächst »ihre« politischen Parteien und versuchten, ihre Macht durch die Erlangung von Posten im Staatsapparat zu konsolidieren.

Von den Oligarchen der ersten Generation hat sich nur ein Teil in die Putin-Ära retten können. Die russische Finanzkrise von 1998 traf viele von ihnen hart. Sie waren beispielsweise im Bankensektor tätig, der im Zuge dieser Krise zusammenbrach. Putin entmachtete zudem diejenigen Oligarchen, die gegen ihn in Opposition standen. Das bekannteste Beispiel war Michael Chodorkowski, der wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Steuererklärung für neun Jahre ins Gefängnis kam. Der Chodorkowski-Fall diente als Signal an die anderen Oligarchen, dass sie sich bereichern können, wie sie wollen, solange sie sich nicht gegen das Regime stellen. Die meisten der heutigen Oligarchen sind sehr eng mit dem Staatsapparat verbunden und im Unterschied zur ersten Generation weniger im Bankensektor als im Rohstoff- und Industriesektor tätig.

Die Verhaftung von Chodorkowski hatte nicht nur das Ziel, die Oligarchen auf Linie, sondern auch den Rohstoffsektor unter die Staatskontrolle zu bringen. Die staatliche Kontrolle des Rohstoffsektors bedeutet jedoch nicht, dass in Russland der Kapitalismus zurückgedrängt oder »gebändigt« worden wäre. Denn in fast allen Rohstoff exportierenden Ländern auf der Welt befindet sich dieser Sektor in staatlicher Hand. In Russland selbst ist dies nicht einmal der Fall, denn der Sektor ist größtenteils privatwirtschaftlich organisiert.

Der Fall Chodorkowski reiht sich in eine Reihe weiterer Repressionen gegen Oligarchen ein – bis hin zu mysteriösen Todesfällen und tödlichen Unfällen. Aber nicht nur diese Repression führt dazu, dass es keinen Widerstand von den Oligarchen gegen den Ukraine-Krieg gibt, sondern viele von ihnen sind abhängig vom Staat oder eng mit ihm verwoben. Zwar sind sie von westlichen Sanktionen betroffen, es gelingt ihnen aber, die Verluste auf den Rücken der russischen Arbeiterklasse abzuladen. Einige verdienen auch direkt am Krieg. Der Öl- und Gaspreis ist angestiegen, davon profitieren die Oligarchen, entweder weil sie Wirtschaftszweige im Bereich Rohstoffe kontrollieren oder weil sie Wirtschaftszweige kontrollieren, die für die Kriegswirtschaft entscheidend sind bzw. die durch die Mehreinnahmen im Rohstoffbereich vom Wirtschaftswachstum profitieren. Widerstand gegen den Krieg von Seiten der Oligarchen ist nicht zu erwarten.

Moskau ist das Finanzzentrum Russlands.

7. In Russland existiert eine Klassengesellschaft. Die Lage der Arbeiterklasse hat sich in den letzten acht Jahren nicht verbessert.

Auf der anderen Seite steht die russische Bevölkerung. Sie besteht zu einem großen Teil aus  Arbeiter:innen. Russland ist ein Industrieland. In den 1980er Jahren waren 45 Prozent der Beschäftigten im Industriesektor tätig. Die 1990er Jahre waren von scharfen Wirtschaftskrisen, Massenentlassungen, Inflation und der Verarmung der Arbeiterklasse geprägt. Trotzdem kam es kaum zu Widerstandsaktionen. Die russische Arbeiterklasse fand Wege, um das Überleben zu sichern, ohne aufbegehren zu müssen, beispielsweise durch Selbstversorgung über Kleingärten. Einige Verteidiger von Sanktionen behaupten heute, dass diese dazu führen könnten, dass die russische Bevölkerung sich gegen Putin erhebt, weil sie die Folgen zu spüren bekommt. Die Erfahrung der 1990er Jahre zeigt das Gegenteil: Verarmung schlägt nicht automatisch in Widerstand um, sondern kann schnell die Apathie fördern, weil sich Menschen mit dem Regime gegen den Westen solidarisieren.

Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens eskalieren den Konflikt weiter.

Heute arbeiten ca. 25 Prozent der russischen Beschäftigten im Industriesektor, 70 Prozent im Dienstleistungssektor und der Rest in der Landwirtschaft. Das Gehalt ist stark von Region und Branche abhängig, es gibt eine sehr große Lohnspreizung, der Durchschnittslohn liegt bei 600 Euro, der Mindestlohn bei ca. 160 Euro. In vielen Bereichen ist der Arbeitsschutz in Russland sehr viel geringer als im Westen, die Arbeitszeiten sind unregulierter. Das ist nicht nur das Erbe der Jelzin-Ära, auch Putin hat das Arbeitsrecht liberalisiert. 2018 hat er auch das Renteneintrittsalter erhöht, damals gab es Proteste angeführt von den staatlichen Gewerkschaften.

Die Lage der Arbeiterklasse hat sich in den vergangenen acht Jahren nicht verbessert. Im Jahr 2015 sind die Durchschnittslöhne deutlich (800 auf 600 Euro) gefallen. Dies war Ergebnis der russischen Wirtschaftskrise, in deren Folge die russische Wirtschaft in eine tiefe Rezession rutschte. Der Hauptgrund dieser Krise war der stark gefallene Ölpreis – die russische Wirtschaft ist weiterhin stark vom Rohstoffexport abhängig. Derzeit steigt der Gas- und Ölpreis, das ermöglicht es dem Regime, einige soziale Zugeständnisse zu machen, beispielsweise eine Erhöhung des Mindestlohnes, der Renten oder des Mutterschaftsgeldes. Infolge des Krieges gab es Massenentlassungen, aber vor allem in westlichen Unternehmen, die ihre Filialen in Russland dicht machten. Die Arbeitslosigkeit ist mit dem Krieg und den Sanktionen insgesamt kaum gestiegen und liegt bei ca. fünf Prozent. Unter diesen Bedingungen gibt es in Russland Widerstand.

8. Das größte Potential, den Krieg schnell zu beenden, liegt bei der russischen Bevölkerung, wenn sich diese gegen Putin und seinen Krieg erhebt.

Die Opposition in Russland ist zwar schwach, aber vorhanden, aktiv und vor allem sehr, sehr mutig. Sie ist nicht einheitlich. Es gibt Bewegungen, die sich gegen Korruption, gegen politische Unterdrückung, für Gleichberechtigung der Geschlechter und LGBTIQ-Rechte einsetzen, aber auch solche, die sich gegen den Krieg richten. Es gibt Gewerkschaften, die eher regierungsnah sind, aber auch unabhängigere, radikale Gewerkschaften. Der Verband der postsowjetischen Gewerkschaften unterstützt den Krieg, aber der kleinere Verband der unabhängigen  Gewerkschaften hat sich gegen den Krieg positioniert. Hervorzuheben ist die Lehrergewerkschaft »ucitel«, die sich gegen Kriegspropaganda in Schulen wendet. Es gibt eine Pluralität von linken Gruppen, die, wie die eher liberal orientierten Bewegungen, im Untergrund agieren müssen. Die Linke ist sich in ihrer Haltung zum Krieg nicht einig: Ein Teil unterstützt die »Spezialoperation«, ein Teil fordert ein Ende des Krieges und  Verhandlungen, ein Teil unterstützt einen Sieg der Ukraine. In diesem Punkt unterscheidet sich die russische Linke nicht von der Linken im Westen.

Bereits 2014, bei der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass, gab es eine große Antikriegsbewegung in Russland. Zehntausende demonstrierten in Moskau und St. Petersburg unter dem Slogan »Hände weg von der Ukraine«. Dann kamen westliche Sanktionen und die Unterstützung der ukrainischen »Anti-Terror-Operation« im Donbass mit westlichen Milliardenkrediten und Militärhilfen. Eine Folge davon war, dass Putin die russische Antikriegsbewegung mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit zerschlagen konnte. Das gleiche Muster wiederholte sich nach dem Angriff am 24. Februar 2022.

Das größte Potential, den Krieg schnell zu beenden, liegt bei der russischen Bevölkerung, wenn sich diese gegen Putin und seinen Krieg erhebt. Dies ist kein Wunschdenken: Der Rückzug aus Afghanistan in den 1980er Jahren war auch ein Ergebnis der Proteste in der späten Sowjetunion, insbesondere die der Bergarbeiter und der nationalen Minderheiten. Der Rückzug aus Tschetschenien in den 1990er Jahren war auch ein Ergebnis der russischen Antikriegsbewegung und der Bewegung der Soldaten-Mütter. Dass solche Bewegungen auch unter den repressiven Bedingungen diktatorischer Regime möglich sind, zeigen die Proteste in Kasachstan, Tadschikistan und Belarus in der letzten Zeit.

Quelle: marx21.de… vom 22. November 2022

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