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Frankreich nach den massiven Demonstrationen vom Samstag, den 11. Februar

Eingereicht on 13. Februar 2023 – 16:53

Bernard Schmid. Alles deutet auf einen Streikausbruch mit etwas entschlosseneren Methoden ab dem 07. März hin – Zu dem Zeitpunkt bleiben noch 19 Tage bis zum Abschluss des parlamentarischen Verfahrens zur „Reform“ – Hoffentlich nicht spät… – Und einige nicht unwichtige Gedanken zur Rolle der CFDT

Frau Premierministerin ist erzürnt: Im Laufe dieses Wochenendes (11. und 12. Februar) griff Regierungschefin Elisabeth Borne zum Telephon und rief mehrere Gewerkschaftsvorsitzende persönlich an. Unter ihnen zunächst Laurent Berger von der CFDT und Frédéric Souillot von Force Ouvrière (FO, drittstärkster Dachverband). Zuerst nicht auch die CGT, doch späterhin, im Laufe des Sonntag Abend ereilte dann auch deren Generalsekretär Philippe Martinez ein Anruf. Mochte die Regierungsspitze verhandeln? Nicht wirklich: Borne brachte vor allem ihren Unmut darüber zum Ausdruck, welcher bestehe, falls sich die Gewerkschaften nicht „verantwortungsfähig“ zeigten und etwa das Land lahmen wollten. Martinez kommentierte in einem TV-Interview am Montag früh bei RMC und BFM TV, Elisabeth Borne habe wohl symbolisch unterstreichen wollen, dass der Gesprächsfaden nicht abgerissen sein, ohne jedoch über Inhalte der „Reform“ diskutieren zu wollen.

Nach den massiven Demonstrationen vom Samstag, den 11. Februar versammelten sich die in der intersyndicale zusammengeschlossenen Gewerkschaftsvorstände erneut, Souillot von Force Ouvrière verlas ihre gemeinsame Erklärung. Dieses Mal fiel der Ton relativ klar aus: Sollte die Regierung nach den Massendemonstrationen in bis zu vierhundert französischen Kommunen nun auch weiterhin nicht nachgeben, übernehme sie die „Verantwortung dafür, wenn das Land lahmgelegt wird“. Dieses Mal ist es als eine klare Ansage zu auch entschlossenen und nicht von vornherein befristeten Streiks zu lesen. Auch wenn die CFDT – rechtssozialdemokratisch geführter Dachverband – lieber eine Kombination aus Demonstrationen und aus Solidarität „geschlossenen Geschäften“ im Handel sähe, aber unbefristete Streiks klar nicht befürwortet, während die CGT auch zu Letzteren bereit ist.

Am Samstag demonstrierten laut gewerkschaftlichen Angaben „2,5 Millionen“ Menschen, laut Zahlen des Innenministeriums hingegen „936.000“ frankreichweit. In der Hauptstadt Paris kamen laut Gewerkschaften „500.000“, laut behördlichen Zahlen „93.000“ Menschen zusammen. Dies entspräche bei den Gewerkschaftszahlen einem Wert auf derselben Höhe wie bereits am zweiten Aktionstag vom 31. Januar d.J. (hingegen sprachen die Gew. am ersten und am dritten Aktionstag, also am 19. Januar und am vpriger Dienstag, den 07. Februar, jeweils von etwas niedrigeren „400.000“). Hingegen würde die Zahl in Paris aus behördlicher Sicht einen Rekord im Zuge der bisherigen Mobilisierung darstellen, mit 93.000 (gegenüber respektive 80.000 und 87.000 an den ersten beiden Aktionsterminen im Januar), also eine Steigerung im Laufe der Wochen.

Die wirkliche Zahl in Paris dürfte bei rund 200.000 liegen, auf einem ähnlich hohen Niveau wie am 31. Januar, vielleicht knapp darunter. Das Vorbeiziehen an einem festen Beobachtungsunkt (im Falle des Verf.: am boulevard Voltaire vor der Nummer 55) dauerßte zwei Stunden und acht Minuten, bei einer durchschnittlichen Dimension von rund dreißig Personen pro Linie; die Tatsache einberechnet, dass vor allem in der Mitte der Zeitspanne auch viele Menschen über die Trottoirs seitlich zogen. Wie bereits an den drei vorausgehenden Aktionstagen am 19.01., 31.01. und 07.02. d.J. gab es zwei parallele Routen.

Frankreichweit gehen realistische Beobachter/innen davon aus, dass die Mobilisierung in Paris quantitativ im oberen Bereich des bisher (seit Januar d.J.) Dagewesenen lag, in der „Provinz“ hingegen leicht rückläufig, auf – für kleinere Städte – hohem Niveau.

Ebenso klar muss jedoch sein, dass mit einer weiteren quantitativen Ausdehnung – die man sich u.a. von der Auswahl eines Samstagstermins, welcher auch ohne Lohnausfall durch Streikbeteiligung eine Teilnahme ermöglichen sollte, versprochen hatte – derzeit nicht ausgegangen werden sollte. Ohne qualitative Zunahme in der Auseinandersetzung dürfte es keinen quantitativen Zuwächse mehr geben, sondern eher ein Abbröckeln drohen.

Am Donnerstag, den 16. Februar findet nun ein weiterer, fünfter Aktionstag statt, von dem man sich wohl nichts wirklich Neues versprechen sollte (wobei Martinez im TV-Interview leicht verschmitzt eine mögliche Überraschung ankündigte; vorige Woche lag die Überraschung darin, dass am Dienstag ein zuvor unangekündigter Streik für den Ausfall von fünfzig Prozent des Flugverkehrs am Pariser Flughafen Orly sorgte, im Privatsektor müssen Streikteilnehmen sich anders als in öffentlichen Diensten nicht vorab ankündigen). Allerdings könnte das Interesse des Aktionstags darin liegen, dass möglicherweise am selben Donnersag im Parlament – im „Unterhaus“, in der Nationalversammlung“ läuft die Debatte in erster Lesung noch bis zum folgenden Tag – über den zentralen Artikel 7 des Gesetzentwurfs debattiert wird. Er enthält die Anhebung des Mindestalters von 62 auf 64. Dies dürfte allerdings voraussetzen, dass die parlamentarische Linksopposition ihrer Taktik der „Obstruktion“ ein Ende setzt, die darin besteht, die Debatte mit Zehntausenden Anträgen zu verpropfen (von insgesamt 20.500 Änderungsanträgen zum Text kommen 18.000 vom Linksbündnis NUPES, zum Teil auch inhaltslose). Sowohl CFDT-Chef Berger als auch CGT-Chef Martinez am heutigen Vormittag sprachen sich dafür aus, die Debatte bis zum Artikel 7 kommen zu lassen, da, formulierte Martinez, man vorzeigen können wolle, welche(r) Abgeordnete(r) dazu wie abstimmt. Dies würde allerdings der parlamentarischen „Obstruktions“taktik widersprechen….

Am 07. März dürfte es dann in eine entscheidende Runde gehen, falls die Regierung nicht bis dahin eine überraschende Kehrtwende verkünden sollte.

Hoffentlich kommt dies nicht zu spät. Aufgrund des durch die Regierung gewählten Verfahrens – Lesung des „Reform“entwurfs als Haushaltsgesetz – muss die Parlamentsdebatte in beiden Kammern bis zum 26. März abgeschlossen sein, ansonsten darf die Regierung den Text auf dem Verordnungsweg ankündigen. Neunzehn Tage bleiben also ab dem 07. März noch, bis der Text als verabschiedet gelten darf/muss. Zwar gibt es historische Präzedenzfälle dafür, dass auch ein einmal beschlossener Gesetzestext vom Tisch genommen werden kann – im April 2006 hat es das in Frankreich beim Kündigungsschutz für die jüngeren Beschäftigten (unter 30) gegeben, es ging damals um den „Ersteinstellungsvertrag“ CPE -, doch dies zu erreichen, ist anspruchsvoll.

Der Bruch zwischen den gesellschaftlichen Lagern  durchzieht unterdessen insbesondere den Gewerkschaftsdachverband CFDT. Dessen Führung hatte sich in den letzten 25 bis 30 Jahren zu einer wichtigen Stütze bei der – leicht sozial abgefederten – Umsetzung zentraler Projekte der kapitalistischen Eliten entwickelt. Derzeit ist jedoch ein Teil seiner Basis stark an den Protestmobilisierungen beteiligt, durchaus mit einigem Elan (vgl. auch unsere Photos dazu), einschließlich Bezugnahme auf 19698 in den vielfach benutzten Parolen.

Auch die Renten„reformen“ von 1995 und 2003 trug die CFDT, jedenfalls ihre Spitze, mit; bei jener von 2010 unter Nicolas Sarkozy protestierte die CFDT dagegen mit, allerdings ohne allzu viel Pepp, und die 2010er „Reform“ wurde trotz insgesamt 14 „Aktionstagen“ mit Demonstrationen im November jenes Jahres verabschiedet.

Doch im Juni 2022 zwang ein Gewerkschaftstag die Führung des Dachverbands ein Stück weit auf Linie: 67 Prozent der Delegierten stimmten gegen einen windelweichen Antragsentwurf des Vorstands, welcher ihm die Zustimmung zu allen möglichen Renten „reformen“ ermöglicht hätte, und für einen in einem Punkt wesentlich härteren Entschließungsantrag. Dieser sieht zumindest ein klares Nein zur Anhebung der Altersgrenze (derzeit 62) für das Renteneintritt-Mindestalter vor.

Allerdings darf man sich nicht in Illusionen wiegen: Eine genauere Lektüre des verabschiedeten Antrags – den eine Teilen der CGT nahe stehende, dem eher sowjetnostalgischen Flügel der französischen KP verbundene Webseite in diesen Tagen nochmals ausführlich mit durchaus zutreffenden Kommentaren dokumentiert: http://www.communcommune.com/2023/02/la-motion-votee-a-son-dernier-congres-qui-engage-la-cfdt-a-agir-contre-l-augmentation-de-l-age-de-la-retraite.html – belegt, dass er sich zuglech für eine Anhebung der Zahl obligatorischer Beitragsjahre ausspricht, wie er 2013/14 unter François Hollande (von zuvor 41,5 auf 43) beschlossen wurde. Und der Antrag lässt zugleich eine Tür für eine „systemische Reform“ (réforme systémique) offen. Dies ist genau das, was die Regierung unter Emmanuel Macron 2019/2020 plante, womit sie sich damals jedoch nicht durchsetzen konnte, obwohl ihr damaliges „Reform“vorhaben jedoch zunächst unmittelbar aufgrund der Pandemiekrise abgebrochen wurde. „Systemische Reform“ bedeutet, als wichtigste Stellschraube die Zahl der Beitragsjahre und nicht länger eine Altersgrenze zu betrachten; zugleich beinhaltete das Vorhaben damals, unter dem Stichwort: „Rente nach Punkten“ (retraite à points), die Rentenhöhe auf die gesamte Länge der Lebensarbeitszeit zu berechnen, nach dem Motto: „Einem jeden nach den Früchten seiner Arbeit…“

Dies wurde damals (Anfang 2020) durch die CFDT im Kern befürwortet; zugleich jedoch durch die damalige Streikbewegung vehement abgelehnt. Es läuft darauf hinaus, viele Renten abzusenken – im Namen eines „Gerechtigkeits“ideals -, denn bislang werden die Renten auf der Basis der 25 besten Berufsjahre berechnet, und zwar seit den „Reformen“ von 1993 und ff.; zuvor waren es die besten zehn. Je breiter jedoch die Berechnungsgrundlage auseinander gezogen wird, desto mehr schwach bezahlte Jahre rutschen hinein, d.h. die Höhe der ausbezahlten Renten kann dabei vielfach nur sinken.

Doch sowohl der Leitungsapparat der CFDT als auch die bürgerlich-konservative Opposition in Frankreich – die sich derzeit gespalten zeigt und teilweise relativ wenig von Macrons „Reform“plänen, v.a. der geplanten Alters-Anhebung begeistert ist – favorisieren diese „Rente nach Punkten“ derzeit als angeblich gerechtere Alternative zur derzeit geplanten „Reform“.

Auch der wirtschaftsliberale Leitartikler (Wochenmagazin L’Express) und häufige Studiokommentar öffentlich-rechtlicher wie privater TV-Sender, Christophe Barbier, favorisierte am gestrigen Sonntag früh eine solche Option in einem seiner Fernsehbeiträge: Sollte die derzeitige Regierung zu viel Zugeständnisse in die derzeitige „Reform“ einbauen müssen – angeblich senken die bislang gemachten Zugeständnisse, etwa für jene, die vor dem Alter  von 20 zu arbeiten begannen, die erwartete Einsparungseffekte der „Reform“ derzeit  von zuvor 17 auf 12 Milliarden Euro jährlich -, dann verliere diese ohnehin an Interesse. Werde der soziale Druck zu stark, könne man auch auf die derzeitige „Reform“ verzichten und später eine bessere vorbereiten. Etwa eine „Rente nach Punkten“..

Kurz, wird – um einen bekannten Ausspruch von Charles de Gaulle aus den Tagen des Zweiten Weltkrieg aufzugreifen – in näherer Zukunft eine Schlacht gewonnen, wird dadurch noch nicht der ganze Krieg gewonnen sein. Und die derzeitigen Aktivitäten an der Basis der CFDT sind zwar durch-, ja überaus positiv zu sehen; allerdings wäre es ein ziemlich schwerer Fehler, auch den Apparat der CFDT längerfristig für einen Verbündeten zu halten…

Doch, um im Bild zu bleiben (ohne militaristische Denkweisen zu übernehmen), erst einmal muss die aktuelle Schlacht auch gewonnen werden!

Quelle: labournet.de… vom 13. Februar 2023

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