Verrat an der Linken ebnete Meloni den Weg – Interview mit Christian de Vito
Manfred Ecker. Die radikalen europäischen Linksparteien haben in den vergangenen Jahren die Hoffnungen von Millionen Menschen inspiriert und wieder enttäuscht. Ein wirkliches Lehrstück ist dabei die Geschichte der italienischen Kommunisten, deren Versagen mit dem Machtantritt der Faschisten bestraft worden ist.
Linkswende: Gerade noch waren die Kommunisten die dynamischste Partei Italiens mit fast 100.000 Mitgliedern, 18 Jahre später sind sie von der Bildfläche verschwunden und die Faschisten sind an der Macht. Du warst acht Jahre lang Mitglied der Rifondazione Comunista und kannst uns sicher spannendes berichten. Gestern wurden die Ergebnisse der EU-Wahlen bekannt gegeben, das Ergebnis ist erschreckend. Melonis Fratelli d’Italia haben in Italien die Wahl mit 28,8 Prozent der Stimmen gewonnen, in Österreich die FPÖ mit 25,3 Prozent. Und ich denke, man muss die Verantwortung für den Erfolg der Faschisten auch beim Versagen der Linken suchen.
Christian De Vito: Ja genau, Ja genau, wir können ja die Faschisten schlecht dafür anklagen, dass sie die Chancen nutzen, die andere ihnen geben. Rifondazione hatte bei Millionen Hoffnungen auf einen positiveren Verlauf der Geschichte geweckt. Aber zuerst zurück in der Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kommunistische Partei Italiens (PCI) eine Massenpartei mit zwei Million Mitgliedern. Sie war bis 1947 in der Regierung und wurde dann, wie auch die französische Partei, aus der Regierung geworfen. Es war die Periode des Kalten Kriegs. Bis in die 90er-Jahre nahm sie an keiner Regierung mehr teil. Das heißt nicht, dass sie sich nicht an einer Klassen-übergreifenden Kollaboration beteiligte. Sie trat in zahlreiche regionale Regierungen ein. In Turin, der großen Industriestadt, stellte sie sogar den Bürgermeister, auch in Genua und Rom. Die Partei war also wírklich groß und wie man von Togliatti und seiner Partei sagte, sie hatte zwei Gesichter: sie predigte Revolution und praktizierte Reformismus. In den 1950er-Jahren war die Partei schon auf einem Kurs einer radikalen Transition zu einem reineren Kapitalismus. Das heißt, die PCI beteiligte sich am Kampf um Landreformen und für die Beseitigung der verbliebenen feudalen Strukturen. Togliatti war nie ein Revolutionär, aber sein Diskurs war revolutionär, er war ein echter Stalinist.
LW: gab es unabhängige Aktion der Arbeiter_innen?
CdV: Nicht vonseiten der PCI oder ihrer Mitglieder ausgehend, aber es gab kleinere Gruppen, wie Bandiera Rossa oder Stella Rossa in Neapel, Rom und im Norden, aber sie waren nie groß genug und die meisten ihrer Leute traten mit der Zeit der PCI bei. Darunter gab es trotzkistische und bordigistische Gruppen. Und natürlich gab es viele Partisanen, die sich weigerten ihre Waffen abzugeben und solche die ihre Waffen versteckten und berühmterweise die GAP, die Stadtguerilla, die ab Ende 1943 in den Städten gegen die Deutschen gekämpft haben. Nach dem beinahe tödlichen Attentat auf Togliatti 1948, kam es zu mehreren Erhebungen, wo dann auch die Waffen der Partisanen mitgeführt wurden. Man sieht also recht deutlich, die Partei war in der Hand von Leuten, die zu allen Kompromissen bereit waren und das rhetorisch kaschierten, aber in der Basis gab es viele echte Revolutionäre. Die PCI war damals eine sehr präsente Massenpartei, die sich mehr oder weniger spiegelbildlich zur Katholischen Kirche organisiert hat. Wo die Kirche ihre Höfe und Sportplätze hatte, errichteten die Kommunisten ihre Case del Popolo und Einrichtungen für ihre Jugend. Sie versuchten offensichtlich nach Gramsci, gegnerisches Terrain zu erobern und unabhängige Arbeiterklassenkultur am Leben zu erhalten.
LW: Das erinnert sehr an Don Camillo und Peppone.
CDV: Genau, in den Filmen sieht man sehr schön dieses Spiegelbild: der rote Priester und der schwarze Priester. Und beim roten Priester herrschen ebenfalls sehr strenge hierarchische Verhältnisse, mit einer Frau, die zuhause bleibt und Kindern, die dem Vater folgen müssen. In der Emilia Romana heirateten die Kommunisten manchmal nicht in der Kirche, sondern vor einem Bild von Stalin. Es gibt diesen Scherz unter den linken Kommunisten, dass es zwei Kirchen gab.
LW: Bis 1968 verläuft die Geschichte also eher langweilig, aber mit 1968 ändert sich vieles, stimmt das so?
CDV: In Italien war 1969 das Jahr der Arbeiter. Wir erlebten den „Heißen Herbst“ und mehr noch als in anderen Ländern kooperierten Studierende und Arbeiter:innen. Sie formten sogar neue Organisationen, manche waren links der PCI, manche mehr bewegungsorientiert, aber die Grundidee war immer, die Vorhut der Studierendenproteste und die Vorhut der Arbeiter:innen zusammenzubringen und eine revolutionäre Organisation aufzubauen. Das war die Idee hinter Lotta continua, hinter Avanguardia operaia und anderen Gruppen, nicht nur Reformen an der Universität oder andere kleine Reformen, man wollte die ganze kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische umwandeln. Die Bewegung hielt bis Ende der Siebzigerjahre und brach nach der Niederlage der Fiat-Arbeiter 1980 in Turin in sich zusammen. Die 80erjahre waren dann die langen Jahre des Niedergangs, nicht nur für die PCI, sondern für die gesamte Linke. Und schließlich löste sich die Partei 1991 nach dem Fall der Berliner Mauer selbst auf. Die Mehrheit der Mitglieder ging in die neue gegründete Partei der demokratischen Linken (PDS), eine radikale Minderheit tat sich mit den Überbleibseln der radikalen Linken aus den 70ern zusammen und gründete die Partito della Rifondazione Comunista (PRC).
LW: 1968 war auch das Jahr des Prager Aufstands, der für viele kommunistischen Parteien der Welt große Probleme bedeutete. Auf welcher Seite der Barrikaden steht man als Kommunist, auf der Seite der Panzer oder auf der Seite der aufständischen Arbeiter_innen? Die Parteien stellten sich oft auf der anderen Seite auf als ihre Basis.
Genau, die italienische PCI hat allerdings schon in den Jahren vor 1968 begonnen sich von Moskau zu distanzieren und war deshalb 1968 in der Lage sich auf die Seite der Aufständischen zu stellen. Sonst hätte sie sich massiv von den Protesten entfremdet und hätte nicht mit der Bewegung der Siebzigerjahre wachsen können.
LW: Am besten wir lassen die deprimierenden 80er-Jahre aus und springen zu 1991 und der Periode danach.
Wie gesagt hat sich die Rifondazione 1991 gegründet und hat einige radikale Organisationen inkorporieren können. Meine Organisation, die trotzkistische Comunismo dal Basso ist nicht beigetreten, solange Rifondazione noch die Anbindung an die regierenden Parteien gesucht hat und ihren Platz in den vorderen Reihen bekommen wollte. Sie übte sich wie die PCI in revolutionärer Sprache und Auftritt und bot gleichzeitig den Regierungsparteien eine Kooperation an. In ihrer mentalen Landkarte kannten sie keinen anderen Weg, die PRC wiederholte die klassische zentristische Politik der PCI. Immer schielten sie zu den Zentrumsparteien. Von 1996 bis Oktober 1998 unterstützte die PCR die Regierung Prodi. Als sich die Pensionsreform von 1998, die mit Unterstützung der PRC zustande kam, als noch schlimmer herausstellte als die von 1992, war dann Schluss mit diesem Weg. Die PRC entzog der Regierung die Unterstützung. Das war ein sehr interessanter Moment, weil zwei Tage später auch der rechte Flügel, die Stalinisten, die Partei verließen. Die PRC brach auf mehrfache Weise mit ihrer Vergangenheit und öffnete sich.
LW: War das der Zeitpunkt, wo ihr mit Comunismo dal Basso der PCR beigetreten seid?
Ja, wir haben die Entwicklung der PCR schon länger begleitet, und waren wie gesagt wegen ihrer Unterstützung für das neoliberale Kabinett von Prodi sehr kritisch. Aber jetzt hatten wir es mit einer Partei zu tun, die nach dem Bruch mit den Stalinisten wirklich attraktiv für den Grassroots-Teil der Partei geworden ist, und der war immer noch massiv. Sie hatte damals 90.000 Mitglieder und etwa in der Stadt Florenz wo ich 1995 hingezogen bin, 43 Ortsgruppen, 20 davon in Betrieben und der Uni, und der Rest auf dem Niveau von Nachbarschaftsversammlungen. Das war eine wirkliche Massenpartei, obwohl die Mitglieder noch sehr passiv waren, aber wir sahen die Chance die Mitglieder in Aktivität zu bringen. Und tatsächlich, mit den Massenbewegungen der Europäischen Sozialforen und der lokalen Foren wurden die Mitglieder sehr aktiv.
LW: Spürte Rifondazione die Proteste von 1999 in Seattle?
Ohja, sie haben das sehr intensiv diskutiert und Teile der Partei haben sofort drauf reagiert. Sie hatten schon 1994 den Aufstand der Zapatistas unterstützt, hatten Delegationen nach Chiapas entsandt, Solidaritätsgruppen aufgebaut und selbst Massenversammlungen in den Städten organisiert und waren mit den Gruppen in den Sozialzentren aktiv. Deshalb haben sie Seattle 1999 auch besser verstanden als man es von einer altmodischen KP erwarten hätte dürfen. Seattle haben sie als Teil einer neuen Protestwelle verstanden, die dabei war, sich aufzubauen. So fruchtbar war der Boden, den wir beackerten. Wir mussten nicht zu den Gehörlosen predigen, wir hatten es mit einer Masse von Leuten zu tun, die schon von den Jahren zuvor sensibilisiert waren.
LW: Wir haben Rifondazione Comunista das erste Mal in Prag kennengelernt, bei den Protesten gegen das Gipfeltreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Damals kam die Partei gemeinsam mit einer Gruppe, die man als ideologische Konkurrenz verstanden hat, die Tute Bianche.
Das war ein sehr interessantes Phänomen. Die Tute Bianche waren ganz klar Autonome, aber die Giovani Comunisti, die kommunistische Jugend, hatte sehr enge Beziehungen zu den Disobbedienti und war mit ihnen in den besetzten Zentren aktiv.
Üblicherweise geht es ja nicht gut aus, wenn gleichzeitig die Partei ihr Profil nicht hochhält und ihre Mitglieder in Massenaktivitäten gehen, dann geht sowohl der Zusammenhalt verloren und die Mitglieder wechseln oder treten aus.
Genau das ist passiert, aber einige Jahre ging es wie beschrieben weiter, vor allem weil die Bewegung so dynamisch war. Du musst dir vorstellen wir hatten oft 3, 4, 5 Treffen am Tag, eines war eine Massenversammlung, die kleineren Treffen waren immerhin noch mit 30 Leuten und oft mussten wir die Räume wechseln, weil sie zu klein wurden. Die Partei ist sogar noch von 90.000 auf 100.000 gewachsen, sie hat aber die neuen Mitglieder kaum halten können, hat wieder und wieder tausende neue Mitglieder gewonnen und verloren.
LW: Der nächste Kontakt der österreichischen Protetstbewegung mit Rifondazione war 2001 bei den Protesten gegen das Weltwirtschaftsforum in Salzburg, und dann reisten die Bewegungen aus ganz Europa zwei Mal nach Italien, einmal nach Genua zu den G8-Protesten und dann nach Florenz zum Europäischen Sozialforum.
2006 hat Rifondazione ihre Politik geändert, ganz typisch für eine zentristische Organisation. Seit 2004 haben sie sich auf einen Regierungseintritt vorbereitet und 2006 war es dann soweit. Diesmal haben sie die Regierung nicht nur unterstützt, sie sind Teil davon geworden. Sie stellten einen Minister, zwei Vizeminister und sechs oder sieben Vize-Staatsekretäre. Und in dem Moment ist die Partei kollabiert. In Florenz sind von 40 Ortsgruppen in zwei Jahren nur 13 übriggeblieben. An der Universität sind von 50 Mitgliedern nur sechs oder sieben geblieben, und das multipliziert mit dem ganzen Land und du verstehst das Ausmaß des Zusammenbruchs.
Leider habt ihr von Comunismo dal Basso den Untergang von Rifondazione auch nicht überlebt.
Comunismo dal Basso war im Grunde genommen in dem Moment unsichtbar, als sie eine Anlaufstelle hätte bieten sollen. Wenn man in eine große Partei wie Rifondazione eintritt und seine Eigenständigkeit behalten will, dann muss man Profil zeigen, anstatt sich anzupassen. Unsere Mitglieder waren unheimlich aktiv in der Zeit der Bewegung und sind in die Strukturen richtig eingetaucht. Aber sie hätten vor allen Dingen eines tun sollen – Comunismo dal Basso sein. Das haben wir nicht getan, obwohl wir weiter unsere eigene Zeitung produziert und verkauft haben. (33) Aber wir hatten während der Zeit der Bewegung praktische keine landesweiten Versammlungen, nur die Zeitung. Wir sind dann genauso schnell kollabiert wie Rifondazione.
LW: Um es den Leser:innen verständlicher zu machen. Rifondazione wurde als zum einen als die antikapitalistische Kraft gesehen und dann ab dem Sozialforum in Florenz auch als die treibende Kraft gegen die US-Kriege in Afghanistan und Irak.
Während des Sozialforums in Florenz sind eine Million Menschen gegen den Krieg marschiert, in einer Stadt mit vielleicht 350.000 Einwohner:innen. Das ist als würden 6 Millionen Menschen in Wien marschieren. Und später drei Millionen gegen den Irakkrieg in Rom, und immer war Rifondazione die zentrale Kraft dahinter. Und dann trat Rifondazione in die Regierung Prodi ein, die härtesten Sozialabbau betrieb, den Krieg in Afghanistan unterstützte und sogar Soldaten entsandte. Sie dachten wirklich, die Aktivist:innen, die zu Millionen aktiv waren und gesagt haben, wir wollen diesen Krieg nicht, die würden das akzeptieren. Das haben sie natürlich nicht getan. Außerdem hatte der Betrug einen Effekt auf die breitere Bewegung. Es gab ja nicht nur die großen antikapitalistischen und Antikriegsproteste, sondern die beteiligten Gewerkschaften haben sich dabei radikalisiert und sind zu Millionen gegen Maßnahmen Berlusconis auf die Straßen gegangen. Jeder der dabei war, hat diese Selbstermächtigung, die Macht der Massen gespürt, und all das wurde ausverkauft und betrogen. Natürlich war der negative Effekt davon ganz tief in die Gesellschaft hinein zu spüren.
LW: Um zur Gegenwart zu kommen, in Genua starb Carlo Giuliani durch die Kugel eines Polizisten und Aktivist:innen wurden durch Einheiten des Innenministers Fini gefoltert. Fini hat denselben politischen Background wie Giorgia Meloni, oder? Fini war Minister in der Berlusconi Regierung für die Alleanza Nazionale, die aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorging. Giorgia Meloni ist mit 15 bei den Faschisten eingetreten und die haben nach zwei Namensänderungen als Fratelli d’Italia die Wahlen in Italien gewonnen.
Alle drei Parteien, das Movimento Sociale Italiano, die Alleanza Nazionale und die Fratelli d’Italia haben die Flamme als Parteisymbol, und zwar ist die Flamme gemeint, die auf Mussolinis Grab brennt. Soviel ist über den Bruch in den Kontinuitäten zu sagen, von denen Meloni immer spricht. Es gibt genügend Kontinuitäten und außerdem gruppieren sich aktuell lauter radikale faschistische Gruppen um die Fratelli, um Zugang zu Ämtern und zu Geld zu erlangen. Die Fratelli sind wirklich gefährlich. Sie stellen nicht nur die Premierministerin, sondern auch faschistische Banden auf den Straßen. Nach jedem Parteievent kommt es zu Überfällen auf linke Zentren, auf Bars, oder auf Migranten. Meloni kann gleichzeitig strukturelle Veränderungen in der Legislative durchsetzen, sie kombiniert das auch mit einer Bewegung auf den Straßen. Das ist alles sehr ernüchternd, ich weiß, aber wie anfangs gesagt, wir müssen dort hinsehen, wo wir etwas verändern können, und lernen welche Fehler die Linke gemacht hat. Nur wir können Faschismus aufhalten.
Quelle: linkswende.org… vom 1. August 2024
Tags: Antifaschismus, Arbeiterbewegung, Breite Parteien, Faschismus, Italien, Neoliberalismus, Sozialdemokratie, Stalinismus, Strategie, Widerstand
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