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Der fünfte Präsident Perus in 5 Jahren: Ein politisches System wankt

Eingereicht on 23. November 2020 – 17:42

„… Der Sturz von Martín Vizcarra ist Teil einer langen und tiefen politischen Krise. Einer Krise, in Zuge derer 1993 der damalige Präsident Alberto Fujimori den peruanischen Kongress sowie dessen Justiz auflöste und die volle legislative und gerichtliche Macht übernahm. Seit 2016 im Zuge eines gewaltigen öffentlichen Korruptionsskandals die Verbindungen zwischen dem Baukonzern Odebrecht und Politiker:innen und Staatsbeamt:innen öffentlich gemacht wurden, sind viele der ehemaligen Präsidenten Perus ins Gefängnis gekommen. Einer beging sogar Selbstmord, um seiner Verurteilung zu entgehen.

 

Und während dies in den oberen Ebenen des Staates geschieht, verlieren täglich Tausende von Arbeiter:innen ihre Arbeit, und ihre Arbeitsrechte werden beschnitten; ihre Arbeitszeit wird verlängert, und ihre Löhne werden gekürzt. Dies ist ein Ergebnis der Anpassungsmaßnahmen von Vizcarra, die mit Hilfe des Nationalen Verbandes der privaten Wirtschaftsinstitutionen (CONFIEP) durchgeführt wurden, wobei das Narrativ einer nötigen wirtschaftlichen Erholung genutzt wurde, um den Kampf gegen die Pandemie zu untergraben. (…) Doch das Kernproblem in Peru sind nicht die Regierungswechsel. Stattdessen ist es das Regime der kapitalistischen Herrschaft selbst, das uns von der Bourgeoisie aufgezwungen wurde, und dem wir ein Ende setzen müssen...“ – aus dem Artikel „5 Präsidenten in 5 Jahren: Über die Situation in Peru“ am 17. November 2020 bei Klasse gegen Klasse zu dem festzuhalten ist, dass die Systemfrage, wie sie am Ende aufgeworfen ist, keine rituelle Übung ist, sondern in der Tat aktuell eine Frage, die sich sehr viele Menschen in Peru so stellen – und sie wenn auch unterschiedlich, so doch in der Ablehnung des Bestehenden gemeinsam beantworten. Zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nach dem abermaligen Personenwechsel im Präsidentenamt einige aktuelle und Hintergrundbeiträge, inklusive der Aufrufe der wichtigsten Gewerkschaften für eine verfassungsgebende Versammlung – und der Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Systemkrise in Peru:

„Staatsstreich durch den Congreso“ von Knut Henkel am 19. November 2020 in der jungle world (Ausgabe 47/2020) mag über die Popularität des Expräsidenten Vizcarra Positionen vertreten, die zu diskutieren wären, macht aber in Bezug auf die politische Strömung, aus der der schnell zurück getreten wordene Interimspräsident Merino kommt klare Aussagegen: „… Merino ist Mitglied der konservativen Acción Popular. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Vetternwirtschaft; er hat seine Mutter und zwei Brüder mit lukrativen staatlichen Aufträgen versorgt. Seit März ist Merino Parlamentspräsident, er verfügt über exzellente Kontakte ins Fujimori-Lager. Alberto Fujimori regierte Peru von 1990 bis 2000 als Diktator, seine Tochter Keiko Fujimori ist Vorsitzende der wichtigen Partei Fuerza Popular. Monatelang wirkte Merino darauf hin, Vizcarra zu Fall zu bringen und eine konservative Regierung zu installieren. Früh hatte er sich um die Unterstützung der Armee bemüht und innerhalb des Parlaments an einer Mehrheit gegen Vizcarra gearbeitet. Am 18. September war ein erstes Amtsenthebungsverfahren gegen Vizcarra gescheitert, am 9. November hatte Merino Erfolg. Dabei nutzte er das parlamentarische Procedere, um sich selbst an die Spitze des Landes zu setzen, ein Recht, das Merino als Parlamentspräsident zufiel. Mit Vizcarras Absetzung stieg er verfassungsgemäß zum Interimspräsidenten auf. Für die fragile Demokratie in Peru ein neuerlicher Rückschlag, wie der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa kritisierte. »Der Kongress hat die Verfassung beschädigt«, sagte der Schriftsteller der Tageszeitung La República. »Ein Präsident kann beschuldigt werden, aber gegen ihn kann erst am Ende seines Mandats ermittelt werden.« Vizcarra wird beschuldigt, während seiner Amtszeit als Gouverneur der Region Moquegua öffentliche Gelder veruntreut zu haben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft stehen noch ganz am Anfang, konkrete Beweise liegen nicht vor. Vizcarra hat mehrfach versichert, dass es auch keine geben werde. Doch das hat die große Mehrheit der Parlamentarier, darunter auch einige der linken Partei Frente Amplio, nicht gehindert, gegen ihn zu stimmen…“

„Weiter Proteste gegen Übergangsregierung“ von Renzo Anselmo am 14. November 2020 beim NPLA hatte bereits zu den Schichten, die die aktuellen Proteste vor allem tragen, unterstrichen: „… An der landesweiten Demonstration in der Hauptstadt Lima nahmen vor allem junge Leute aus Lima und verschiedenen peruanischen Provinzen teil, die unter dem Motto protestierten: „Sie haben sich mit der falschen Generation angelegt.“ Obwohl der Protestmarsch friedlich begann, ging die Polizei mit Knüppeln, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstrierenden vor. Offiziellen Angaben zufolge wurden bisher elf Verletzte registriert; eine Person wird demnach vermisst. Einer der Schwerverletzten ist der 26-Jährige Percy Pérez Shapiana. Er erlitt einen Pistolenschuss in den Unterleib. Sein Zustand ist kritisch. Der 12. November war bereits der dritte Tag der Proteste nach der Amtsenthebung des Präsidenten Martín Vizcarra am 9. November. Um 17 Uhr füllte sich die Plaza San Martín und die angrenzenden Straßen im Zentrum von Lima mit Menschen, die Banner in den weiß-roten Nationalfarben und Plakate trugen, auf denen „Merino raus“ und „Merino ist nicht mein Präsident“ stand. In den Straßen der historischen Altstadt, die von Gittern und einem großen Polizeiaufgebot abgesperrt waren, hallten Parolen wider, die sich auch gegen die Kongressabgeordneten richteten, die die neue Regierung von Manuel Merino an die Macht gebracht haben. Die Männer und Frauen stellten im Verlauf der Demonstration klar, dass sie nicht für Vizcarra demonstrierten, sondern „zur Verteidigung der Demokratie“, die sie in Gefahr sahen. Proteste gab es auch in anderen Teilen Limas, wie in Surco, Los Olivos, San Miguel, Magdalena und San Borja, berichtete die Tageszeitung La República. Auch in anderen Regionen des Landes gingen Tausende auf die Straßen, um den Rücktritt von Manuel Merino zu fordern. In Arequipa marschierten die Demonstrant*innen bis auf die zentrale Plaza de Armas. Unter ihnen befanden sich Studierende, feministische Kollektive und LGBTI-Personen. Weitere Demonstrationen und Kundgebungen fanden im Süden in Apurímac, Puno, Pasco und Tacna statt; in der nördlichen Provinz Ancash in Huaraz, Nuevo Chimbote und Casma, sowie in Lambayeque, La Libertad, Trujillo, Piura und Tumbes; außerdem in Iquitos in der Amazonasprovinz Loreto, sowie in Madre de Dios und San Martín…“

„JORNADA NACIONAL DE PROTESTA 18 Y 24 DE NOVIEMBRE 2020“ am 13. November 2020 beim Gewerkschaftsbund CGTP war der Aufruf des größten Verbandes Perus zu den Aktionstagen „gegen das System und für eine verfassungsgebende Versammlung“ – deren zweiter, nach dem abermaligen Personenwechsel des Systems von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Auseinandersetzung in Peru sein wird.

„LA LUCHA CONTINÚA HASTA UNA ASAMBLEA CONSTITUYENTE“ am 17. November 2020 bei der Gewerkschaftsföderation der Berg- und Metallarbeiter FNTMMSP (Facebook) ist ebenfalls der Aufruf der wichtigsten Einzelgewerkschaft zu diesen Aktionstagen für eine verfassungsgebende Versammlung und ein Ende des „Systems Fujimori“ mit dessen Verfassung von 1993.

„La calle contra los palacios“ am 18. November 2020 bei Resumen Latinoamericano ist eine Zusammenfassung der sozialen und politischen Ursachen für die aktuelle politische Situation, in der ganz offensichtlich kein erneuter Personenwechsel samt Vertröstung auf Wahlen im Frühjahr 2021 noch einen Ausweg für das Regime darstellt. Darin werden insbesondere die Gründe der Jungen in Peru unterstrichen für ihre besonders massive Beteiligung an den Protesten gegen die sogenannten Interimsregierung – und auf das Potenzial verwiesen, das darin liegen könnte, diese Bewegung und die zunächst ebenfalls überraschten Gewerkschaften zusammen zu führen.

„Peruvians Reject Politics as Usual“ am 20. November 2020 beim NACLA fasst die Situation angesichts des neuerlichen Präsidentenwechsels zusammen – Francisco Sagasti, so alt wie etwa Joe Biden, als Ingenieur, der noch nie ein öffentliches Amt innehatte, soll eben beruhigend auf die Grundforderung wirken, sie müssten alle gehen – und gibt einen Überblick über die Positionierungen der verschiedenen traditionellen (auch linken) Parteien Perus im Angesicht der aktuellen Krise und der für das Frühjahr 2021 angekündigten Parlamentswahlen. Einige der linken Formationen und Strömungen hatten den gestürzten Vizcarra insofern unterstützt, als sie in dessen Kampagne gegen die Korruption ein positives Moment sahen – ohne weiter seine reaktionäre Sozial- und Arbeitspolitik „zu beachten“. Was das für ihre Aussichten bei möglichen Parlamentswahlen bedeuten kann, wird sich noch erweisen müssen…

Quelle: labournet.de… vom 23. November 2020

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