ARD-Serie: Adenauer, CIA und wichtige Weichen zur Kontinuität der Nazis
Sybille Fuchs, Wolfgang Weber. Wie unter Bundeskanzler Konrad Adenauer die Geheimdienste mit Wehrmachts-, Gestapo- und SS-Verbrechern aufgebaut und die Weichen für die Wiederbewaffnung gestellt wurden.
Die spannende ARD-Filmserie „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“ von Claudia Garde, die Anfang des Jahres gezeigt worden ist, greift ein hochaktuelles Thema der deutschen Nachkriegszeit auf: Die Wiederbewaffnung des westdeutschen Staates in den 1950er Jahren mit Polizei und Geheimdiensten im Inneren und mit einer Armee für seinen Wiederaufstieg zu einer imperialistischen Militärmacht.
Schon die hervorragende erste Staffel (6 Folgen) der auf historischen Fakten beruhenden Serie untergräbt vor einem breiten Publikum die Legende von der „Stunde Null“, dem „demokratischen Neuanfang“ in Westdeutschland. Die Serie wurde offensichtlich aus diesem Grunde wieder abgesetzt. Die erste Staffel ist nur noch bis zum 24. Juli 2023 in der ARD-Mediathek zu sehen. Von der ersten Szene an wird der Zuschauer mitten hineingezogen in ein packendes hochpolitisches Geschehen – und in die bis ins Detail authentisch wiedergegebene dumpfe gesellschaftliche Atmosphäre der 1950er Jahre.
Wir sind in den ersten Jahren des Wirtschaftswunders. Jetzt werden die Weichen gestellt für die endgültige Westbindung der Bundesrepublik und ihre Wiederbewaffnung. Doch dafür braucht es einen starken Staat. Anfang der 1950er Jahre steht dieser noch auf wackeligen Beinen. Millionen von jungen, oft schon gut ausgebildeten Männern sind im Krieg gefallen und fehlen jetzt.
Dazu kommen 150.000 Funktionsträger des Dritten Reichs, die in den ersten Jahren nach dessen Zusammenbruch im Zuge der von den Alliierten angeordneten Entnazifizierungsverfahren als Nazis aus Polizei, Verwaltung und Justiz entlassen worden waren. Mit dem sogenannten 131-Gesetz [1] vom 21. April 1951 erhalten diese das Recht, ohne Gehaltseinbußen wieder ihre alten Posten einzunehmen oder satte Ruhestandsgehälter zu kassieren. Eine Ausnahme sind die ganz wenigen hohen Funktionäre und Nutznießer des NS-Regimes, die sich keinen „Persilschein“ besorgen hatten können, wie entlastende Zeugenaussagen von Freunden, Bekannten oder „Parteigenossen“ im Volksmund genannt wurden. Sie gelten daher weiter als „Hauptbeschuldigte“ oder „Belastete“.
Aber nun toben in den Medien die „Schlussstrich-Debatten“, in denen ein Ende der „Verfolgung“ auch dieser Personen gefordert wird und die Befreiung der „von den Alliierten Verurteilten und in Gefängnissen Schmachtenden“ – gemeint sind die in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher verurteilten Nazis. Von Entnazifizierung ist nicht mehr die Rede. Stattdessen wird von Regierung, Parteien und Medien ganz im Zeichen des Kalten Krieges ein hemmungsloser, eins zu eins von den Nazis übernommener Antikommunismus verbreitet.
Vor diesem Hintergrund entfalten sich die persönlichen Schicksale der Protagonisten der Serie.
Der Film setzt ein im Jahr 1954. Die junge Antonie Schmidt (Mercedes Müller) kehrt gerade von ihrem Jahr als Au Pair in London in die rheinische Heimat, ins Wirtschaftswunderland zurück. Ihr Vater, Gerd Schmidt (Jürgen Maurer), profitiert nicht nur vom boomenden Wiederaufbau und ist zu beträchtlichem Wohlstand gekommen. Er ist auch bestens politisch vernetzt. Tonis Bruder gilt seit der Ardennenschlacht als vermisst. Seine Mutter Else (Katharina Marie Schubert) verfolgt jeden Tag die Suchmeldungen des Roten Kreuzes und hofft vergeblich auf ein Lebenszeichen.
Ihr Vater jedoch scheint sich mit dem Verlust abgefunden zu haben und geht seinen Geschäften nach. Ihre Schwester Ingrid (Luise von Finkh) arbeitet im aufblühenden Fernsehgeschäft bei Tonis Verlobtem Hartmut Redlich (Julius Feldmeier), der auf die baldige Heirat mit Toni hofft und so schnell wie möglich eine Familie gründen und ein Haus bauen möchte.
Eigentlich ist ihr weiterer Lebensweg vorprogrammiert. Aber Toni hat andere Pläne. Sie möchte sich als Fremdsprachensekretärin bewerben. Ihr Vater stimmt nur unter der Bedingung zu, dass er es ist, der ihr eine passende Stellung vermittelt.
All diese fiktiven Personen verkörpern recht typische Charaktere der damaligen Zeit.
Reinhard Gehlen – Schutzpatron der alten Nazis
Aber daneben treten wichtige historische Personen der Zeitgeschichte auf. Dazu gehört vor allem ein alter Kriegskamerad von Gerd Schmidt, Reinhard Gehlen (Martin Wuttke), nach Kriegsende Chef des nach ihm benannten Geheimdienstes „Organisation Gehlen“, der 1956 als Bundesnachrichtendienst (BND) mit Gehlen als Präsident direkt in den deutschen Staatsapparat integriert wird. Schmidt stellt diesem seine Tochter vor, und sie erhält dort eine Stelle als Sekretärin, zunächst neben anderen Kolleginnen in einem Großraumbüro. Aber schon bald steigt sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse zu Gehlens Privatsekretärin auf.
Gehlen, ehemaliger Generalmajor der Wehrmacht und Chef des militärischen Geheimdienstes Abteilung Fremde Heere Ost (FHO), hatte sich nach der Kapitulation der Wehrmacht samt seinem Spezialwissen über die Sowjetunion der amerikanischen Besatzungsmacht und ihrem Geheimdienst zur Verfügung gestellt. Ab 1946 baut Gehlen seine „Organisation Gehlen“ auf, unter „Schlapphüten“ nur „OG“ genannt, und zwar im Auftrag der CIA und mit deren finanzieller Unterstützung. Der amerikanische Geheimdienst ist besonders daran interessiert, Informationen über ihren ehemaligen Verbündeten, die Sowjetunion zu sammeln, aber auch über die politische Parteienlandschaft und die führenden Politiker in West- und Ostdeutschland.
Gehlen nutzt die Organisation und ihre Nebenorganisationen als Auffangbecken für alte Seilschaften aus der SS, der Gestapo, der Wehrmacht ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen Naziverbrecher und Massenmörder sind. Er beschäftigt sie als freie und teils auch als hauptamtliche Mitarbeiter. [2]
Gehlen hält auch engste Verbindungen zu früheren Organisatoren des Holocaust wie Alois Brunner (André Eisermann) aufrecht. Brunner war die rechte Hand von Adolf Eichmann bei der Deportation von Millionen Juden aus ganz Europa und ihrer Ermordung in Auschwitz, Treblinka, Sobibor und anderen Konzentrationslagern gewesen.
Eine der eindrucksvollsten Szenen ist, wie Gehlen Brunner in einer Zechenkaue persönlich triff: Mit der Rolltreppe kommt von unten ein von Kohlestaub eingedeckter Bergmann, das Gesicht vollkommen eingeschwärzt. Nach einem kurzen Augenblick freudiges Wiedererkennen, die beiden Männer liegen sich mit den Ausrufen „Reinhard! – Alois!“ in den Armen. Dann übergibt Gehlen Brunner einen Packen Geld und einen neuen Reisepass mit den Worten: „Von nun an Dr. Georg Fischer!“ [3]
Gespenstisch auch die Szene, in der er sich an „Führers Geburtstag“ im Fackelschein mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren – darunter auch Tonis Vater –, alten und jungen Gestapo- und SS-Leuten trifft, alles Mitglieder der „Organisation Gehlen“. Sie feiern jedoch nicht nur nostalgisch die alten Zeiten, sondern bereiten gleichzeitig die neuen vor, indem sie große Waffenlager anlegen, um sich auf eine Konfrontation mit dem alten und neuen Feind, der Sowjetunion vorzubereiten.
Otto Johns Jagd auf Nazi-Verbrecher
Die zweite wichtige Person der Zeitgeschichte, die den Verlauf der Handlung bestimmt, ist der erste Präsident des Bundesverfassungsschutzes Otto John (Sebastian Blomberg). Dieser war 1951 nach monatelangem vergeblichen Suchen nach einer geeigneten, nicht NS-belasteten Person von den britischen Alliierten für diesen Posten gegen den Widerstand von Seiten der Adenauer-Regierung durchgesetzt worden.
John gilt den Briten als „Widerstandskämpfer“, weil er zum engsten Kreis der im Militär angesiedelten Opposition um Schenk Graf von Stauffenberg gegen Hitler gehört hatte. John war führend an der Planung des fehlgeschlagenen Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 beteiligt. Als jedoch im Radio „das Überleben des Führers Hitlers“ bekanntgegeben wurde, konnte er sich verstecken und über Madrid und Lissabon ins Exil nach Großbritannien fliehen. Sein ebenfalls an der Verschwörung beteiligter Bruder indes wurde gefasst, zum Tode verurteilt und per Genickschuss hingerichtet.
John hat den Posten nicht mit Begeisterung angenommen, dann jedoch eine Chance darin gesehen, mit Hilfe dieses Amtes und seiner Agenten einige Naziverbrecher aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. Doch drei Jahre später, 1954, zur Zeit der Filmhandlung, ist er in seinem eigenen Amt umzingelt von SS-Leuten, Gestapo- und Wehrmachtsoffizieren, die Gehlen mit Unterstützung von Johns Vorgesetztem im Bundesinnenministerium, Staatssekretär Hans Ritter von Lex (tritt im Film nicht namentlich auf), und von seinem Freund im Kanzleramt Hans Globke (Sascha Nathan) dort platzieren hat können.
Die gesamte Handlung des Fernsehdramas wird bestimmt von der erbitterten Feindschaft Gehlens und seiner Helfer gegen Otto John. Gehlen hasst John, weil er zum Kreis der Stauffenberg-Attentäter gehört hat und danach „zum Feind übergelaufen“ ist und für die britische Armee gearbeitet hat. Zudem hat Gehlen ursprünglich auf die Übernahme von dessen Posten als Verfassungsschutzpräsident gehofft. Im Film wird deutlich, dass eigentlich alle Abteilungsleiter des Verfassungsschutzes auf Seiten Gehlens stehen. Nur einer seiner Agenten, Wolfgang Berns, und seine Sekretärin sind loyal zu ihrem Chef.
John spürt schon lange, dass er auf verlorenem Posten steht. In der ersten Folge der Serie, bei einer Silvesterfeier von Freunden aus seiner Zeit im Exil in London, prangert er die Politik der westdeutschen Bundesregierung und die Wiedereingliederung der Altnazis in hohe politische Ämter an. Angewidert ruft er aus: „Entnazification is a joke“ (Entnazifizierung ist ein Witz).
Es sind die Gastgeber dieser Feier, bei denen Toni als Au-pair gearbeitet hat, und so bekommt sie diesen Ausbruch der Empörung über die politischen Verhältnisse mit, wechselt einige Worte mit John und wird zum Nachdenken angeregt.
Adenauers Devise: „Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, solange man kein sauberes hat“
Der 1949 unter der Oberhoheit der Westalliierten gegründete westdeutsche Staat mit seiner vorläufigen Hauptstadt Bonn wurde von 1949 bis 1963 von Bundeskanzler Konrad Adenauer regiert, der allerdings in keiner einzigen Szene des Filmes gezeigt wird. Es ist der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, seit 1953 dessen Chef, Hans Maria Globke (Sascha Nathan), der für ihn die Arbeit aller Ministerien koordinierte, die Geheimdienste kontrolliert, die wichtigsten Entscheidungen der Personalpolitik und der CDU-Führung trifft oder vorbereitet.
In der Nazizeit war er Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze und Autor des maßgeblichen Kommentars zu diesen Gesetzen, der die Rechtsgrundlage für konkrete Gerichtsurteile und Maßnahmen der SS und Gestapo zur Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung bildete. Globke tritt im Film immer wieder auf, so wie er in der Wirklichkeit agierte: als graue Eminenz im Hintergrund, bei kontroversen Sitzungen bis zuletzt schweigend zuhörend, wobei alle Anwesenden wissen, dass er es ist, der am Ende das Sagen hat. Er steht unaufhörlich in telefonischem Kontakt mit Gehlen und stellt gemeinsam mit diesem die Weichen, um John mit seinen Bemühungen um die Verfolgung von Naziverbrechern ins Leere laufen zu lassen.
Frühzeitig wird in der Geschichte der Bundesrepublik Adenauer kritisiert wegen Globkes Nazivergangenheit und dessen Rolle als engster Berater des Kanzlers und Manager der gesamten Regierung. Auch Rücktrittsforderungen werden laut. Doch Adenauer verteidigt ihn zehn Jahre lang mit der zynischen Redensart: „Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, solange man kein sauberes hat“.
Geheime Waffenlager und paramilitärische Truppen
Parallel zu und verflochten mit den verbrecherischen Machenschaften von Globke und Gehlen auf der einen Seite und auf der anderen Johns Versuchen, den braunen Sumpf aufzudecken, entfaltet sich die fiktive Familiengeschichte der Schmidts.
Zurückgekehrt aus England, bringt Toni nicht nur die Beherrschung der englischen Sprache mit, sondern auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und bohrende Fragen zur Vergangenheit Deutschlands – und ihrer Eltern.
Sie stößt damit sofort auf Widerstand, auf eine beklemmende Atmosphäre des Verschweigens, der vielsagenden Andeutungen oder des vehementen Abstreitens jeglicher Beteiligung an den mörderischen Verbrechen der Nazis, ja sogar nur des Wissens davon.
Die spannungsgeladenen Szenen am Familientisch oder im Hof des väterlichen Betriebes sind ein Meisterstück des Drehbuchs, weil sie sich so oder ähnlich tatsächlich in Millionen von deutschen Familien oder auch Arbeitsstätten abgespielt haben.
Doch während in den meisten dieser Millionen von Familien, Firmen, öffentlichen Ämtern, Universitäten bis in die späten 1960 Jahre und länger der Mantel des Schweigens und Verschweigens über die braune Vergangenheit weiter ausgebreitet blieb oder die Fragen danach von den Kindern oder Kollegen gar nicht erst gestellt werden, bringt im Film Toni mit ihren ebenso unbefangenen wie unnachgiebigen Fragen und ihren auf eigene Initiative angestellten Nachforschungen frische Luft in die miefige Stube und Geheimnisse aus der Nazizeit ans Licht.
Nach und nach wird Toni klar, welche Rolle ihr Vater bei der Erschießung ihres Bruders durch die Wehrmacht gespielt hat. Zum Beispiel erfährt sie, dass ihr Bruder mit ausdrücklicher Billigung ihres Vaters als Deserteur erschossen wurde. Den unehelichen jüdischen Sohn seiner Frau hatte er „wie sein eigenes Kind“ angenommen, wofür er offensichtlich die Baufirma von dessen Familie für einen Spottpreis hatte übernehmen können.
Toni, und mit ihr die Zuschauer, erhalten eine Vorstellung davon, in welcher Weise Altnazis und ihre Hintermänner die Geschichte und Gesellschaft, in der sie lebt, die „Bonner Republik“, entscheidend prägen. Sie entscheidet sich, John zu helfen, dem sie zufällig, bei dem erwähnten Gerichtsprozess gegen einen Nazi-Verbrecher, wiederbegegnet ist.
Immer wieder hat Toni das Wort „Scipio“ aufgeschnappt und fragt sich, was wohl dahintersteckt. Sie beobachtet, wie nachts Lastwagen der Firma ihres Vaters schwer beladen mit Kisten vom Hof fahren und geht der Sache nach. Es sind Gewehre und Panzerfäuste in der Kiste, die sie öffnet. Sie versteckt sich unter einer Plane und fährt mit in ein unterirdisches Waffenlager und ist entsetzt von dem, was sie sieht. Natürlich ist auch hier Gehlen der Drahtzieher, was Toni mit der Professionalität einer geborenen Top-Agentin herausfindet. Otto John, von Toni informiert, gibt ihr den Auftrag herauszufinden, wer „Scipio“ finanziell unterstützt. Auch diese Aufgabe löst sie sofort und erfolgreich: Im Büro ihres Vaters wird sie fündig und stößt auf eindeutige Zahlungen.
Der Film spielt hier auf eine historische Tatsache an, die damals wie heute kaum im öffentlichen Bewusstsein ist. Der Deckname „Scipio“ ist fiktiv, nicht jedoch die Existenz einer illegalen, paramilitärischen Kampftruppe, die nach dem Vorbild der Freikorps am Ende des Ersten Weltkriegs 30 Jahre später von Gehlens Ex-Wehrmachtsoffizieren und jungen Faschisten aufgebaut worden ist.[4]
Die Jagd auf Alois Brunner
Ein besonderes Anliegen ist Otto John und scheinbar auch seinem loyalen Mitarbeiter Wolfgang Berns die Verfolgung und Verhaftung von Alois Brunner. Doch Berns Rolle erscheint anfangs dubios, denn er verhindert zunächst, dass Brunner gefasst wird, indem er John eine falsche Information über dessen Aufenthalt zukommen lässt. John zweifelt an ihm und auch der Zuschauer, zumal Berns auch enge Beziehungen zu einer Ostagentin (Maike Elena Schmidt) hat, die mehrfach auftaucht.
Erst in der sechsten Folge wird der Hintergrund klar. Berns gehörte im Krieg selbst zur SS und hatte Brunner als Fahrer gedient, war somit bis ins Detail über dessen Pläne informiert. Er hatte so viele Juden vor der Deportation warnen und retten können. Doch Brunner kam ihm auf die Schliche und ließ „zur Strafe“ seine Frau und seine Tochter grausam ermorden.
Das ist der Grund, weshalb Berns besessen davon ist, Brunner persönlich zur Strecke bringen und dies nicht den zweifelhaften „Kollegen“ des Verfassungsschutzes und der Polizei zu überlassen.
Doch Berns Vorhaben scheitert kläglich. Brunner kann mit Hilfe eines „freien Mitarbeiters“ von Gehlen entkommen. Berns wird schwer verletzt, kann aber durch einen rettenden Engel in letzter Minute vor dem Tode bewahrt werden: Toni, inzwischen nicht nur von heftiger, aber uneingestandener Liebe zu Berns entbrannt, sondern auch als Agentin routiniert, hat seine und Brunners Spur rechtzeitig herausfinden und ihr folgen können.
In der Zwischenzeit ist Otto John zu dem Entschluss gekommen, gegen Gehlen in die Offensive zu gehen. Er kann sich nicht vorstellen, dass Regierung und Alliierte von Gehlens illegalen unterirdischen Waffenlagern und paramilitärischen Truppen wissen, und will sie und Gehlen selbst mit den Erkenntnissen darüber konfrontieren, die er mit Hilfe Tonis gewonnen hat.
Er plant dies als einen großen Coup. Als gute Gelegenheit dafür wählt er die offizielle Feier zum Gedenken an das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler. Otto John eröffnet die Veranstaltung, ist emotional extrem aufgewühlt. Doch kaum hebt er in seiner Rede an, auf „seine Enthüllungen“ zu sprechen, wird aus dem erhofften Triumph ein Fiasko.
Kanzleramtsminister Globke und der hohe US-Offizier reagieren ganz anders als erwartet, sie lassen ihn nicht einmal zu Wort kommen: „Scipio“ laufe mit Wissen der Regierung ab und werde von den Alliierten finanziell und logistisch unterstützt. Die Ermittlungen Johns in dieser Sache seien unverzüglich einzustellen. Gehlen triumphiert.
Verzweifelt über sein Scheitern entschließt sich John auf Anraten seiner Frau (Inga Busch), in die DDR zu gehen, um dort durch Gespräche mit – wie er hofft – hohen Vertretern der DDR-Regierung und auch des Moskauer stalinistischen Regimes, die Eskalation der Aufrüstung auf beiden Seiten verhindern und einen Schritt zur Wiedervereinigung herbeiführen zu können. In einer über Radio aus Ost-Berlin übertragenen persönlichen Erklärung begründet John seinen Grenzübertritt in die DDR, indem er die Adenauer-Regierung und ihre Politik, die Teilung Deutschlands zu zementieren, die Re-Nazifizierung und Wiederbewaffnung voranzutreiben, scharf angreift.
In Politik und Medien wird „gerätselt“ über sein Motiv: Ist er ein Überläufer oder ist er entführt worden? Gehlen hat da eine eindeutige Meinung: „Einmal Verräter, immer Verräter.“
Eine hervorragende Team-Leistung der Schauspieler, der Regie und des Drehbuchs
Hier endet die erste Serie der Filmreihe und sie endet, wie es bei Filmserien üblich ist, die Appetit auf weitere Folgen machen wollen. Der Fortgang der wichtigsten Handlungsstränge wird offengelassen: das weitere Schicksal von Otto John, die Liebesgeschichte zwischen Toni und Wolfgang Berns, aber auch, für geschichtlich etwas informierte Zuschauer, der Aufstieg Gehlens zum Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), der späte Sturz von Globke zu Beginn einer neuen Ära der Nachkriegsgeschichte in Deutschland Anfang der 1960er Jahre – alles, was den Zuschauer brennend interessieren dürfte.
Das Interesse der zahlreichen Zuschauer der Erstausstrahlung an einer Fortsetzung der Serie wird auch durch die überragenden Leistungen der Darsteller geweckt.
Sie alle hatten sich, wie auch die Dokumentation „The making of …“ zu der Serie bezeugt, äußerst gründlich in die ihnen ursprünglich völlig fremde Zeit der 1950er Jahre eingearbeitet und die persönlichen Charaktere der Protagonisten studiert, die sie darstellen sollten. Dies ist ihnen hervorragend gelungen.
Das überragende Spiel des berühmten Schauspielers Martin Wuttke in der Rolle Reinhard Gehlens vermittelt dabei den Eindruck, als habe er diesen von den Toten wiedererweckt, zurück in das Leben eines menschenverachtenden Zynikers, der immer rechtzeitig wittert, woher in der großen Weltpolitik der Wind weht, nach dem er konsequent sein eigenes berufliches Fortkommen nach oben in die Zentren der Macht ausrichtet. Genauso treffsicher weiß er dabei in den kleinen Dingen des privaten Lebens die Schwachstellen derer auszumachen, die es wagen, sich ihm in den Weg zu stellen. Wie ein Chamäleon kann er seine Rolle wechseln von der eines faschistischen Mafiabosses, der kühl seinen Mitarbeitern die Mordaufträge erteilt, in die des fürsorglichen väterlichen Freundes der Tochter seines Freundes.
Und all dies mit einem Minimum an Worten und Minenspiel, wie ein Schachspieler, der sich des Erfolges seiner verwinkelten, für seine Gegner undurchschaubaren Züge sicher ist. Gehlen hat diese Selbstsicherheit gewonnen, weil er frühzeitig, schon in den letzten Kriegsmonaten die USA als die nach 1945 dominierende Weltmacht ausgemacht und sich mit ihr arrangiert hat, er daher die Staatsmacht und Regierung in Westdeutschland, für die er arbeitet, hinter sich weiß im Kampf gegen Nazifeinde wie Otto John.
Dieser ist das genaue Gegenteil von ihm: hochemotional, wortreich die Jagd auf die Nazi-Verbrecher fordernd, um im nächsten Moment tief verzweifelt zum Whisky-Glas zu greifen, verzweifelt ob seiner Ohnmacht trotz seiner hoher Position als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz; impulsiv, undurchdacht und naiv in seinem Agieren, vor allem wenn er glaubt, in der großen Politik mitmischen und damit die Wiedervereinigung zu einem neutralen Deutschland erreichen und die Wiederbewaffnung verhindern zu können, so wie dies bei seinem Grenzübertritt in die DDR wohl der Fall war.
Sein politisch wie persönlich schwankender, widersprüchlicher Charakter wurzelt in dem politischen Umstand, dass er seine leidenschaftliche Verfolgung von Nazi-Verbrechern mit denselben herrschenden Eliten und Institutionen des Kalten Krieges führen will, die im Westen zur Absicherung ihrer Herrschaft die Nazis längst wieder im Staat integriert haben. Eine wenig überzeugende, eher traurige Gestalt mit einem zur Erfolglosigkeit verurteilten Vorhaben – von Sebastian Blomberg sehr überzeugend und erfolgreich verkörpert.
Zu den Widersprüchlichkeiten des Charakters des realen Otto John gehört die Tatsache, dass er zwar ein unversöhnlicher Gegner der Naziverbrecher und des Nationalsozialismus war, und dies schon seit der Machtübergabe an Hitler durch die herrschenden Eliten in Deutschland 1933. Aber er teilte mit ihnen den vehementen Antikommunismus und die Feindschaft gegen die Sowjetunion. Beides war schon ein Merkmal des militärischen Widerstands gegen Hitler, dem Otto John sich angeschlossen hatte und der zum Attentat vom 20. Juli 1944 führte. Beides gehörte auch zur programmatischen Grundlage des Bundesamtes für Verfassungsschutz unter seinem ersten Präsidenten Otto John.
Aber auch die weniger hochgestellten Personen, eher durchschnittlichen, aber typischen älteren Vertreter der von neuem Wirtschafsaufschwung, alten ideologischen Lasten und ungesühnten Verbrechen des Dritten Reiches geprägten Gesellschaft, wie Vater und Mutter Schmidt, haben sehr gute Schauspieler gefunden; ebenso junge Menschen wie Tonis Schwester Ingrid oder Tonis Verlobter, die von der Vergangenheit nichts wissen, sondern nur die Gegenwart genießen und gesellschaftlichen Aufstieg und Erfolg erreichen wollen.
Eine besondere Würdigung verdienen Drehbuchautorin Claudia Garde als Erfinderin und Mercedes Müller als Darstellerin der Kunstfigur Toni Schmidt. Diese Figur wirkt mit ihrer jugendlich-frischen und gleichzeitig beharrlichen, irgendwie kantigen, unangepassten Art auf ihrer Suche nach Antworten auf ihre Fragen in der miefigen, zutiefst kranken und verlogenen Gesellschaft der 1950er Jahre wie ein Fremdkörper, wie aus dem 21. Jahrhundert 70 Jahre zurückgefallen.
Dabei hat sie gleich zwei entscheidende Aufgaben zu erfüllen: zum einen das damalige Vertuschen und Verschweigen aufzubrechen und die Wahrheit über die Vergangenheit herauszufinden, zum anderen die jüngeren Generationen unter den Zuschauern des Filmes dabei mitzunehmen und ihnen einen leichteren Zugang zu den komplexen und bedrückenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland, zum Leben ihrer Eltern und Großeltern zu erleichtern.
Auch wenn der unaufhaltsame Aufstieg Tonis als Top-Agentin, die sich von Erfolg zu Erfolg schwingt, am Ende etwas unglaubwürdig wirkt: Beide Aufgaben sind mit Bravour gelöst worden.
Die aktuelle politische Brisanz der Serie
Als historischer Spielfilm überragt die Serie viele dokumentarischen, aber weichgespülten Geschichtssendungen im Fernsehen, die zwar oft faktenreich, aber in der Interpretation extrem oberflächlich und irreführend sind.
Sie greift Themen auf, die bis heute heiß geblieben, ja seit der Wende der deutschen Außenpolitik zu aggressiver Aufrüstung und zu einem erneuten Eroberungskrieg gegen Russland in der Ukraine so aktuell wie nie zuvor geworden sind.
Welcher Zuschauer denkt bei den kriminellen Operationen Gehlens zum Aufbau paramilitärischer Truppen nicht an den vom Verfassungsschutz finanzierten und wahrscheinlich auch geführten NSU und seine zahlreichen Morde? Oder an die rechtsradikalen, bis weit in die Bundeswehr hinein reichenden faschistischen Banden mit ihren Waffenlagern und langen Listen von zu liquidierenden Politikern, und an die Drohbriefe an Anwälte oder an unbequeme Künstler und Künstlerinnen?
Wer denkt bei den Debatten um die Wiederbewaffnung und Atomrüstung Westdeutschlands damals nicht an die gigantischen Summen von Hunderten von Milliarden Euro, mit denen Deutschland heute in kürzester Zeit zur führenden Militärmacht Europas aufgerüstet werden soll?
Der blanke, alle demokratischen Grundrechte verletzenden Antikommunismus, der in den 1950er Jahren so virulent war, er wird heute wieder mobilisiert, um die staatliche Repression aller Organisationen und Menschen zu rechtfertigen, die für eine fortschrittlichere, egalitäre, sozialistische Gesellschaftsform eintreten.
Das Verbot der KPD 1956 und die Begründungen dafür, die vom Bundesinnenministerium genau in den Jahren, in denen der Film spielt, vom Vorgesetzten Otto Johns, dem Staatssekretär Hans Ritter von Lex vorbereitet worden sind, sie werden heute wieder von den Staatsanwälten und Richtern in den Gerichtsverhandlungen über die Klage der Sozialistischen Gleichheitspartei gegen das Bundesinnenministerium im Wortlaut zitiert, um die Überwachung und Bespitzelung der SGP durch den Verfassungsschutz zu rechtfertigen.
Regisseurin und Drehbuchautorin, Schauspielerinnen und Schauspieler der Filmserie äußern sich jedenfalls in dem gesonderten Filmbeitrag „The making of …“ völlig geschockt über die verbrecherischen Machenschaften, mit denen in den höchsten Regierungskreisen der BRD während der 1950er Jahre die Geheimdienste aufgebaut, die Wiedervereinigung Deutschlands verhindert und stattdessen seine Wiederbewaffnung vorangetrieben worden ist; geschockt auch gerade wegen der Parallelen zur heutigen Zeit.[5]
„Ich habe sehr, sehr viel gelernt über diese Zeit und diese erschreckenden Vorgänge“, so das einhellige Urteil des Filmteams. Und so wird es auch den meisten Zuschauern gehen.
Die Untergrabung der Legende von der „Stunde Null“, vom „demokratischen Neuanfang des deutschen Staates“ nach 1945 und damit die Untergrabung der Autorität dieses bis an die Zähne bewaffneten, antidemokratischen Staates von heute bei einem großen Publikum – auf dieser Wirkung des Films beruht seine politische Brisanz und sein politisches Verdienst.
Sie ist wohl auch der Grund für den ungewöhnlichen Abbruch der Serie durch die Programmdirektion der ARD und für die ebenso ungewöhnlich kurze Verweildauer der erfolgreichen ersten Staffel in der Mediathek.[6]
Anmerkungen
1) Bereits die „Väter des Grundgesetzes“ hatten sich 1949 um diese Personen Sorgen gemacht. Sie nahmen extra einen Artikel in das Grundgesetz auf, Artikel 131 GG, der besagt, dass die „Rechtsverhältnisse dieser Personen“ per Gesetz geregelt werden müssen. Zwei Jahre später wird dieses Gesetz beschlossen. Daher der Name „131er Gesetz“, auch Re-Nazifizierungsgesetz genannt. Vergleiche Manfred Görtemaker, Christoph Safferlin, „Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit.“ München 2016, S. 160ff
2) Sehenswert dazu die jüngste ARD-Doku in der Mediathek mit dem Titel „Mörder bevorzugt, wie der BND NS-Verbrecher rekrutierte“. Sie stützt sich auf die Ergebnisse der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung und Veröffentlichung der Geschichte des BND, die 2011 ins Leben gerufen worden ist.
Siehe auch den WSWS-Artikel: Wie Gehlen den BND als Staat im Staat aufbaute von Wolfgang Weber.
3) Dass Reinhard Gehlen dem Massenmörder Alois Brunner so oder ähnlich zu einer neuen Identität und zur Flucht verholfen hat, wird von Historikern schon seit Jahrzehnten vermutet. Beweise aber wurden nie gefunden, nur Indizien, vor allem weil der BND und auch der Verfassungsschutz die Akten zu dem Fall „Alois Brunner“ nicht herausgerückt haben. Vor kurzem erst ist es der Organisation FragDenStaat gelungen, das Bundesamt für Verfassungsschutz zu zwingen, knapp 400 Seiten dieser Akten zur Veröffentlichung freizugeben: Die Geheimdienstakten über Alois Brunner.
Darin wird schon die entscheidende Hilfe der „Organisation Gehlen“ bei der Flucht Brunners, aber auch die Tatsache deutlich, dass die deutschen, amerikanischen und israelischen Geheimdienste seit mehr als einem halben Jahrhundert über den Aufenthaltsort Brunners Bescheid wussten und die Spuren zu ihm verwischten. Brunner konnte so bis zu seinem Tod im Jahr 2001 unbehelligt unter dem Schutz der deutschen Geheimdienste leben.
Wichtigstes Indiz für die entscheidende aktive Rolle Gehlens und des von ihm geführten Geheimdienstes ist die Tatsache, dass der BND selbst in den 1990er Jahren eine 581 Seiten starke Akte „Alois Brunner“ vernichtet hat.
4) Es handelt sich um den „Technischen Dienst“, der dem militant-antikommunistischen, jedoch nach außen hin friedlich auftretenden Bund Deutscher Jugend (BDJ), gegründet am 23. Juni 1950, als paramilitärische Untergrundtruppe angegliedert ist. Für den nächsten Krieg gegen die Sowjetunion probt er mit finanzieller und logistischer Unterstützung der CIA den Kampf gegen die Rote Armee als „stay-behind“ Partisanenarmee.
Auf seinem Plan für den Fall X steht auch die Ermordung aller „Kommunisten“ und „Landesverräter“, d.h. Gegner des Hitler-Regimes und der Entnazifizierung in Westdeutschland. Dazu stehen auf sog. „Proskriptionslisten“ zahlreiche hochrangige SPD-Politiker, demokratisch gesinnte Journalisten mit vollem Namen, Beruf, biometrischen Merkmalen, persönlichen Charaktereigenschaften und Gewohnheiten, finanziellen und familiären Verhältnissen – alles sorgfältig dokumentiert auf Karteikarten, die jenen des Bundesamts für Verfassungsschutz täuschend ähnlich sind.
5) Zu den politischen Verhältnissen in der Nachkriegszeit in Deutschland und der Rolle von Otto John sei der Dokumentarfilm empfohlen, der die TV-Serie ergänzt und wichtige Informationen und Hintergründe liefert.
6) Ursprünglich war eine zweite Staffel angekündigt, in der auf den Strafprozess eingegangen werden sollte, in dem John als Landesverräter angeklagt und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, als er nach wenigen Monaten Aufenthalt in der DDR wieder zurückgekehrt war. Doch auf Anfrage hat die ARD mitgeteilt, es gäbe „bisher noch keine konkrete Planung“.
Die Programmdirektion der ARD wird seit Mai 2021 von Christine Strobl geleitet. Sie ist die Tochter von Wolfgang Schäuble, dem mehrfachen CDU-Bundesinnen- und Finanzminister, und die Ehefrau von Thomas Strobl, dem CDU-Innenminister von Baden-Württemberg. Alle drei gehören dem rechts-konservativen Flügel der CDU an.
Wolfgang Schäuble hat sich 2019 vehement gegen einen Ausschluss von Hans-Georg Maaßen ausgesprochen, der während seiner Amtszeit als Verfassungsschutz-Präsident die Herausgabe der „Akte Alois Brunner“ strikt verweigert hatte.
#Titelbild: Toni übersetzt für Gehlen bei einer Verhandlung [Photo by ARD/Odeon Fiction/Zuzana Panská]
Quelle: wsws.org/… vom 17. Juli 2023
Tags: Deutschland, Faschismus, Grossbritannien, Imperialismus, Kultur, USA, Zweiter Weltkrieg
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