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Brasilien: Das Desaster der 13-jährigen PT-Regierung

Eingereicht on 21. Januar 2020 – 17:07

Brasilien ist vor etwa drei Jahrzehnten zu einem der interessantesten Länder für linke politische Projekte geworden: Grosse Massenorganisationen, angeführt von der kämpfenden Arbeiterklasse und einer Ausstrahlung in die Schichten der Landlosen und in andere Segmente der Gesellschaft, stellte die Machtfrage und damit auch die Eigentumsfrage. Mittlerweile sind diese Perspektiven vollends in die Wand gefahren worden. Unterdessen wird das Land von einem faschistoiden Präsidenten regiert, der mit seiner Entourage den rechtsradikalen Kräften im Land, insbesondere im Militär, in der Bourgeoisie und den Mittelschichten starken Aufwind gibt.

Zwar kann er sein neoliberales Programm, beispielsweise eine radikale Gegenreform der Altersvorsorge und der Sozialprogramme, nicht so durchsetzen, wie die lokale und vor allem auch die internationale Bourgeoisie es bei seinem Amtsantritt im Januar 2019 erwartet hatten. Dies deutet darauf hin, dass die politisch gesunden Elemente in der Arbeiterklasse noch nicht am Ende sind –trotz der grossen Fehler der PT und vieler linken politischen Organisationen, darunter der PSOL.

Der folgende Aufsatz eines linken Aktivisten*, der über viele Jahre in Brasilien gelebt hat und weiterhin im engen Kontakt zu linken Sektoren dort steht, geht auf Ende 2016 zurück, ein halbes Jahr nach der Amtsenthebung gegen Dilma Rousseff. Seine Analyse hat sich mit der Entwicklung bis heute, Anfang 2020, voll bestätigt: Der Grund für die politische Katastrophe liegt in der Illusion, dass mit irgendwelchen «Erneuerungen» des Reformismus noch Fortschritte erreichen liessen. Diese Illusion hat seit etwa 30 Jahren die «radikale» Linke durchdrungen, mit Konzepten wie «Breite Parteien», «Links-Reformismus», «Linke Regierungen», «Links-Populismus», «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» u.a.. Sie hat an verschiedenen Brennpunkten des weltweiten Klassenkampfes – Griechenland, Spanien, Deutschland, Frankreich, Portugal, den USA, Venezuela, Bolivien, Italien u.a.O. – zu politischen Katastrophen oder doch zu schweren Rückschlägen für die «radikale» Linke und vor allem für die Arbeiterklasse geführt. [Redaktion maulwuerfe.ch]

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Tino Plancherel. Die brasilianische PT war in der Geschichte der weltweiten linken Strömungen der letzten 50 Jahre etwas ganz Besonderes. Sie ist zwischen 1979-1987 durch Tausende von großen, mittleren und kleineren Streiks zu einer richtigen Massenpartei herangewachsen mit einem sehr starken radikal linken Flügen in ihrem Inneren. Nirgendwo auf der Welt hatte sich den Strömungen des revolutionären Sozialismus seit dem zweiten Weltkrieg eine so weitreichende Chance geboten, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Die Gelegenheit wurde vertan, doch in der Perspektive möglicher revolutionärer und antikapitalistischer Prozesse gehört Brasilien nach wie vor zu den fünf, sechs interessantesten Ländern der Welt.

In Brasilien werden nach offizieller Statistik pro Jahr 60‘000 Menschen ermordet. Nur rund 5000 Fälle davon werden vollständig aufgeklärt und die Täter tatsächlich bestraft. In diesem Lande kann man also morden quasi nach Belieben und wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% nicht gefasst. In dieser Zahl nicht inbegriffen sind zusätzlich noch jährlich mindestens 20‘000 Verschwundene, „desaparecidos“, grösstenteils Farbige aus den armen Regionen und Stadtteilen, die von städtischen und ländlichen Todesschwadronen und anderen kriminellen Gruppierungen entführt und getötet werden und deren Leichen nur manchmal zufällig zum Vorschein kommen. Unter der 13-jährigen PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores) von 2003-2015 hat sich an dieser für eine Gesellschaft fatalen Situation nichts geändert und die Ermordung von indigenen AktivistenInnen hat sich sogar verdreifacht im Vergleich zu den zehn Jahren der rechtsbürgerlichen Vorgängerregierung.

In der Regierungszeit der PT hat sich die öffentliche Verschuldung von 350 Milliarden US-Dollar auf etwa 1200 Milliarden erhöht, ermöglicht wurde dies durch eine Hochzinspolitik. Seit über zehn Jahre hat Brasilien die weltweit höchsten Zinsen bis zu real 17% pro Jahr, mit der Folge, dass Jahr um Jahr über 40% des Bundeshaushaltes für Zinszahlungen und Amortisation verschwendet werden, während der Haushaltsanteil des Gesundheits- und Bildungsministerium jeweils unter 4% liegt. Auch das berühmte Sozialprogramm der PT, «Bolsa  familia» und das Wohnförderungsprogramm «minha casa, minha vida» auf das sich so viele linke Strömungen berufen, erhielten lediglich zirka 2,5% des Bundeshaushaltes, 15 Mal weniger als die jährlichen Schulden-Zinszahlungen an die Grossbanken. Hinzu kommt noch, dass 60% der Privathaushalte in Brasilien verschuldet sind und durchschnittlich 25% ihres Einkommens zur Schuldentilgung verbrauchen. Bei den Privatkrediten bewegen sich die realen Zinsen in der Regel zwischen 20-40%.

Problematische Putsch-Theorie

Von der gemässigten bis zu der äußersten radikalen Linken rund um den Globus scheint man sich einig zu sein in der Einschätzung des Absetzungsverfahrens der PT-Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 als „Putsch“. Dabei wird die gesamte Vorgeschichte des vermeintlichen Putschs unterschlagen: Zwei Wochen vor der Stichwahl zwischen Dilma und dem Kandidaten der rechtsbürgerlichen Opposition, zeichnete sich immer deutlicher ein Sieg des letzteren ab, worauf die Präsidentin einen plötzlichen Linksschwenk vollzog und versicherte, dass es unter ihrer Regierung keinen Sozialabbau geben werde und alle Errungenschaften der ArbeiterInnen erhalten und weiter ausgebaut würden. Dabei benutzte sie einen wirklich sehr radikalen Ausdruck, der sich nicht wörtlich übersetzen lässt, aber sinngemäss bedeutet, dass es Sozialabbau kategorisch „nur über ihre Leiche gäbe“. Dieser Spruch, („nem que a vaca tussa“….wortnahe Übersetzung „selbst wenn die Kuh einen Hustenanfall kriegt…..“, wird es bei mir keinen Sozialabbau geben“) wurde sozusagen zum landauf, landab, tausendfach zitierten Wahlspruch der Präsidentin. Darauf gelang ihr die Trendwende und sie gewann den zweiten Wahlgang Ende Oktober 2014 mit gar nicht so knappen 51,6% der Stimmen.

Wenige Tage (!!) und Wochen (!!) nach dem Wahlsieg ernannte sie einen neoliberalen Chicago-Boy und ex-Direktor des IWF zum Wirtschaftsminister, veröffentlichte ein ganz offensichtlich schon vor der Wahl erarbeitetes Spar- und Abbauprogramm, in dem die schon eh prekäre Arbeitslosenunterstützung und die Krankenversicherung der Lohnabhängigen zusammengestrichen wird, berief in das in Brasilien sehr wichtige Landwirtschaftsministerium eine Frau, die als Präsidentin des Verbandes der Grossgrundbesitzer und des großen Agrarkapitals (des weltweiten Exportes von genetisch veränderten Soja als Tierfutter) organische Verbindungen zu den nach wie vor aktiven Todesschwadronen auf dem Land hat.

Zudem erhöhte sie auf einen Schlag die Strompreise um 28%, was zum größten Inflationsschub der letzten 12 Jahre führte. Im Weiteren kündigte sie eine „Rentenreform“ an, deren Kern in der allgemeinen Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre besteht, was in der brasilianischen Realität mehr oder weniger die Abschaffung der Altersrente für weit über die Hälfte der Bevölkerung, also für rund 120 Millionen Menschen bedeutet, denn die ärmere Bevölkerung hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von 60-69 Jahren.  Im Jahre 2016 waren 12,2% der Bevölkerung älter als 60 Jahre und nur 7% älter als 65 Jahre und das sind vorwiegend die mittleren und oberen Sozialschichten. Eine „Reform“ des Arbeitsrechts, bei der es vor allem um Lockerung des Kündigungsschutzes und die Flexibilisierung der Arbeitszeit geht, wurde ebenfalls in Aussicht gestellt.

Darauf erstarrte die ganze Nation in Fassungslosigkeit. Man ist sich in diesem Land in Sachen Dreistigkeiten der Politiker an einiges gewohnt, das aber überstieg alles Bisherige; sie hat nicht nur, wie üblich, Wahlversprechen im Verlaufe der Jahre nicht eingehalten, sondern sofort, nach wenigen Tagen, das nackte Gegenteil davon getan; sie hat ihre 54 Millionen WählerInnen direkt und unverhohlen belogen und betrogen und in diesem Sinne darf durchaus von einem regelrechten Wahlbetrug geredet werden. Der Ausdruck, der dafür in den Medien kursierte, war „estelionato eleitoral“, wobei der Begriff „estelionato“ bedeutet „etwas erreichen durch eine betrügerische, kriminelle Handlung.“ Nun begann in den Meinungsumfragen ein Sturzflug ihrer Popularität, wie es in der gesamten Geschichte Brasiliens noch nie vorgekommen war. Ihre Zustimmungsquote sank innerhalb weniger Monate von 55% auf bis 9% hinunter. Zwei Monate nach Regierungsantritt am 1. Januar 2015 entstand eine rechte Massenbewegung, die im März 2016 schliesslich über zwei Millionen Menschen auf die Straße brachte.

Bild: Marcelo Freixo, ein führendes Mitglied der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) in freundschaftlicher Umarmung mit Lula, kurz nachdem er provisorisch aus dem Gefängnis entlassen worden war. Diese «Umarmungspolitik», die schon immer eine heimtückische Taktik des Lulimus war, hätte die PSOL, die eine Partei oder besser eigentlich ein Parteienbündnis ist, in etwa vergleichbar mit der deutschen Linkspartei, zurückweisen müssen.

Nach längerem Zögern und unter dem Druck der Straße einigten sich schliesslich alle bürgerlichen Parteien, inklusive derjenigen, die seit 13 Jahren mit der PT eine große Koalition bildeten, auf ein in der Verfassung vorgesehenes Impeachment Verfahren. Dabei umschifften, dehnten und manipulierten sie die juristischen Grundlagen des Absetzungsverfahren in mehreren Punkten. Interessen bezogene Manipulationen in der Interpretation von Gesetzen und selbst massive Missachtung der Verfassung ist in Brasilien allerdings an der Tagesordnung, auch durch die PT. Zum Beispiel tat sich die Regierung Rousseff besonders hervor in der Missachtung der verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Urbevölkerung. Die massive Kampagne der bürgerlichen Parteien für das Impeachment und die pausenlose Hetze und Desinformation sämtlicher Massenmedien waren vor allem durch ihre abgrundtiefe Verlogenheit und Heuchelei charakterisiert und nicht durch die juristischen Tricksereien. Bürgerliche Politiker und bürgerliche Parteien, die nachweislich seit Ewigkeiten Staatskasse und Staatsbetriebe ausgeplündert hatten und bis ins innerste Mark korrupt sind, fielen scharenweise und endlose Monate über die ebenfalls nachweislich, aber neu-korrupten PT-PolitikerInnen her, bürgerliche Parteien, die Folter und Militärdiktatur verteidigten und solche, die auch heute noch Stimmen kaufen und am liebsten auf Demonstranten und Streikende schießen würden, predigten ohne Ende über Demokratie, soziale Gerechtigkeit und gegen Korruption. Kurzum das Jahr 2015-16 war für die brasilianischen FernsehzuschauerInnen eine kaum zu ertragende, widerliche Qual.

Trotzdem, die Ereignisse als Putsch zu charakterisieren, führt zu falschen Schlussfolgerungen. Erstens ist in einem Kontinent, wo zahllose blutige Militärputsche geschahen und wo der Begriff Putsch automatisch von allen mit Militärputsch assoziiert wird, vorsichtiger zu gebrauchen und zweitens stellt der Gebrauch dieses Begriffes die PT-Präsidentin als Opfer dar, wo sie doch nicht nur Täterin, sondern sogar Haupttäterin war. Ihr „Wahlputsch“, wenn man denn bei dieser Terminologie bleiben würde, hat erst die Möglichkeit des darauffolgenden parlamentarisch-juristischen Impeachment-“Putsch“ geschaffen, und was noch schlimmer ist: Er hat die Entstehung einer rechten, reaktionären Massenbewegung massiv erleichtert und gefördert. Die „Putsch-Theorie“ stammt von der PT und ist Ausdruck von deren total fehlenden selbstkritischen Haltung, und als das muss sie denunziert werden.

Struktur und Programm der PT in ihrer Frühphase

Die PT war seit ihrer faktischen Entstehung 1979 bis 1988 eine linksreformistische Massenpartei mit einem kontinuierlich wachsenden linken, radikalen Flügel, der zwischen 1987-1990 gegenüber dem lulistischen Lager in den Sachabstimmungen und Personenwahlen an den Kongressen nur um 2-8% unterlag. Das größte Problem in der PT, von einem revolutionär-sozialistischen Standpunkt aus, waren nicht so sehr die rohen, politischen Dummheiten, die Lula am Fernsehen periodisch immer wieder von sich gab − wie auf die Frage, ob er Sozialist sei, antwortete er, er sei nicht Sozialist, sondern Mechaniker, oder dass er doch den zentralen Ort der Frau am Herd sehe oder dass die Studenten manchmal mehr studieren sollten und weniger protestieren usw. −, sondern die im Kern nicht demokratische Struktur der Partei und die immer stärker werdende Orientierung auf Wahlprozesse. Zwischen den Kongressen wurden alle wichtigen Entscheidungen allein von der kleinen Exekutive gefällt. Deren Machtzentren, etwa das Generalsekretariat, waren durch einen Paragraphen der Statuten der größten Tendenz vorbehalten, also den Lulisten. Als gegen Ende der 80er Jahre die linken Tendenzen nahe daran waren, die Mehrheit zu erobern, haben die Lulisten sofort durchblicken lassen, dass sie dann die Partei spalten würden. Ein sehr wichtiges Element des wenig demokratischen Charakters der PT war das vollständige Fehlen einer nationalen Zeitung und einer regelmäßig erscheinenden interessanten theoretischen Zeitschrift. Die PT hätte allerspätestens ab 1982 die Kraft und die Finanzen gehabt für eine nationale Wochenzeitung und ab 1986 für eine nationale Tageszeitung. Doch die ernsthafte Politisierung der Mitglieder und der progressiven Teile der Bevölkerung war nie das Anliegen der Lulisten.

Die längere historische Streikepoche mit ihren konjunkturellen Aufs und Abs dauerte in Brasilien von 1979-1987, danach gingen größere Streiks mit gesellschaftspolitischen Hintergründen stark zurück, die Kämpfe entpolitisierten sich, waren mehr verzettelt und vorwiegend rein ökonomischer Natur. Die politischen Auseinandersetzungen verlagerten sich rasant auf die Wahlebene. Die herrschenden Eliten hatten sehr geschickt dafür gesorgt, dass die Wahlen auf Gemeinde-, Bundesstaats- und Bundesebene zeitlich verschoben stattfanden, sodass jedes zweite Jahr Wahljahr war. Hinzu kamen noch die Wahlen in der Gewerkschaftsbewegung. Es gibt in Brasilien rund 10‘000 vorwiegend lokale und regionale Gewerkschaften, nach eng definierten Kategorien aufgesplittert, die in der Regel alle 4 Jahren durch Urabstimmungen ihren Leitungsapparat wählen, wobei die stärkste Liste das Ganze übernimmt.

Kernstück des Parteiprogramms der PT waren die so genannten gesellschaftlichen Struktur-Reformen. Im Kampf um unmittelbare Verbesserungen, wie zum Beispiel die Erhöhung des Minimallohns und mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft fungierten die Struktur-Reformen als Brückenkopf, die sowohl generelle Verbesserungen der Lebensverhältnisse beinhaltete, wie auch längerfristige und unumkehrbare Veränderungen der Strukturen des Staates zugunsten der Lohnabhängigen und der armen Volksmassen. Die Struktur-Reformen sollten ein weites Feld umfassen, von der Abschaffung der Militärpolizei, Armeereformen die Militärputsche erschweren würden, über radikale Steuerreformen und Demokratisierung der Medien bis zur Verstaatlichung von Schlüsselsektoren, der Demokratisierung der Wahlprozesse und Parlamente, eine radikale Landreform usw. Jede Strömung in der PT hatte über den genauen Charakter der Struktur-Reformen und über die Mittel und Wege ihrer Umsetzung zum Teil erheblich unterschiedliche Vorstellungen, die sich von einem rein reformerischen Verständnis bei den Lulisten bis zum Verständnis der Struktur-Reformen als einer Art von dynamisch und radikalisierend wirkenden Übergangsforderungen. Offizieller Konsens war immerhin, dass die unmittelbaren Verbesserungs-Reformen und die Struktur-Reformen zum sofort umzusetzenden Parteiprogramm gehörten.

Die Verbrechen Lulas

Unter diesem Titel erschien in der größten linksreformistischen Webzeitung Brasiliens ein Leitartikel. Weniger bekannte Themen werden da behandelt wie z. B. das Faktum, dass unter der PT-Regierung, die immer eine echte Landreform gefordert hatte, der Großgrundbesitz um 104 Millionen Hektar Land erweitert wurde, zum Vergleich während der Militärdiktatur im gleichen Zeitraum von 13 Jahren zwischen 1964-77 waren es 70 Millionen Hektar. In 13 Jahren Regierungszeit hatte die PT buchstäblich keine einzige Struktur-Reform verwirklicht. Keine Landreform, keine Reform des extrem ungerechten Steuersystems, keine Demokratisierung der Medien, wo vier Fernsehkanäle, alle weit rechts von der Mitte, einer reaktionärer als der andere, zusammen etwa 98% des Informationsmonopols innehaben, keine Reform des archaischen Justizsystems, keine Abschaffung der gewalttätigen Militärpolizei, keinen wirklichen Schutz des Regenwaldes, keine Reform des miserablen Bildungssystems, ja nicht mal die Aufhebung der Amnestie für die Verbrechen der Militärdiktatur oder eine Reform des von Absurditäten strotzenden Arbeitsrechts fand statt, z. B. die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer. Etwa 50 Millionen registrierten Lohnabhängigen Brasiliens wird zwangsweise ein Tageslohn pro Jahr abgezogen, ergibt fast 1 Milliarde Dollar, die auf die Gewerkschaftsapparate verteilt werden. Deshalb gibt es in Brasilien zirka 10‘000 Gewerkschaften, davon mindestens 70% mehr oder weniger gelbe Gewerkschaften. Die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer war die erste und älteste Forderung bei der Gründung der PT und nicht Mal dies hat der ehemalige Gewerkschafter Lula geschafft.

Von den lebensverbessernden kurzfristigen Reformen hat die PT-Regierung nur drei verwirklicht. Die Erhöhung des Mindestlohnes real um gut 100%, die Erweiterung des Sozial-Programms „Bolsa Familia“ und das Wohnbau-Programm „Minha casa, minha vida“. Die Erhöhung des Minimallohnes von zirka 100 US-Dollar im Jahr 2002 auf 250 US-Dollar im Jahr 2016 erscheint als viel, ist es aber nicht, denn dieser Betrag ist erstens immer noch sehr weit unter dem Existenzminimum, zweitens war der Ausgangsbetrag extrem niedrig, drittens hat sich in diesem Zeitraum das BIP nominal fast verdreifacht und viertens sind manche Produkte des Alltags wie Brot, Käse, Milch, Teigwaren, Zahnbürste u.v.m. in Brasilien nominal teurer als in Deutschland. Das Programm „Bolsa Familia“ ist eine Zusammenlegung und Erweiterung von zirka dreißig verschiedenen Sozialleistungen von vergünstigten Lebensmitteln bis zu Direktzahlungen von maximal 50 Dollar pro Person und Monat. Ein Teil dieser Sozialleistungen existierte schon vor der PT-Regierung und erst nach einigen Jahren Anlaufschwierigkeiten kamen danach etwa 50 Millionen BrasilianerInnen, 26% der Bevölkerung in ihren Genuss. Das Programm kostete im Jahre 2013 etwa 11 Milliarden US-Dollar was 1,5% des Bundeshaushaltes und knapp 0,5% des BIP entsprach. Das Wohnbauprogramm „minha casa, minha vida“ begann erst im siebten Regierungsjahr der PT, im Jahr 2009, in den insgesamt 7 Jahren wurden 2,1 Millionen kleine Wohnhäuser gebaut für insgesamt etwa 70 Milliarden Dollar, was den Bundeshaushalt jährlich um etwa 1,2% belastete.

Diesen nur drei Reformen progressiven und gleichzeitig auch problematischen Charakters (nicht ganz zu Unrecht wird dem Programm „Bolsa Familia“ unter anderem vorgeworfen, dass es auch ein Wahlstimmen Kaufprogramm sei) stehen zahlreiche knallharte und weitreichende Gegenreformen durch die PT-Regierung gegenüber. Die rasche Legalisierung des genetisch veränderten Soja, das noch unter dem Militärregime verboten wurde und inzwischen das ganze Land verseucht hat, den geradezu ungeheuerlichen Wiedereinstieg  in die Atomenergie, dazu noch in einem Erdbebengebiet und in unmittelbarer Nähe zum Meer, die Verschlechterung des Rentensystems für öffentliche Angestellte, die wieder verstärkte Konzentrierung auf nicht  nachhaltige Großprojekte, die Verschlechterung der Situation der indigenen Urbevölkerung u. a. durch die Megaprojekte, die massive Stärkung des Finanzkapitals u.a. durch die Hochzinspolitik und die Abkehr von einer staatlichen  Infrastruktur-Investitionspolitik zu Gunsten einer privaten oder halbprivaten.

Neben den Struktur-Reformen und den Sofort-Reformen hatte die PT noch eine dritte Säule in ihrem Programm der Frühzeit der 80er Jahre, nämlich die Korruptionsfrage. Die PT behauptete damals, dass sie die erste und einzige korruptionsfreie Partei in der Geschichte des Landes sei. In einem Land wie Brasilien muss auch die revolutionäre Linke so etwas wie ein Programm zur Korruptionsbekämpfung vorweisen können. Es ist ein schwerer Fehler von vielen Linken, zu glauben, dass es ausreiche, zu sagen, dass in einem kapitalistischen System wo alles um Profit und Geld kreist, Korruption eben immer eine unvermeidliche Begleiterscheinung sei. Die PT hatte stets nur ein moralisierendes Anti-Korruptionsprogramm und nie ein zusammenhängendes, konkretes, das die vielfältigen Aspekte der Korruption erklärt und Wege aufzeigt, wie man sie z. B. in den Staatsbetrieben und Banken mit Mechanismen von Arbeiterkontrolle und − ganz wichtig − durch eine Demokratisierung der Medien effektiv bekämpfen könnte.

Dass der Moralismus nichts wert war, hat sich rasch bestätigt, die Regierung Lula war ab ihrem ersten Tag in schwere Korruption verwickelt. Das ist nicht nur eine These, wie das viele linke Medien weltweit bis heute verfälschen, sondern eine hundertfach bewiesene Tatsache, inklusive persönlicher Bereicherung Lulas, unzähliger Minister und fast der gesamten Parteispitze. Da waren beispielsweise die Millionen schweren illegalen Partei- und Wahlkampfgelder, die reihenweise Bestechung von rechten Bundesabgeordneten durch die Regierung, damit sie ihren Gesetzen zustimmten, die persönliche Bereicherung von Lulas erstem Wirtschaftsminister, die Millionenspenden der großen Baufirmen für das so genannte „Institut Lula“, alles mit geraubtem Geld aus den Staatsbetrieben.

Symptomatisch und symbolhaft stehen zwei Ereignisse ganz am Anfang von Lulas Amtszeit. Die vergnügliche Geburtstagsfeier von Lulas jüngstem Sohn mit Flugzeugen der brasilianischen Luftwaffe und das In-Auftrag-Geben eines neuen luxuriösen 60 Millionen Dollar Präsidentenflugzeugs, während er ein Gesetz zur Verschlechterung des Pensionssystems der öffentlichen Angestellten auf Bundeseben durch den Kongress peitschte.

Die Massen-Bewegung von Juni 2013

Die Juni-Bewegung fing eigentlich im März 2013 an, als in Porto Alegre und dann in São Paulo und anderen Städten die Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel um 20 Cent auf gut einen Euro heraufgesetzt wurden. Der steigende Druck im Vulkan explodierte in den Monaten Juni, und Anfang Juli, als in unzähligen Demonstrationen in etwa 500 Städten schätzungsweise 4-7 Millionen Menschen auf die Straße gingen. „Não é por centavos, é por direitos“ (es geht nicht um Cent, es geht um Rechte) war der bezeichnende und grandiose Slogan der Bewegung. Sie forderte mit großer Empörung all das, was die ursprünglich linke PT einst versprochen hatte und von dem sie nichts, rein gar nichts eingelöst hatte. Die Juni-Bewegung war ohne Zweifel eine progressive Bewegung. Die Reaktion der PT-Regierung hätte nicht jämmerlicher sein können; zuerst Repression und Verleumdung, auf dem Höhepunkt kleine Zugeständnisse und große Reformversprechungen, dann, als die Bewegung vorbei war, Rücknahme der Zugeständnisse und Vergessen aller Versprechungen. Dieses Verhalten erklärt die totale Passivität der Arbeiterklasse beim Sturz der Regierung durch die Rechte und den unbändigen, entfesselten Hass gegenüber der PT, der heute in beachtlichen Teilen der brasilianischen Gesellschaft vorherrscht. Es ist die klassische Situation: Das umfassende Versagen einer als links betrachteten Regierung schuf den Nährboden einer konfusen rechten Massenbewegung.

Der linke Konservatismus, Conlutas und die 4. Internationale

In den 20er Jahren schrieb Trotzki einen interessanten Aufsatz über die Verheerungen des linken Konservatismus oder wie er es nannte des linken Traditionalismus und Rudi Dutschke, der kreativste Theoretiker der 68er Bewegung, sprach von der Notwendigkeit der „Revolutionierung der Revolutionäre“.

Die Auswirkungen des Konservatismus in der radikalen Linken (und der restlichen Linken erst recht) sind vielfältig. Die Mechanismen des klassischen Konservatismus sind natürliche Antagonisten zu Kreativität, Lebendigkeit, Fantasie, Wagemut, Kühnheit, taktischer Flexibilität und – ganz besonders – zu einer wachen Lernfähigkeit, eine der wichtigsten Charakteristiken einer realen und nicht nur selbsternannten revolutionären Avantgarde. Denn die Verkümmerung der Lernfähigkeit linksrevolutionärer Organisationen führt zu deren mehr oder weniger ausgeprägten Realitätsverlust. 

Dies geschah mit der 4. Internationale. Zwei Beispiele: Die Einschätzung der PT und der CSP-Conlutas (Central Sindical e Popular, Zentrale der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen – Nationale Koordination der Kämpfe). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es in der PT eine landesweite, zweijährige und sehr heftige Grundsatzdiskussion, die mit dem Sieg derjenigen Kräfte endete, welche die Partei nicht mehr als sozialistische Partei charakterisieren wollten, es waren die Lulisten, aber auch Teile des bisher linken Flügels. Die Lulisten nutzten das daraus für sie entstandene günstige Kräfteverhältnis aus und schlossen, unter einem Vorwand, eine der stärksten und entschiedensten sozialistischen Tendenz, die morenistische „Convergencia socialista“, 1992 aus der PT aus. Zusätzlich zogen sich zwischen 1991-1995 Tausende von Basismitgliedern enttäuscht über die Rechtsentwicklung und die immer eindeutiger werdende Ausrichtung ausschliesslich auf Wahlen, von der PT zurück, auch wenn sie manchmal noch formal Mitglieder blieben, sie gehörten nun zu der großen Fraktion der “politisch Heimatlosen“. Aus all diesen Faktoren entstand eine völlig neue Situation.

Die linken Tendenzen, die bis anhin mit 40-48% Unterstützung rechnen konnten, fielen nun unwiderruflich auf 20-25% zurück. Sie hätten beim Ausschluss der „Convergencia“ oder spätestens 1995 geschlossen aus der Partei austreten sollen. Eine neue sozialistische Partei hätte bis 1995 ohne Zweifel mit 10-20‘000 Mitgliedern zählen können.

Die Sektion der mandelistischen 4. Internationale tat so, als ob nichts geschehen wäre, und hielt die Charakterisierung der PT, so wie sie dies anfangs der 80er Jahre entwickelt hatte, unverändert aufrecht, eine Charakterisierung, die ab 1992 völlig realitätsfremd geworden war. Es war genau das Verhalten dieses konservativen Traditionalismus, wie ihn Trotzki beschrieben hatte, in Zusammenhang mit dem dogmatischen Beharren auf alten Einschätzungen, trotz völlig veränderten Situationen.

Die Morenisten gründeten 1993 die PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificados) und im Jahre 2003 als Lula Präsident wurde, spielten sie eine entscheidende Rolle bei der Vorgängerstruktur von „Conlutas“ (Nationale Koordination der Kämpfe). Die offiziell 2010 gegründete CSP-Conlutas hat im Jahre 2017 etwa 150 Gewerkschaften und 50 Gewerkschafts-Oppositionen sowie 50 soziale Bewegungen mit zirka 4-500‘000 Mitgliedern und einer politischen Einflusszone auf vielleicht 2 Millionen Menschen. Conlutas war weltweit einer der kühnsten und erfolgreichsten Vorstöße im Sinne einer Neuformierung der antikapitalistischen Kräfte. Die endliche Überwindung der rein gewerkschaftlichen Dachverbände wäre auch in Deutschland und anderen Ländern längst auf der Tagesordnung und auch das Ziel der organischen Strukturierung und Zusammenführung aller lebendig-progressiven und kämpferischen „Zellen und Organe“ der Gesellschaft in einem Dachverband, der nicht die Aufgabe hat, die großen Gewerkschaftsverbände eins zu eins zu ersetzen, sondern der, wenn auch minderheitlich, einen alternativen Pol bilden soll, der einerseits den Menschen in der enormen ideologischen Verwirrung der heutigen Zeit eine elementare politische und gewerkschaftliche „Heimat“ bietet und der fähig ist, gewisse politische Initiativen wie z. B. grössere Solidaritätskampagnen landesweit auf die Beine zu stellen.

Die brasilianische Sektion wie auch die Leitung der 4. Internationale, gefesselt durch einen Geist des Konservatismus, standen den Veränderungen in der Partei- wie in der Gewerkschaftsfrage verständnislos gegenüber. Ihre Argumentationen, dass z. B. die Massen der Arbeiter immer noch in der PT-nahen Gewerkschaftszentrale CUT sei, dass das Projekt Conlutas eine Politik der roten Gewerkschaft verfolge und deshalb zum Scheitern verurteilt sei, dass die realen Voraussetzungen in Brasilien aus den und den Gründen nicht existieren würden und die Leute Illusionen erlägen usw., beruhten auf einer statischen und konservativen Betrachtung der Realität.

Der Geist des Konservatismus hatte im Fall der brasilianischen Sektion bereits zu Beginn der 90er Jahren auch zu einer gefährlichen inneren Situation geführt. Immer mehr Mitglieder waren gut bezahlte politische Funktionäre Im Jahr 2002 besaß die Sektion 1500 Mitglieder, wovon über 1000 gut bezahlte politische Funktionäre waren in den vielen von der PT eroberten Gemeinden wie der 1,4 Millionenstadt Porto Alegre, sowie in den Parlaments- und den Gewerkschaftsapparaten. Diese Funktionärsschicht ist bis auf wenige Ausnahmen ins sozial-neoliberale Lager übergelaufen als Lula Präsident wurde und bildet heute ironischerweise den „linken“ Flügel in der PT, welcher die Partei erneuern und retten möchte, ein Vorhaben, das im wörtlichen Sinne reaktionär ist.

Die Geschichte hat die konservative Trägheit der 4. Internationale (VS) und das Jahrzehnte lange Nicht-wahrhaben-Wollen aller Alarmsymptome schwer bestraft. Die 4. Internationale ist in ganz Lateinamerika, vor allem aber in den zwei wichtigen Ländern Brasilien und Argentinien eingebrochen und nahezu bedeutungslos geworden. Während die Mandelisten noch zwei bis dreihundert Mitglieder haben und in Argentinien nicht einmal dies, haben die Morenisten in Brasilien 2000 und in Argentinien gar gegen 7‘000 AktivistenInnen plus Strukturen mit relativem Masseneinfluss wie Conlutas. Die Morenisten, obwohl orthodoxer und mit unverkennbaren dogmatischen Neigungen lagen in vielen wichtigen Fragen bezüglich Lateinamerikas näher bei der Realität. Sie waren gegen den bewaffneten Guerillakampf in den 70er Jahren, hatten eine viel realistischere Einschätzung des Sandinismus, und eine korrektere Analyse der PT und der Gewerkschaftsbewegung, während die 4. Internationale ziemlich daneben lag und sich vor allem als erschreckend lernunfähig erwies. Bis in die Gegenwart hinein fehlt der Bilanz der kritische Tiefgang und die heute sehr kleine brasilianische Sektion macht in der PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) vielfach die gleichen Fehler, die sie schon zwei Jahrzehnte zuvor in der PT gemacht hatte.

Aussichten, PSOL und die neue Organisation MAIS

Die nach dem Impeachment im September 2016 eingesetzte Interimsregierung, die sich im Kern aus den ehemaligen engen Verbündeten der PT zusammensetzt, hat inzwischen einen derart erzkonservativen und extrem ultra-neoliberalen Kurs gefahren, dass die schweren Untaten der PT- Regierungen bereits anfangen, zu verblassen. Die Entwicklung für das Jahr 2017 hängt vorerst stark von den Anti-Korruptionsermittlungen ab. Diese Ermittlungen waren in den letzten zweieinhalb Jahren sehr einseitig und parteiisch gegen die PT und die involvierten großen Bauunternehmungen gerichtet, das hat sich jedoch seit kurzer Zeit zum Teil geändert. Die juristische und politische Dynamik scheint den Akteuren außer Kontrolle zu geraten. Etwa gegen 70% aller Kongressabgeordneten und Senatoren und gegen den amtierenden Interimspräsidenten und die meisten seiner Minister liegen schwere Anschuldigungen vor und in vielen Fällen ist auch bereits offiziell Anklage erhoben worden.

Auch gegen Lula sind bereits fünf Strafverfahren im Gange, er könnte jederzeit verhaftet werden und ihm drohen Gefängnis in der Größenordnung von 10 Jahren. Ob es der immer mehr in Panik geratenden Elite noch gelingt den Deckel der Pandorabüchse zu schließen, ist im Moment noch nicht absehbar. Die Situation in Brasilien ähnelt ein wenig derjenigen in Italien der Anti-Korruptions Kampagne „mani puliti“ zwischen 1992-94. Obwohl damals nahezu kein einziger bürgerlicher oder sozialdemokratischer Politiker mehr übrigblieb, der nicht bis zum Hals im Korruptionssumpf steckte, gelang es den herrschenden Eliten einen Berlusconi aus der Tasche zu zaubern und einen erfolgreichen rechten „Ausweg“ zu finden. Auch Lula und die PT sind noch nicht erledigt und mit der gegenwärtigen ultra-neoliberalen Offensive könnte ihr Gewicht bis zu den Präsidentenwahlen im Oktober 2018 wieder wachsen, mangels einer echten linken Wahlalternative auf Massenebene. Und genau diese Variante einer erneuten Stabilisierung der PT und Lulas wäre für die Kräfte links von der PT die ungünstigste.

Die PSOL entstand faktisch im Jahre 2003 als die PT endgültig ins neoliberale Fahrwasser geriet, als Partei des moralischen Protestes gegen den Verrat der PT. In ihrer dreizehnjährigen Existenz hat sie sich aber nicht in den Streiks und Kämpfen aufgebaut wie die alte PT, sondern praktisch nur in Wahlprozessen. Sie hat zurzeit eine Wählerschaft von 2-3 Millionen von insgesamt 143 Millionen Wahlberechtigten. Die zirka 15 mehr oder weniger nationalen und die zahllosen lokalen linkssozialistischen Tendenzen in ihrem Inneren erreichen zusammen etwa 35-40%, d. h. die klar reformistisch orientierte, aber noch nicht korrumpierte links bis auch rechts sozialdemokratische Mehrheit bestimmt den politischen Kurs. Was das in der Praxis bedeutet, zeigte sich u.a. bei den Gemeindewahlen im Oktober 2016, wo die PSOL in 589 Gemeinden (von 5570 Gemeinden im ganzen Land) teilnahm. In 214 Gemeinden gingen regionale PSOL-Sektionen Wahllistenverbindungen mit bürgerlichen und sogar rechtsbürgerlichen Parteien, u.a. der alten Partei der Militärdiktatur, ein und die nationale Leitung verurteilte zwar verbal vor allem Letzteres, ließ aber die meisten Listenverbindungen mit bürgerlichen Parteien am Ende durchgehen. Auch die gesamte Parteistruktur hat die gleichen schwammigen und problematischen Strukturmerkmale wie diejenigen der alten PT in den 80er Jahren.  Überhaupt wird man bei der PSOL, inklusive den linken Tendenzen, den Eindruck nicht los, dass sie aus der Geschichte der PT nicht sehr viel gelernt haben und in manchen Bereichen ähnliche Fehler sich wiederholen.

Die MAIS (Movimento por uma Alternativa Independente e Socialista/Bewegung für eine unabhängige und sozialistische Alternative) ist eine große Abspaltung mit rund tausend Aktiven aus der morenistischen PSTU. Die Abspaltung ergab sich in allererster Linie aufgrund des rigiden und sektiererischen inneren Parteiregimes, das die notwendigen lebendigen Diskussionsprozesse im erstickenden Würgegriff hielt. Dem MAIS fällt nun eine zentrale Rolle im Neuformierungs-Prozess der radikalen Linken links von der PT zu. Sie hat innerhalb von sechs Monaten ihrer Existenz bereits die beste linke Online-Tageszeitung (www.esquerdaonline.com.br) aufgebaut, die sehr weit über die Mitgliedschaft hinaus immer mehr gelesen wird. Zurzeit wird im MAIS diskutiert in welches politische und organisatorische Verhältnis man zur PSOL treten möchte und wie und in welchem Tonfall man der PT Basis gegenübertritt. Im Zentrum stehen die bedingungslose Aktionseinheit aller Strömungen gegen die ultra-neoliberalen Gegenreformen der Regierung, ohne die erbarmungslose Bilanz des Regierungsdesasters der PT hintenanzustellen, eine Kombination, die äusserst komplexe taktische Fragen aufwirft.

  1. Januar 2017

* Der Autor, Tino Plancherel, war von 1984-1993 Mitglied der PT in São Paulo. In den Jahren 1988-89 als die PT die Stadtregierung in São Paulo eroberte, war er Mitglied der Parteileitung.

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