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Das Hochspannungsnetz der Ukraine und seine Bedeutung für den Krieg

Eingereicht on 10. September 2023 – 10:24

Dominik A. Dahl. Stromnetze spielen eine wichtige strategische und machtpolitische Rolle. Das Netz der Ukraine ist für die EU und für Russland von Bedeutung. Warum Moskau es angreift.

In der Geostrategie sind Erdöl und Erdgas seit rund 140 Jahren wichtige Faktoren. Im Gegensatz dazu galt Elektrizität eher als lokale volkswirtschaftliche Grundlage und als lukratives Investitionsobjekt. Mit der Osterweiterung von NATO und EU wuchs die strategische Bedeutung der international verbundenen Hochspannungsnetze in Europa und Asien. Mittlerweile werden Hochspannungsnetze als eigenständige Faktoren in der Geostrategie und der Machtpolitik behandelt.

In dieser Hinsicht war es nicht unbedeutend, als der ukrainische Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo am Morgen des 24. Februar 2022 die Ukraine vom russischen und zentralasiatischen Verbundnetz (IPS/UPS) trennte. Der Schritt war zuvor angekündigt worden; er sollte eine vorbereitende Maßnahme sein, um das heimische Netz dauerhaft an den Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) anschließen zu können. Gemeinsam mit dem Nachbarn Moldau wollte man diesen Weg beschreiten und sich aus dem russischen Einflussbereich lösen.

Wenige Stunden nach der Trennung marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Offensichtlich hatte Moskau die Invasion auf ukrainisches Staatsgebiet als direkte Antwort auf die Trennung vorbereitet.

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Weitere Schritte nach Beginn der Militäroperationen

Drei Tage befand sich das ukrainische Netz im Inselbetrieb, war also bislang nicht an das europäische angeschlossen und immer noch vom russischen getrennt. Am 27. Februar beantragte Ukrenergo dann die Notsynchronisation mit dem kontinentaleuropäischen Verbundsystem UCTE. Der moldauische Übertragungsnetzbetreiber folgte einen Tag später. Am Tag darauf erklärte der ENTSO-E, man arbeite an der Synchronisation.

Am 16. März war die technische Synchronisierung beider Länder mit dem europäischen Netz in Rekordzeit abgeschlossen. Am 26. April wurde Ukrenergo mit Beobachterstatus im ENTSO-E aufgenommen.

Zügige Integration der Ukraine in den europäischen Strommarkt

Über bereits bestehende Interkonnektoren konnte innerhalb kurzer Zeit ein Energiehandel zwischen EU und Ukraine realisiert werden. Im gemeinsamen europäischen Strommarkt wurde erstmals am 30. Juni 2022 eine 100 Megawatt (MW) Übertragungskapazität angeboten über die Verbindungsstelle zwischen der Ukraine und Rumänien. Die handelbaren Übertragungskapazitäten wurden seitdem mit Einbeziehung der Interkonnektoren Ukraine–Slowakei, Ukraine–Ungarn und Moldau–Rumänien schrittweise erhöht.

Der seit einigen Jahren unter dem Namen Energomost projektierte Interkonnektor zwischen Rzeszów und Chmelnyzkyj wurde auf der 400-Kilovolt-Spannungsebene neu aufgebaut und am 27. April 2023 wieder in Betrieb genommen, obwohl dieser ursprünglich von der polnischen Regierung nicht erwünscht war.

Derzeit läuft der Stromhandel mit Kapazitäten von 1200 MW Import in das Stromnetz der Ukraine und von Moldau. Die Exportkapazität beträgt 400 MW. Für den grenzüberschreitenden Stromhandel sind diese Werte relativ gering im Vergleich zu den Austauschkapazitäten zwischen den Marktgebieten der UCTE-Kernregion und viel geringer als die Erzeugungskapazität der Ukraine.

Die zügige Umsetzung der Synchronisation und der Marktintegration kann insbesondere verstanden werden als Demonstration der großen Fähigkeiten und des guten Willens der Akteure der europäischen Strommärkte.

Die langjährige Vorgeschichte

Die sogenannte Notsynchronisation war ein Schritt zur geplanten Einbindung der Ukraine in den gemeinsamen europäischen Strommarkt. Wie der Westen und die Ukraine dabei vorgingen, wurde bereits vor dem Krieg im Jahr 2021 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Studie dargelegt. Die Stiftung steht dem Bundeskanzleramt nahe.

Aus dieser Studie stammen die Zitate der folgenden Stichpunkte:

  • 2005 unterzeichneten die EU und die Ukraine ein Memorandum of Understanding über „eine vollständige Integration der Energiemärkte der EU und Ukraine“, das „2016 erneut bestätigt wurde“.
  • „Im Juni 2017 unterzeichneten die Netzbetreiber der Ukraine (Ukrenergo) und Moldaus (Moldelectrica) mit dem Verband der europäischen Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) eine […] Vereinbarung über die künftige Stromanbindung.“ Darauf basierend gab Ukrenergo den Plan bekannt, im Winter 2021/22 von IPS/UPS zu entkoppeln und im Jahresverlauf 2023 mit UCTE zu synchronisieren.
  • „Die USA und die Ukraine haben die Integration der Ukraine ins europäische Netz in ihrer Charta über strategische Partnerschaft erwähnt.“
  • „Als Kompensation für die Zurückhaltung der USA, Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhängen, hat sich Deutschland gegenüber Washington bereit erklärt, die Ukraine zu unterstützen.“
  • „Die Strom- und Wärmeproduktion des Landes ist von russischen Nuklearbrennstäben ebenso abhängig wie von regelmäßigen Kohle- und Gaslieferungen aus Russland.“

Auf der sicherheitspolitischen Ebene war allen beteiligten Seiten die von Boris Jelzin angekündigte sogenannte rote Linie bekannt. „Moskau hat […] deutlich signalisiert, dass Bemühungen um eine stärkere Integration mit Europa russische Gegenmaßnahmen zur Folge haben können“. Offensichtlich war der Schwenk des ukrainisch-moldauischen Hochspannungsnetzes weg von IPS/UPS hin zu UCTE ein Schritt über die rote Linie.

Ukrenergo war insolvent

Im Laufe der Neuaufstellung des ukrainischen Energiesektors nach westlichem Vorbild war nach mehreren Entscheidungen durch die Verkhovna Rada beziehungsweise durch das Ministerkabinett ein Mechanismus entstanden, der große Zahlungsströme aus der staatlichen Elektrizitätswirtschaft in private Hände leitete. Durch diesen Mechanismus war Ukrenergo in eine existenzgefährdende betriebswirtschaftliche Schieflage geraten, wie aus dem Geschäftsbericht hervorgeht.

Ukrenergo ist eine Aktiengesellschaft in Staatseigentum. Das Unternehmen ist gemäß dem Prinzip des sogenannten Independent Service Provider aufgestellt, das bedeutet:

  • Das Energieministerium beauftragt Ukrenergo, das Hochspannungsnetz zu warten, den Systembetrieb operativ durchzuführen und die Systembilanz zu wahren.
  • Zur Deckung der Betriebsaufwände zieht Ukrenergo Netznutzungsgebühren von den Marktteilnehmern ein. Die Gebühren werden durch das Energieministerium festgelegt.
  • Das Hochspannungsnetz ist Staatseigentum unter Verwaltung des Energieministeriums.

Im Regulierungsrahmen des Stromsektors galten ab 2019 folgende Regeln:

  • Der Verbraucherpreis für Strom wird als nationaler Einheitspreis durch das Energieministerium festgelegt.
  • Zur Förderung von Windkraft und Photovoltaik ist dem Erzeuger eine Einspeisevergütung garantiert. Diese gehört zu den höchsten in Europa; sie ist jedenfalls höher als der Verbraucherpreis. Die Einspeisevergütung ist an den Euro gekoppelt.
  • Gemäß dem Prinzip des sogenannten Single Buyers beauftragt der Staat ein Unternehmen, die gesamte Erzeugung aus Windkraft und Photovoltaik von den privatwirtschaftlichen Erzeugern zum Preis in Höhe der Einspeisevergütung aufzukaufen und am Strommarkt wiederum zu verkaufen.
  • Der Single Buyer wurde ebenfalls verpflichtet, Kompensation an privatwirtschaftliche Energieversorgungsunternehmen zu zahlen, wenn deren Beschaffungspreise am Strommarkt höher sind als der Verbraucherpreis.

Der Single Buyer ist also in jedem Fall zu Minusgeschäften gezwungen. Falls er am Markt zu Preisen in Höhe der Einspeisevergütung erfolgreich anbietet, ist der resultierende Marktpreis viel höher als der Verbraucherpreis. Dann muss er Kompensationszahlungen an die Energieversorger leisten. Andernfalls bietet der Single Buyer am Markt zum Verbraucherpreis an, also unterhalb seines Beschaffungspreises. Die Rolle des Single Buyer oblag zunächst der ukrainischen Strombörse und wurde nach einigen Jahren auf ein anderes Staatsunternehmen übertragen.

Ab dem Jahr 2019 war Ukrenergo verpflichtet, unverkäufliche Energiemengen des Single Buyer zum Preis in Höhe der Einspeisevergütung zu übernehmen. Die Deckungslücke in Ukrenergos Zahlungsbilanz für Wind und Photovoltaik war umgerechnet größer als 750 Millionen Euro im Jahr 2020 und 2021 größer als 210 Millionen Euro. Solche Fehlbeträge sind untragbar für ein Unternehmen, das gewissermaßen keine Vermögenswerte hat. Ukrenergo war in den Jahren 2020 und 2021 zahlungsunfähig. Die Summe der Verbindlichkeiten wuchs Jahr für Jahr weiter an.

Angesichts dieser Lage führte die ukrainische Regierung zahlreiche Maßnahmen durch.

  • Die Einspeisevergütung wurde verringert und der Verbraucherpreise wurde erhöht.
  • Die Deckungslücke des Single Buyer wurde verringert durch regelmäßige Zahlungen aus Erträgen der staatlichen Energieunternehmen Energoatom und Ukrhydroenergo.
  • Der Staat bürgte gegenüber ukrainischen Banken in Krediten für Ukrenergo im Volumen von umgerechnet etwa 300 Millionen Euro.
  • Im November 2021 begab Ukrenergo unter Staatsbürgschaft eine zu 6,875 Prozent verzinste Anleihe über 825 Millionen US-Dollar an der britischen Börse, London Stock Exchange.

Durch diese Maßnahmen wurde erreicht, dass Ukrenergo zum Jahresende 2021 alle Forderungen fristgemäß bedienen konnte. Das große Leck in der Zahlungsbilanz war geflickt; die Schulden nahmen nicht weiter zu. Allerdings war klar, dass Ukrenergo unter den Anfang 2022 gegebenen Umständen die Kredite und die Anleihe niemals tilgen konnte.

Im Sommer 2022, also nach der Synchronisation mit UCTE, wurden die Ertragsmöglichkeiten für Ukrenergo durch Verdoppelung beziehungsweise Versechsfachung der Netznutzungsgebühren so angepasst, dass das Unternehmen die Kredite und die Anleihe voraussichtlich bedienen können wird.

Lagebild im ukrainischen Hochspannungsnetz

In der SWP-Studie heißt es:

Mitte November 2021 zeichnet sich eine besonders prekäre Situation ab: Knappe Kohle- und Gasspeicherstände könnten es Russland ermöglichen, die Energieversorgungssicherheit der Ukraine auf eine ernste Probe zu stellen, indem es nur geringe Mengen Gas liefert. Das hat in der Ukraine bereits zu Diskussionen über eine Wiederaufnahme von Stromimporten aus Belarus geführt.

Seitdem hat sich die Lage wesentlich verschlechtert. Beispielsweise sind seit der Beschädigung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 Kraftwerke im Südosten bis auf Weiteres nicht mehr betriebsfähig. Im Jahr 2021 leisteten sie in Summe knapp 30 Prozent der ukrainischen Erzeugung.

Zu den Kraftwerken gehören: Das Kernkraftwerk Saporischschja (etwa 5700 MW), das mit Gas und Kohle befeuerte Heizkraftwerk Saporischschja (etwa 3600 MW) und das Laufwasserkraftwerk Kachowka (etwa 330 MW).

Die Ukraine steht in der Herausforderung, den elektrischen Energiebedarf landesweit überhaupt zu decken. Dazu kommt die neue Aufgabe, Leistungsflüsse über weite Distanzen in die südöstliche Region zu übertragen, wozu ein landesweit funktionierendes Hochspannungsnetz notwendig ist.

Das Hochspannungsnetz als Grundlage für Kriegführung in der Ukraine

Die Kontrolle über ein funktionierendes Hochspannungsnetz ist ebenfalls notwendig, um in einem großen Flächenland wie der Ukraine weiträumige Kriegskampagnen führen zu können und zugleich das zivile und wirtschaftliche Leben einigermaßen aufrechtzuerhalten. Via Hochspannungsnetz können umkämpfte Gebiete aus weiter Ferne mit Energie versorgt werden. Ohne Hochspannungsnetz müsste eine Notstromversorgung in umkämpften Gebieten entweder vorrangig den militärischen oder den zivilen Verbrauch decken; beides zugleich würde die Notstrom- und Kraftstofflogistik überfordern. Diese Notwendigkeit gilt für alle Konfliktparteien gleichermaßen.

Durch die synchrone Kopplung des ukrainischen Hochspannungsnetzes an UCTE wurde eine wichtige Voraussetzung für die längerfristige Kriegführung der NATO-Verbündeten in der Ukraine erfüllt. Daraus wiederum resultierte eine konkrete Zunahme der militärischen Bedrohung für Russland.

Die zuverlässige Verfügbarkeit des Hochspannungsnetzes ist jedoch fragil. Die Freileitungen des Hochspannungsnetzes (220 bis 750 kV) unter Betrieb von Ukrenergo erstrecken sich über 19.000 Kilometer und sind in 103 Schaltanlagen verbunden. Der physische Schutz dieser Installationen erfordert eine landesweite Abdeckung der Lufthoheit und eine zuverlässige Abwehr von Infiltration, wozu die NATO-Verbündeten in der Ukraine bisher jeweils nicht in der Lage waren.

In der umkämpften Region spielen Laufwasserkraftwerke, die noch einsetzbar sind, eine entscheidende Rolle. Solche Kraftwerke ermöglichen die weiträumige Energieübertragung, weil sie die lokale Spannung im Hochspannungsnetz steuerbar stabilisieren. Ferner kann mit einem solchen Kraftwerk das Hochspannungsnetz nach einer Sicherheitsabschaltung wieder auf stabile Betriebsspannung gebracht werden, damit anschließend mit weiteren Erzeugungsanlagen die Versorgung wiederhergestellt werden kann. Anlagen mit solchen Fähigkeiten sind unersetzlich und unbedingt zu schützen. Beispielsweise liegt das Laufwasserkraftwerk Saporischschja (etwa 1550 MW) in einem Brennpunkt der Kriegführung.

Lage und Handlungsmöglichkeiten der Konfliktparteien

EU-Europa, allen voran deutsche Politiker, haben immer wieder die bedingungslose und unbegrenzte Unterstützung der Ukraine verkündet. Unter Berücksichtigung der im vorliegenden Artikel genannten Gesichtspunkte ist es dringend notwendig, dass EU-Europa die externen Versorgungsbedarfe der Ukraine quantifiziert. Weiterhin ist der klugen Diplomatie dringend geboten, Rahmenbedingungen zu formulieren und die externe Unterstützung zu begrenzen, weil erst dann eine systematische operative Planung der kommenden Monate möglich wird.

Die USA agierten bisher sehr schlau und konnten mit guten Deals für sich eine derzeit komfortable Lage erreichen. Die USA boten der Ukraine eine Energiesicherheit, die tatsächlich von EU-Europa bereitgestellt wird. Die USA boten Deutschland das Ende der Blockade gegen die Nordstream-Pipelines, jedoch ist die Leistungserbringung mit der Sprengung der Gasleitungen mittlerweile entfallen.

Internationale Finanzakteure realisierten bereits Gewinne aus Preissteigerungen der Energy-Commodity-Märkte, auf denen sie in großem Umfang in Futures und in Lieferanten investiert waren beziehungsweise sind. Diese Akteure haben Interesse daran, in der Ukraine eine Regierung zu stabilisieren, welche die von Ukrenergo aufgenommene Anleihe bei Fälligkeit im Jahr 2026 bedienen wird.

Im weiteren Verlauf wäre es lukrativ, die Ukraine zu einem Paradies für institutionelle Investoren zu entwickeln. Der (Wieder-)Aufbau der bis dato staatlichen Netzinfrastruktur der Ukraine wird Investitionen in Milliardenumfang erfordern. Die Zinsen dafür sind relativ hoch, und das Ausfallrisiko ist wegen Staatsbürgschaften relativ gering.

Russland hat einen wirkmächtigen Hebel in der Hand, da sie vermutlich jederzeit in der Lage sind, Aufwand, Kosten und Kollateralschäden der Kriegführung in der Ukraine zu erhöhen, indem die Funktion des ukrainischen Hochspannungsnetzes gezielt unterbrochen wird. Dann wären die Nato-Verbündeten gezwungen, die Daseinsfürsorge gegenüber der Bevölkerung der Ukraine aufzugeben, um dort weiter Krieg führen zu können.

Angesichts dieser abschreckenden Eskalationspotentiale muss jedermann klar sein: Nominelle Streitkräfte der NATO-Verbündeten dürfen im Ukrainekrieg keinesfalls die russische Souveränität ernsthaft bedrohen. Welchen Sinn hat also die offensive Kriegführung der Nato-Verbündeten im Ukrainekrieg, wenn ihre Truppen dort keine substanziellen, offensiven Erfolge erzielen dürfen?

„The billions shift from side to side

and the wars go on with brainwashed pride

[Guns ’n‘ Roses, Civil War]“

Quelle: telepolis.de… vom 10. September 2023

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