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Frankreich: Bevölkerungsmehrheit für Fortsetzung der Proteste

Eingereicht on 20. April 2023 – 9:49

Bernard Schmid. 60 % bis 64 % erklären ihre Unterstützung für eine Fortsetzung der Protestbewegung gegen die Renten„reform“ – CFDT-Generalsekretär Laurent Berger kündigt seinen Abtritt an

Irgendwie hatte Emmanuel Macron sich das anders vorgestellt. Am Abend des Montag, den 17. April d.J. sprach Staatspräsident Emmanuel Macron im französischen Fernsehen, um, so beabsichtigte er es jedenfalls, einen Schlusspunkt unter den Streit um die Renten„reform“ zu setzen. Doch es kam ein wenig anders.

Am Vorabend des Freitag, den 14. April hatte das französische Verfassungsgericht seinen Beschluss verkündet, die „Reform“ durchzuwinken. (Wir berichteten) Emmanuel Macron dachte nun, seinen Triumph mit ruhiger Stimme verkünden und ausweiden zu können, als er am Abend des 17. April zum Fernsehpublikum sprach. (Vgl. seine Ansprache im Wortlaut: https://www.youtube.com/watch?v=rIkt_SND0Ds$)

Die Rentenreform sei notwendig gewesen, legte er los, um – angeblich – die Sozialversicherungssysteme vor dem drohenden Ruin zu retten, obwohl die Rentenkasse aktuell schwarze und nicht rote Zahlen schreibt. Und es sei ja Alles verfassungskonform zugegangen. Die ersten zwei bis drei Minuten der insgesamt dreizehn, welche er versprach, vergingen mit Selbstrechtfertigungen. Daraufhin schaltete jedenfalls manche Zuhörer/innen bereits ab. (Insgesamt sollen rund fünfzehn Millionen Menschen, in Gänze oder teilweise, die Rede betrachtet haben (vgl. https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/le-journal-de-presque-17h17/le-journal-de-presque-17h17-c-est-encore-news-du-mardi-18-avril-2023-2409189

und https://www.20minutes.fr/politique/4033114-20230418-reforme-retraites-pres-15-1-millions-telespectateurs-allocution-emmanuel-macron-lundi)

Nun solle man das Blatt wenden, fügte er sodann hinzu. In den nächsten 100 Tagen seien die Gewerkschaften nun zur Mitarbeit aufgefordert – was unterstellte: zur Aufgabe ihrer Oppositionshaltung -, denn nun werde man Weichen stellen für eine bessere Schule, besser Arbeit und mehr Ökologie; aber auch für mehr „Sicherheit“ und mehr Migrationskontrolle, wie er hinzufügte. Dabei versäumte er allerdings, irgendwelche konkreten Beschlüsse oder Projekte in Aussicht zu stellen. Deswegen einigte sich auch eine Mehrheit der Betrachter/innen und politischen Kommentator/inn/en relativ schnell darauf, die Rede sei weitgehend inhaltslos ausgefallen.

Angeblich, führte Macron näher aus, solle die katastrophale Situation der Krankenhäuser und insbesondere ihrer Notaufnahme bis „Ende 2024“ beendet werden. Daran glaubte jedoch dazu befragtes Pflegepersonal nicht. (Vgl. https://www.liberation.fr/societe/sante/allocution-de-macron-desengorger-les-urgences-dici-fin-2024-les-soignants-ny-croient-pas-20230418_554OTR7G45DIHO6CSPPELFDN4M/

und https://www.bfmtv.com/sante/c-est-impossible-la-promesse-de-macron-de-desengorger-les-urgences-d-ici-fin-2024-ne-convainc-pas-les-soignants_AV-202304180096.html) Den öffentlichen Schulen solle es schon mit Beginn des kommenden Schuljahres, 2023/24, besser gehen. Und die planification écologique (ökologische oder nachhaltige Wirtschaftsplanung), welche Macron schon im Frühjahr 2022 im Präsidentschaftswahlkampf vor dem zweiten Durchgang vom 24. April v.J. versprochen hatte, um die Wähler/innen des mit 22 Prozent gescheiterten Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon – er hatte die planification écologique schon zuvor im Wahlprogramm stehen – vor der Stichwahl anzusprechen, soll nun kommen. Bislang war die Ankündigung von 2022 folgenlos geblieben. Nun sollen bis im kommenden Sommer Ankündigungen dazu folgen. (Vgl. https://www.liberation.fr/politique/planification-ecologique-au-gouvernement-le-projet-nature-bientot-mature-20230418_CEYZY2ACPVEIBI6GHFXXXYZ4WI/)

Jedenfalls bislang sind dies lediglich wohlfeile Ankündigungen. Unklar ist, woher Emmanuel Macron die Idee mit den 100 Tagen kam. Cent jours lautet die offizielle historische Bezeichnung für die einhunderttägige Periode, welche Napoélon I. nach seiner Rückkehr von der Insel Elba nochmals an der Macht verbringen durfte, bevor es ihn dieses Mal ein Stückchen weit – auf Sankt-Helena im südlichen Atlantik – verschlug. Allerdings hat es sich jenseits dieser historischen Periode auch eingebürgert, eine vorläufige Regierungsbilanz von neugewählten Amtsinhaber/inne/n nach einhundert Tagen zu ziehen.

Doch die Gesellschaft mochte nicht so, wie er wohl wollte. In den Umfragen bei bürgerlichen demoskopischen Instituten erklärten 90 Prozent der Befragten, die Rede werde die Situation nicht befrieden – und zunächst 60 Prozent (vgl. https://www.bfmtv.com/politique/sondages/retraites-60-des-francais-veulent-que-l-appel-a-la-mobilisation-par-les-syndicats-se-poursuive_AN-202304150250.html), dann 64 Prozent ( https://www.bfmtv.com/politique/retraites-pour-64-des-francais-la-mobilisation-contre-la-reforme-doit-se-poursuivre_AN-202304170032.html) antworteten, dass sie ausdrücklich wünschten, dass die Gewerkschaften ihre Proteste fortsetzen.

Noch am selben Abend, zeitgleich zu Macrons Rede, fanden Spontandemonstrationen und Platzversammlungen, bei denen auf Töpfe geschlagen wurde, statt. In Paris versammelten sich zunächst bis zu rund 2.000 Menschen auf der place de l’Hôtel de ville, d.h. auf dem Vorplatz des zentralen Rathauses der Stadt. Da dort jedoch bereits eine thematisch andere Versammlung angemeldet worden war, zogen die Menschen weiter vor das, im nördlichen Stadtzentrum gelegene, Bezirksrathaus des 10. Arrondissements und nahmen dort die Straße ein. Im weiteren Laufe des Abends wurden die Menschen vorübergehend eingekesselt. Auch vor dem Bezirksrathaus des nördlich gelegenen 18. Pariser Arrondissements kamen rund 200 bis 300 Menschen zusammen, schlugen auf Töpfe und Deckel. Dort gesellte sich der Generalsekretär des (drittstärksten) französischen Gewerkschaftsdachverbands FO/Force Ouvrière, Frédéric Souillot, hinzu. Eine anwesende CGT-Gewerkschafterin erklärte (in Anwesenheit des Autors) bei den Protesten gegen die vorherige – dann zurückgezogene – Renten„reform“vorlage unter Emmanuel Macron, im Winter 2019/20, seien zu einer solchen lokalen Initiative damals „fünfzehn Personen“ gekommen. Mehrere kleinere Spontandemonstrationen fanden im Laufe des Abends statt.

In Marseille wurde eine ähnliche Kundgebung zum Topfschlagen, ebenso wie eine wohl geplante Spontandemonstration, vorab verboten. ( https://nanterrereseau.blogspot.com/2023/04/manif-et-concert-de-casseroles.html) Damit drohten Teilnehmer/inne/n Geldstrafen. Dennoch kam es zu einer Menschenansammlung im Alten Hafen. Auch u.a. in Nantes und Rennes wurde demonstriert. Überall verkündeten die Teilnehmenden, dass sie Emmanuel Macron nicht zuhören mochten, da der Demo- oder Kundgebungsbeginn jeweils mit dem Anfang seiner Rede zusammenfiel, weil man ohnehin nichts von ihm erwartete.

Am Dienstag Abend, den 18. April wurde Emmanuel Macron, welcher sich in die Pariser Vorstadt Saint-Denis begeben hatte – früher Krönungsort der französischen Könige, im kommenden Jahr 2024 nun einer der Austragungsorte der in Frankreich geplanten Olympischen Spiele (zu denen es bereits Boykott- und Sabotier-Aufrufe gibt, u.a. aufgrund der Gentrifizierungsdrohung, aber auch im Zusammenhang mit der Renten„reform“ (vgl. https://rmcsport.bfmtv.com/jeux-olympiques/pas-de-retrait-pas-de-jo-des-opposants-a-la-reforme-des-retraites-menacent-paris-2024-sur-les-reseaux-sociaux_AV-202304150261.html) – wiederum von einem „Empfangskomitee“ ausgepfiffen. Rund 300 Menschen versammelten sich spontan, obwohl die Medien nicht im Vorfeld berichtet hatten; die Informationen über den bevorstehenden Versuch war jedoch durchgedrungen. Eine anwesende Vertreterin der CGT erklärte, da nun eine einhunderttägige Frist eröffnet werden sei, plane man, einen Kalender von einhundert Tagen mit Protesten und Demonstrationen zu füllen. ( https://nanterrereseau.blogspot.com/2023/04/a-saint-denis-macron-accueilli-par-des.html)

Weitere Proteste, auch unter Einfluss von Gewerkschaften, finden am heutigen Mittwoch, den 19. April aus Anlass einer Visite von Staatspräsident Macron im ostfranzösischen Elsass statt. (Vgl. dazu: https://www.bfmtv.com/alsace/replay-emissions/le-12-17/macron-en-alsace-lui-faire-entendre-la-voix-d-enormement-de-francais_VN-202304190508.html)

Die französischen Gewerkschaften wollen nun den 1. Mai 23 gemeinsam mit Demonstrationen begehen, was insofern historisch ist, als es dies in Frankreich – Land der Richtungsgewerkschaften – erst zum dritten Mal in einhundert Jahren gibt. Das erste Mal seit der Aufspaltung der französischen Gewerkschaftsbewegung (1985 wurde die CGT gegründet, doch 1919 die christliche Gewerkschaftsbewegung, und in den frühen zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts teilte sich die CGT in einen sozialdemokratisch und einen KP-dominierten Verband auf: CGT-M und CGT-U) war 1936, im Jahr des Generalstreiks, aber auch des Wahlsiegs des Linksbündenisses Front populaire, desse Name grobschlächtig mit „Volksfront“ auf Deutsch übersetzt wird, in Wirklichkeit jedoch eher etwas wie Front der sozialen Unterklassen bedeutet. Zum zweiten Mal fand ein gemeinsamer 1. Mai im Jahr 2002 statt, in Reaktion auf den Einzug des Alt- und Neofaschisten Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl der damaligen französischen Präsidentschaftswahl.

Auch die an der Spitze rechtssozialdemokratisch geprägte CFDT, derzeit im Landesdurchschnitt stimmenstärkster Gewerkschaftsverband bei Personalwahlen, kann aus dieser gemeinsamen Front bislang nicht ausscheren. Ihre Führung wäre übrigens durchaus zum „Kompromiss“ gewillt, bleibt jedoch an einen Kongressbeschluss vom Juni 2022 gebunden, mit dem der damalige CFDT-Kongress eine Anhebung des Rentenalters – gegen den Willen des Vorstands, dessen Leitantrag gegen diese Resolution gerichtet war – eine Erhöhung des Rentenalters ausdrücklich ablehnte. Dies eröffnete den Weg für eine Dynamik auch in Teilen der CFDT, deren Basis nun mitunter mit Slogans, welche sich auf Mai 1968 beziehen, demonstrieren geht, wie wir berichteten.

Post scriptum: Am heutigen Mittwoch um die Mittagszeit wurde bekannt, dass CFDT-Generalsekretär Laurent Berger zum am 21. Juni aus seinem Amt abtritt. Näheres folgt. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/retraite/reforme-des-retraites/laurent-berger-annonce-qu-il-quittera-ses-fonctions-de-secretaire-general-de-la-cfdt-le-21-juin_5779721.html

und https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/en-direct-retraites-macron-en-deplacement-en-alsace-pour-reprendre-contact-avec-les-francais_LN-202304190108.html)

Quelle: labournet.de… vom 20. April 2023

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