Louis Althusser und die Lektion des Staates
Vor 25 Jahren starb der französische Philosoph Louis Althusser 72 jährig. Sein Beitrag zur marxistischen Theoriebildung ist ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.
Ideologie konstituiert nach Althusser Individuen zu politischen Subjekten per Aufforderung, zielgerichtete Handlungen im Leben zu tun. Seine Schrift »Ideologie und ideologische Staatsapparate« ist vermutlich die einzige von einiger Bedeutung. Er bereitete eher der Postmoderne den Weg, als dass er den Marxismus voranbrachte.
Ab den 1970er Jahren entstanden neue Theoriebildungen im Umfeld des Marxismus, die die neuen Formen der Eingliederung der linken Protestpotentiale in die Konsensmechanik des bürgerlichen Staates tröstend begleiten sollten – mit einer verächtlichen Geste gegenüber der Arbeiterklasse. Diese hatte die Klassenkämpfe in den 1960er und 1970er Jahren getragen und befand sich fortan wieder in einem Rückzug – überwältig von den neuen Formen der Offensive des internationalisierten Kapitals zur Vertiefung der Warenform im Arbeits- und Lebensprozess der breiten Massen. Auf dieser Grundlage der neuen Bedingungen suchten die Apparate der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Parteien nach Möglichkeiten einer Fortsetzung der Politik der Klassenzusammenarbeit. Für die Kommunistischen Parteien wurde die entsprechende theoretische Arbeit insbesondere durch Louis Althusser, für die Sozialdemokratie durch Jürgen Habermas geleistet. Beiden Konzeptionen ist gemeinsam, dass der Staat gegenüber den Klassenkämpfen eine Autonomie besitzt. Diese kann durch linke politische Kräfte genutzt werden, um diesen durch eine innere Kolonialisierung zu erobern und dann die gewünschten Veränderung – z.B. eben die Brechung der Austeritätspolitik – einzuleiten. Das griechische Syriza-Debakel hat – nebst tausenden von anderen und älteren Beispielen – erneut aufgezeigt, wie gefährlich diese Illusion ist.
Detlef Kannapin ist Filmhistoriker und lebt in Berlin. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medienbildung im Bundestag. Dieser Beitrag wurde in der Jungen Welt vom 22. Oktober 2015 veröffentlicht. [Redaktion maulwuerfe.ch]
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Detlef Kannapin. Als der französische Strukturalist Louis Althusser am 22. Oktober 1990 72jährig in Paris starb, war auch die Selbstabschaffung des Sozialismus beinahe schon vollständig vollzogen. Sein Tod ging mehr oder weniger geräuschlos im allgemeinen Taumel beginnender »Transformation« des Fortschrittszeitalters in der Ära des anhebenden »Endes der Geschichte« unter. Die unfreiwillige Mitarbeit an jenem »Ende« mit Hilfe seiner theoretischen Konstruktionen dürfte Althusser jedoch kaum bewusst gewesen sein. Auch als 1992 posthum noch zwei autobiographische Texte von ihm erschienen, waren Bekanntheit und früherer Ruhm höchstens noch einigen verstockten Restlinken, wenigen euphorisierten Studentenzirkeln und den professionellen Frankreich-Kennern der Philosophiegeschichte gegenwärtig. Allenfalls die von ihm begangene ominöse Tat des Erdrosselns seiner Ehefrau am 16. November 1980, die spätere Behauptung Althussers, er könne sich an dieses Ereignis überhaupt nicht mehr erinnern, sowie das Wissen um langjährige psychische Störungen waren immer mal wieder eine Schlagzeile wert.
Inzwischen hat, auch unter dem Eindruck vermehrter Anstrengungen zur adäquaten theoretischen Erfassung der Gegenwart, eine eigentümliche und durchaus überraschende Wiedererschließung (Renaissance wäre sicher zu viel) des Werks von Louis Althusser im deutschen Sprachraum stattgefunden. Seit 2010 werden in der Herausgeberschaft von Frieder Otto Wolf sukzessive die Gesammelten Schriften Althussers, neu übersetzt und zum Teil erweitert, neuveröffentlicht. Erschienen sind bislang die drei »Klassiker« von Althusser, »Für Marx« und »Das Kapital lesen« (beide 1965) sowie in zwei Halbbänden »Ideologie und ideologische Staatsapparate« (1969/70) und »Der Überbau« (1969). Folgen sollen noch die philosophiehistorischen Porträts, verteilte Schriften zur Psychoanalyse, der Komplex zur Krise des Marxismus aus den 1970er Jahren und gegebenenfalls eine Reihe von Spätschriften. Außerhalb dieser Edition gibt es noch einen Band mit Aufsätzen aus den 1980er Jahren unter dem Titel »Materialismus der Begegnung«, die deutlich Althussers Abkehr von früheren Positionen markieren und gleichzeitig die vollständige Isolation seiner Theorie von der ursprünglichen politischen Praxis bezeugen. Dass die Einsamkeit des Philosophen gegen Ende seines Lebens auch das Eingeständnis des Scheiterns seiner Theorie war, lag gewissermaßen bereits in der strukturalistischen Lesart bestimmter Texte und der strukturalistischen Interpretation der Wirklichkeit begründet.
Trotzdem kommt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek zu folgender aktueller Einschätzung (als Klappentext der Neuauflage von »Für Marx«): »Louis Althusser ist der große Abwesende der gegenwärtigen linken Theorie: Obwohl sein Name nur selten erwähnt wird, sind die von ihm geprägten Begriffe überall zu finden – von der Überdetermination bis zu den ideologischen Staatsapparaten. Es ist an der Zeit, ihn dorthin zurückzuholen, wo er hingehört: in den Mittelpunkt unserer theoretischen Kämpfe.« Dass es sich hierbei um eine maßlose Übertreibung handelt, lässt sich an fast allen Beiträgen von Althusser studieren.
Marx-Lektüren
Althussers Eintritt in das marxistische Theoriegebäude war mit der Aufsatzsammlung »Für Marx« verbunden, einer relativ losen Zusammenstellung verschiedener Texte aus den Jahren 1960 bis 1964 über philologische Einzelprobleme der Werke von Karl Marx. Aufsehen erregte dabei vor allem sein Vorwort, das suggerierte, er, Althusser, habe nunmehr den authentischen Marx gefunden, da dieser ja vorher infolge der Überformung durch Leninismus und Stalinismus unkenntlich gewesen sei. Außerdem habe es bislang in Frankreich (bis 1965) überhaupt keine seriöse Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus gegeben, weshalb jetzt anhand der Begriffe Struktur, Überdeterminierung und Humanismus die eigentliche wissenschaftliche Arbeit erst beginne. Das war schlichtes Handwerksklappern für die eigene Exklusivität, denn man konnte solcherlei nur behaupten, wenn man unterschlug, was bis dahin von Henri Lefebvre, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Raymond Aron, Lucien Sève sowie (über die Kontextroute Hegel) von Alexandre Kojève zum Thema Marx gesagt und geschrieben worden war.
Darüber hinaus wartete Althusser mit der »Entdeckung« auf, wonach es zwischen den Jugendschriften von Marx (bis 1845) und den reiferen Werken (ab 1845) einen erkenntnistheoretischen (»epistemologischen«) Einschnitt gegeben habe, der die Schriften in eine ideologische und eine streng wissenschaftliche Phase teile und man eigentlich nur im »reifen« Marx den wahren, also den des »Kapitals«, entschlüsseln könne. Auch hier wurde die »Erkenntnis« mit einer Irreführung erkauft, nämlich der, Marx hätte sich, je älter er wurde, immer weiter von Hegel entfernt. Das Gegenteil war natürlich der Fall: Das Gesamtwerk von Marx besaß und besitzt in seiner absoluten Konsequenz und in seiner Kontinuität die unwiderlegbare Tendenz, die Widersprüchlichkeit zwischen den Behauptungen der Vertreter des Kapitals und den objektiven Tatsachen des Kapitalprozesses insgesamt bloßzulegen. Hegelsche Dialektik und Hegelsche Logik durchziehen die Kritik der politischen Ökonomie bei Marx in jeglicher Hinsicht, was natürlich dem Anti-Dialektiker Althusser, trotz seiner häufigen Benutzung der Vokabel »Dialektik«, ein Dorn im Auge sein musste.
Schon 1963 war bei Althusser der Strukturalismus vor die Analyse der realen Zusammenhänge getreten, wie nachstehende Definition von der »Ungleichheit der Ursprünge« im Verhältnis zum »marxistischen Widerspruch« zeigt: »Die spezifische Differenz des marxistischen Widerspruchs liegt in seiner ›Ungleichmäßigkeit‹ oder ›Überdetermination‹, die in sich ihre eigenen Existenzbedingungen reflektiert, nämlich als die spezifische Struktur der Ungleichmäßigkeit (mit Dominante) des immer-schon-gegebenen komplexen Ganzen, die dessen Existenz ausmacht.« Entkleidet vom strukturalistischen Vokabular würde das heißen: Widersprüche wirken ungleichmäßig, müssen auf ihre Ursachen zurückgeführt werden, und diese Ursachen strukturieren die Widersprüche. Eigentlich also ein Hohlspiegel ohne Marx, in der Absicht, Hegel und Lukács zu entsorgen, und mit wieder erinnertem Heidegger (Existenz) und vorweggenommenem Derrida (Differenz). Nichts übrigens ist so überflüssig wie die Aufforderung, eine realistische Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen an die »Reflexion« ihrer eigenen Voraussetzungen zu binden. Man würde dann nie fertig und auch gar nicht zum Witz der Sache vordringen.
Das war, auf Basis derart angelegter falscher Prämissen, auch der Grundfehler der unter Althussers Leitung konstruierten Abstraktionsspirale mit dem Titel »Das Kapital lesen«. Für das in der vollständigen Übersetzung 750 Seiten starke Konvolut wurde zwar in Anspruch genommen, dass es eine Lektüreanleitung des Marxschen Hauptwerkes abgebe, im Resultat stellte es sich aber eher als eine Hervorbringung strukturalistischer Spekulation heraus. Speziell Althussers Oszillationen um einen erst herauszuarbeitenden »Erkenntniseffekt« im »Kapital« verhindern einen direkten Zugriff auf die an sich schon nicht wenig abstrakte Argumentation von Marx und verführen kaum dazu, »Das Kapital« auch wirklich anzufassen. Das alles mutet statt dessen wie eine Vorstudie zu den späteren Diskursanalysen á la Foucault an. Die Bedeutung von »Das Kapital lesen« entspricht deshalb bei Marx in etwa den nicht zur Veröffentlichung bestimmten »Theorien über den Mehrwert« (1861–63), die Marx lediglich als Systematisierung seines Studienmaterials betrachtete. Sofern man diesen Stellenwert missachtete und zugleich Stationen des Forschungsprozesses als das Ergebnis ausgäbe, träfe für »Das Kapital lesen« das zu, was der US-amerikansiche Historiker Howard Zinn von den »Theorien über den Mehrwert« sagte: Es sind drei Bände, »die Sie wahrscheinlich umbringen werden«. Es ist also mitnichten so, wie der Herausgeber Frieder Otto Wolf glaubt, dass Althussers Marx-Lektüren auf eine »grundsätzliche Herrschaftsüberwindung« abzielen, sondern durch ihren Modus der Ablenkung vielmehr der strukturalistischen Zementierung von Herrschaft dienen.
Lenin und die Philosophie
Ungleich spannender wurde Althussers Ausflug zu Lenin in einem 1968 gehaltenen Vortrag vor der »Französischen Gesellschaft für Philosophie«. In der Diskussion über Lenins Intervention auf philosophischem Gebiet konnte er, ohne sein theoretisches Modell als solches in Frage stellen zu müssen, zumindest zwei wesentliche Aspekte herausarbeiten, die auch heute noch einige Bedeutung besitzen:
Erstens begriff Lenin als erster, dass philosophische Fragestellungen eine bestimmte Erscheinungsform, Fortsetzung und Wiederholung der Politik sind. Für sogenannte Fachphilosophen wirkte und wirkt diese objektive Erkenntnis natürlich unerträglich, was sich über ein Jahrhundert hin an der akademischen Häme gegenüber Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« (1908) nachzeichnen ließe.
Zweitens wurde durch Lenin bewusst gemacht, dass die Philosophie die Politik im theoretischen Bereich repräsentiert, und dass umgekehrt die Philosophie auch die Wissenschaftlichkeit (oder deren Notwendigkeit – D.K.) in der Politik repräsentiert. Die Beziehungen dieser Repräsentationen hätten durchaus das Potential gehabt, in einer dialektischen Synthese weiterentwickelt zu werden. Das theoretische Fundament lag bei Lenin selbst, und die Heranziehung seiner »Philosophischen Hefte« (insbesondere dort seine Rezeption von Hegel) wäre für eine Theorie des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie äußerst erhellend gewesen.
Es ist aber bezeichnend, dass Althusser trotz seiner Beteuerungen, gerade diesem Verhältnis theoretisch auf die Spur kommen zu wollen, nie den Weg weiter verfolgt hat. An Lenin interessierte ihn der Materialismus, den er auch noch mechanisch als Wesen und Grundlage aller Denkprozesse (bzw. gegen Endes seines Lebens als aleatorischen, in der Symptomatik vom Zufall abhängenden) interpretierte und nicht die Dialektik, die ihm und seinem Publikum überdies zu einer praxisnäheren »Kapital«-Lektüre verholfen hätte. Immerhin erweist sich der Zusammenhang von Philosophie und Politik weiterhin als genuin, was den Blick frei macht für die Gründe, warum in der geistigen Arena des gegenwärtigen Spätimperialismus Konzepte der Totalität ein Schattendasein fristen, während analytische Philosophie und phänomenologischer Relativismus institutionelle Dankbarkeit erfahren.
Ideologische Staatsapparate
Der mit Abstand bekannteste Text von Althusser ist »Ideologie und ideologische Staatsapparate«. In der Zeit seines Erscheinens 1969/70 galt er als Offenbarung der französischen Linken zu Fragen von Staat und Ideologie. Allerdings enthält er neben recht simplen Herleitungen wie der, wonach die Reproduktion der Arbeitskraft außerhalb der Produktionssphäre stattfindet, einen völlig unpräzisen Ideologiebegriff, der zwischen einer wissenssoziologischen Neutralisierung und Lenins »sozialistischer Ideologie« oszilliert. Die implizite Ablehnung des so aufgefassten Ideologiebegriffs als gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein, der aus den Resultaten von Verdinglichung und Entfremdung (Marx, Lukács) hervorgegangen ist, verstellt dabei den Blick auf die Tatsache, dass Ideologie immer im Verhältnis zu Wahrheit, Realität und Vernunft definiert werden muss. Anders könnte man ansonsten keine Entscheidung darüber treffen, was aus gesellschaftlicher Perspektive als gesichertes Wissen gelten kann. Auch wenn Althusser zurecht auf die materielle Existenz der Ideologie insistiert, so darf man auf keinen Fall vergessen, dass ihre Artikulationsformen den geistigen Bereich betreffen und das Bewusstsein beeinflussen sollen. Darüber hinaus war diese These zum Zeitpunkt ihrer französischen Veröffentlichung beileibe nicht neu, denn schon zwei Jahre vorher hatte der Situationist Guy Debord in seiner »Gesellschaft des Spektakels« von der »materialisierten Ideologie« der totalen Warenwirtschaft gesprochen, die ein »falsches antidialektisches Bewusstsein« hervorrufen und zur Ausschaltung jedweder verändernden politischen Praxis führen würde.
Der Verweis Althussers auf die materielle Existenz der Ideologie leitet dann aber zu der wirklich wesentlichen Erkenntnis über, dass sich die materielle Basis der Ideologie im Staat befindet, sie also sozusagen als »oberste Reproduktionsinstanz« in den Staat eingepflanzt ist. Die Apparateform etabliert sich als institutioneller Rahmen (»Realitäten spezialisierter Institutionen«) und wird damit zum komplexen Ausdruck der geistigen Herrschaft einer Klassengesellschaft. Ideologische Staatsapparate sind Kirche, Schule, Familie, Rechtsprechung, Parteien und Interessenverbände, Medien und Kultur, die im Unterschied zum repressiven Staatsapparat (Armee, Polizei), der vorwiegend auf Gewalt basiert, »durch den Rückgriff auf Ideologie funktionieren«. Die richtige Lokalisierung der Ideologie im Staat zwingt nun unweigerlich zur theoretischen Durchdringung des Staates in allen seinen Herrschafts- und Regierungsformen. Das ist die eigentliche Lektion des Staates: Er erfüllt in der kapitalistischen Gesellschaft die wichtigsten allgemeinen Steuerungsfunktionen und wird somit zum Hauptort aller gesellschaftlichen Kämpfe. Es handelt sich daher beim Staat um die »materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses«, wie der griechisch-französische Marxist Nicos Poulantzas in Anlehnung an und in Abgrenzung von Althusser festhielt.
Ideologie konstituiert Individuen zu politischen Subjekten über das Verfahren der »Anrufung«. Das muss man sich einerseits recht prosaisch vorstellen, wie im Sinne eines Befehls zum Stehenbleiben auf der Straße durch eine Autoritätsperson, andererseits jedoch als bewusstseinsleitende Aufforderung, zielgerichtete Handlungen im gesellschaftlichen Leben zu tun, zu lassen, einzuüben oder sich abzugewöhnen, wobei die Bandbreite der Lenkungsinstanzen von der Tradition (dem Todfeind jeder revolutionären Umwälzung) bis hin zur künstlichen Leitbild- und Bedürfniserzeugung reicht. Althusser beschreibt den Vorgang als solchen zutreffend, lässt die Urheber und Akteure der »Anrufung« aber merkwürdig im dunkeln, womit die Handelnden hinter der für ihn typisch abstrakten Fassade der Terminologie verschwinden. Sicherlich sind die Apparatehaftigkeit der Ideologie und die Metapher von der Anrufung von elementarer Stichhaltigkeit für das Verständnis institutionalisierter ideologischer Mechanismen, eine empirisch-praktische Erklärung des Verfahrens und der Wirkungsweise von Ideologie findet indes nicht statt.
Ungeschichtlicher Unsinn
Die Angriffsflächen, die Althussers Auslegung des Marxismus für die realitätsgerechte Weiterentwicklung einer emanzipatorischen Gesellschaftstheorie anbot, waren von Anfang gegeben. Am meisten irritierte sofort die alles durchdringende strukturale Methode, die der Modewelle von damals geschuldet war und in grundsätzlicher Art und Weise Teile der Geistes- und Sozialwissenschaften aus Gründen des verfehlten Ansatzes schon rein theorieimmanent zum Widerstreit animierte. Die meisten der frühen Kritiken enthielten daher bereits viele gravierende und gültige Einwände gegen Althusser.
Der spätere Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger identifizierte zum Beispiel in seiner Magisterarbeit von 1973 über Althussers Auffassung der marxistischen Erkenntnistheorie, dass die Begrifflichkeit in dessen Universum unsauber ist und insbesondere der Begriff des Widerspruchs in den Untersuchungen zum »Kapital« überhaupt nicht vorkommt. Vielmehr scheint laut Rheinberger »Widerspruch« bei Althusser ein »bloßer Name für gegliederte Struktur zu sein«. Tatsächlich ist Widersprüchlichkeit die entscheidende wissenschaftliche Kategorie zur Erfassung antagonistischer Klassenkonstellationen, egal wie verschüttet ihre Artikulationsformen erscheinen. Alles andere liefe auf die Akzeptanz einer prästabilierten Harmonie oder auf einen systemtheoretischen Gleichgewichtszustand hinaus. Insofern war Althussers Modell offenkundig noch nie dialektisch, was Rheinberger in einem Interview von 2011 schließlich noch einmal bestätigte.
Zu einer Generalabrechnung mit Althusser setzte 1974 sein ehemaliger Schüler und Mitautor von »Das Kapital lesen«, Jacques Rancière, an, als er in einer Monographie dessen sämtliche Theoriebausteine (Orthodoxie, Politik, Philosophie, Geschichte) analysierte und zu dem Schluss kam, dass keiner der Grundsätze von Althusser einer theoretischen und praktischen Prüfung standhalten würde. Weil sich die politische Großwetterlage nicht den Überzeugungen der westlichen kommunistischen Parteien entsprechend entwickelt hatte, musste man (und so vollzog es Althusser) »die Rationalität der politischen Praxis außerhalb dieser Praxis wiederfinden, theoretische Lösungen für Probleme erfinden, für die die politische Praxis keinen Ausweg zeigte: Die Rückkehr zu Marx, die Autonomie der theoretischen Praxis, die Theorie der Autonomie der Instanzen, all dies war die Suche nach einer Lösung – von oben – für die revisionistische Krise.« Nur wenige Zeilen weiter heißt es bei Rancière, dass die Althussersche Theorie möglicherweise als moderne Form der Utopie beschrieben werden kann, »als Substitut für die Selbstbefreiung, an die man nicht mehr glaubt. Was vielleicht erklären würde, warum dieses anspruchsvolle Forschungsprogramm im wesentlichen nur zu scholastischen Kompilationen geführt hat. Seine wichtigste Wirkung bestand sicherlich in seiner eigenen Verkündung. Es handelte sich weiterhin nicht um eine Waffe zur Veränderung der Welt, sondern um ein Rezept, um sie zu nterpretieren.« Hätte dieses Buch nicht vierzig Jahre auf seine Übersetzung ins Deutsche warten müssen (auch eine englische gab es erst 2011), wäre ohne Umschweife eine Reihe von Mythen über Althussers strukturalistische Intervention schon längst Gegenstand der Historisierung.
Die moderne Form der Utopie war bei Althusser eine geschichtsvergessene. Das erklärte die verächtliche Heftigkeit, mit der der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson 1978 diese theoretischen Anwandlungen bedachte. Es ging ihm um die Position der einzigen Wissenschaft, die Marx und Engels akzeptierten, die der Geschichte. Thompson erinnerte daran, dass es einem Verrat am Marxschen Impetus gleichkam, wenn man wie Althusser »unhistorische Scheiße« in deren Namen auch noch als deren eigene ursprüngliche Überzeugung verkaufte. Althusser beschrieb nach Thompson »elaborierte Differentialumlaufbahnen im in sich geschlossenen Planetarium: die sich selbst entfaltende vorprogrammierte Entwicklungsfolge; die leicht ungleichgewichtigen Gleichgewichtsmodelle, in denen der Dissens unglücklich durch fremde Korridore streift auf der Suche nach einer Aussöhnung mit dem Konsensus; die Systemanalysen und Strukturalismen mit ihren Drehmomenten und Zusammensetzungen; die anti-realen Fiktionen; die ökonometrischen und cleometrischen Gleissysteme«. All diese Theorien folgten »vorprogrammierten Routen (…) von einer statischen Kategorie zur nächsten«, und seien damit ungeschichtlicher Unsinn. Vieles davon, was Rheinberger, Rancière und Thompson schon früh kritisiert haben, ist heute gleichwohl unreflektierter Standard der sogenannten Gesellschaftswissenschaften.
Der Hauptverdienst von Althussers Theorie liegt in der Konzentration auf den Staat in seiner Abhandlung über die ideologischen Staatsapparate. Sofern darüber hinausgehend in der politischen Theorie darüber geredet worden ist, dass der Strukturalismus (und auch Althussers Anteil daran) zu theoretischen Erweiterungen im Marxismus geführt haben könnte, so ist dieser Auffassung eine klare Abfuhr zu erteilen. Louis Althusser ist eher einer der Ahnherren von Michel Foucaults Diskurstheorie und der dekonstruktivistischen Sinnzerstörung der Theorie durch Jacques Derrida. Sein Beitrag zur marxistischen Theoriebildung wird jedenfalls als begrenzt eingeschätzt werden müssen und fällt weitaus geringer aus, als die Jünger eines erhofften zeitgenössisch irrelevanten »Emergenzmaterialismus« zur Selbstregulation des sich leider doch als widersprüchlich erweisenden sozialen Systems erahnen. »In den Mittelpunkt unserer theoretischen Kämpfe« (Žižek) gehört Althusser höchstens als warnendes Beispiel, wie man es nicht machen sollte.
Tags: Postmodernismus, Strategie
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