Antimuslimischer Rassismus in der imperialistischen Welt
Internationales Exekutivkomitee der Liga für die 5. Internationale. Die Zunahme des antimuslimischen Rassismus. In Europa gibt es heute etwa 53 Millionen gläubige Muslim:innen, davon etwa ein Drittel in Russland und sechs Millionen in den europäischen Teilen der Türkei. In der EU beträgt ihre Zahl zwischen 16 und 20 Millionen, das sind etwa 3,5 bis 4 Prozent der Bevölkerung, allerdings mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Fast die Hälfte lebt in Frankreich und Deutschland mit jeweils vier bis fünf Millionen, während es in den baltischen und osteuropäischen Staaten höchstens ein paar hundert oder tausend sind. Im Vereinigten Königreich leben 3,9 Millionen (6,5 Prozent), in den Vereinigten Staaten schätzungsweise 3,5 bis 4 Millionen Muslim:innen (1,1 Prozent).
Trotz dieser großen Unterschiede und der sehr unterschiedlichen Herkunft der muslimischen Bevölkerung in diesen Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten die Form des Rassismus, der von Muslim:innen erlebt wird, deutlich verändert, was dem antimuslimischen Rassismus oder der Islamophobie einen besonderen Charakter verleiht. Seit der Jahrtausendwende ist der antimuslimische Rassismus in den meisten imperialistischen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten und Europa, zu einer vorherrschenden Form des Rassismus geworden, wo wir den Aufstieg rechter Kräfte beobachten, die vor der Gefahr einer „Islamisierung“ des Westens warnen, sowie eine Zunahme der Gewalt und Versuche zu beobachten, die religiösen Freiheiten zu beschneiden. Das Anwachsen des antimuslimischen Rassismus ist nicht einfach eine Gegenreaktion auf den Anstieg des islamistischen Terrorismus nach dem 11. September 2001, sondern Teil einer ideologischen Rechtfertigung für die polizeiliche Überwachung der muslimischen Bevölkerung und die Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens durch den Westen seit 2001.
Ideologische Entwicklung
Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa gab es Diskriminierungen und Kriege gegen Muslim:innen und verschiedene islamische Reiche. Dies verlief zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich, umfasste aber die Kreuzzüge, die Vertreibung der Muslim:innen aus Südspanien und die Plünderung von Granada. In der Literatur der damaligen Zeit, z. B. bei Shakespeare, finden sich zahlreiche Hinweise auf rassistische Verunglimpfungen. Diese Form der rassistischen Vorurteile hatte viel mit dem zeitgenössischen Antisemitismus gemeinsam und beruhte auf der Verteidigung des Christentums und seiner Ideologie.
In Russland wurden durch die Expansion des Zarenreichs verschiedene muslimische Völker kolonisiert und russifiziert. Auf dem Balkan war ein Teil der Bevölkerung jahrhundertelang muslimisch und ihr Schicksal verband sich mit den nationalen Kämpfen und Kriegen zwischen den Imperien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In Frankreich und Großbritannien sind die muslimischen Bevölkerungsgruppen das Ergebnis der Kolonisierung von Teilen Afrikas, des Nahen Ostens und Südasiens, weil es in der Zeit der Entkolonialisierung zu einer umfangreichen Einwanderung kam. In den Vereinigten Staaten ist die schwarze muslimische Bevölkerung seit ihrem Aufkommen in den 1960er Jahren jahrzehntelang Rassismus und Chauvinismus ausgesetzt gewesen.
Ein Großteil der Einwander:innen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Europa kamen, gehörte den muslimischen Glaubensrichtungen an, doch die rassistische Unterdrückung und Stigmatisierung, mit der sie konfrontiert wurden, war in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. In Deutschland richtete sich der Rassismus, dem türkische (oder kurdische) Arbeitsmigrant:innen ausgesetzt waren, eher gegen ihre Nationalität als ihren Glauben. In Großbritannien wurden alle Menschen südasiatischer Herkunft, einschließlich Sikhs und Hindus, von Rassist:innen als „P***“ stigmatisiert und hatten mit schwarzafrikanischen und karibischen Einwandere:innen die gleiche farbliche Unterdrückung gemein. Natürlich war auch in dieser Zeit eine imperialistische und rassistische („orientalistische“) Ideologie zu beobachten, die die imperialistische Vorherrschaft des „Westens“ über die arabische und „muslimische“ Welt rechtfertigte.
Nach dem Kalten Krieg änderte sich jedoch die globale Situation. Die USA machten sich daran, die Welt „neu zu ordnen“ und ihre Hegemonie dauerhaft zu sichern. Dies fand seinen ideologischen Ausdruck in einer Reihe von rassistischen „populären“ Büchern wie Huntingtons Clash of Civilizations (Zusammenstoß der Kulturen) und in Publikationen, die die imperiale Strategie der USA (und des Westens) zu umreißen versuchten, wie Brzezińskis „Die einzige Weltmacht“.
Darin werden Strategien vorgeschlagen, mit denen die USA verhindern wollten, dass sich die anderen verbündeten oder feindlichen Mächte (EU, Russland, China, Indien) zu globalen imperialistischen Rival:innen entwickeln, die die Welthegemonie der USA in Frage stellen könnten. Anders als die verbündeten rivalisierenden europäischen Mächte werden die anderen nicht nur als wirtschaftliche und militärische Gegner:innen, sondern auch als kulturell unterschiedliche Staaten dargestellt. Es gibt jedoch einen weiteren „Kampf der Kulturen“ oder „potenziellen Rivalen“, auf den sich beide beziehen – den Islam.
Der Islam ist weder eine wirtschaftliche Einheit noch eine Nation oder ein Staatenbund. Er ist kein Rivale um die Weltmacht. Aber er eignet sich gut als globaler Feind, der sowohl intern als auch extern existiert. Während in den 1990er Jahren und darüber hinaus Huntingtons offen rassistisches Hirngespinst – ausgedrückt als „Kampf der Kulturen“ – immer eine Ideologie eines extremen imperialistischen Flügels und eine Inspiration für die extreme Rechte war und Brzeziński und seine Denkschule eine imperialistische Ideologie verkörperten, die von anderen herausgefordert wurde, brachte die Jahrhundertwende eine entscheidende Wende in der imperialistischen Politik.
Die Anschläge vom 11. September dienten als Vorwand, um den „Krieg gegen den Terror“ auszurufen – einen Krieg gegen eine „neue“ Art von Feind:in, der eine Politik der ständigen Interventionen rechtfertigt, um den Nahen und Mittleren Osten (und die Welt im weiteren Sinne) neu zu ordnen. Dazu gehörte natürlich auch ein „innerer Feind“. Der antimuslimische Rassismus wurde zu einer rassistischen Ideologie, die dazu diente, sowohl imperialistische Interventionen gegen „muslimische Terrorist:innen“ (wie in Afghanistan) als auch eine verstärkte Überwachung und rassistische Stigmatisierung der muslimischen Bevölkerung in den imperialistischen Ländern zu rechtfertigen.
Bestandteile von Rassismus
Dies erforderte die Konstruktion des Islam und des „Islamismus“ als einheitliches Gebilde: ein homogener, gefährlicher, barbarischer (unzivilisierter) Feind, eine rückständige Quasi„ethnie“ und Kultur, die nicht in die moderne, demokratische (westliche) Gesellschaft integriert werden konnte. In dieser Konstruktion unterscheidet sich der Islam nicht nur von der westlichen Zivilisation und anderen Religionen (insbesondere dem Christentum), sondern die Religion und die darauf basierende Kultur sind auch unveränderlich und unvereinbar mit einer angeblich „demokratischen Kultur“. Interne Unterschiede innerhalb des Islams, z. B. zwischen Schiit:innen und Sunnit:innen, oder die notwendige Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus (d. h. politischem Islam) sowie seine verschiedenen Formen werden allesamt als zweitrangig betrachtet. In der Tat wird für den antimuslimischen Rassismus jegliche Differenzierung über verschiedene Formen des „Islamismus“ als Versuch gesehen, die Menschen davon abzulenken, das „wesentliche“ Übel des Islamismus zu erkennen.
Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie naturalisieren „die/den Muslim:in“ zu einer unveränderlichen Sache. Wie bei allen idealistischen Konstruktionen ist dies notwendig, um Menschen verschiedener Nationalitäten und sogar Glaubensrichtungen (ja, auch Nichtgläubige) als „muslimisch“ zu bezeichnen. Dabei richtet sich der antimuslimische Rassismus nicht nur gegen religiöse Sympathien und Praktiken, sondern rassifiziert gleichzeitig Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft und ordnet sie der rassifizierten Kategorie „Islam/Muslim:in“ zu. Das Ergebnis ist, dass sich der antimuslimische Rassismus nicht nur gegen Muslim:innen richten kann, sondern auch gegen diejenigen, die scheinbar „muslimisch“ aussehen, wie die Angriffe auf Sikhmänner nach dem 11. September 2001 gezeigt haben, oder gegen diejenigen, die aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung stammen, die Religion aber nicht praktizieren. Es ist daher völlig falsch, antimuslimischen Rassismus mit übereifrigen „antireligiösen“ oder „antiklerikalen“ Gefühlen zu verwechseln.
Ein weiterer Bestandteil dieser spezifischen Form des antimuslimischen Rassismus (im Folgenden „Islamophobie“) ist die Frauenfrage. Obwohl die europäischen und amerikanischen konservativen Parteien und ihre Ideolog:innen in den 1960er und 1970er Jahren die schärfsten Kritiker:innen des Feminismus und der Frauenrechte waren, haben sie daraus Instrumente für den Einsatz gegen die muslimischen Einwander:innengemeinschaften abgeleitet, die als „rückständiger“ gegenüber Frauen stigmatisiert werden, wobei bestimmte Merkmale herausgegriffen und zu einem anderen Status erhoben werden. Zum Beispiel die Überwachung der Kleidung von Frauen, die so genannten „Ehrenmorde“ usw., obwohl die Überwachung der Kleidung von Frauen und die Femizide in den westlichen Gesellschaften ebenso verbreitet sind, wenn auch in anderer Form. Die Elemente eines unterdrückerischen Patriarchats im Islam (von denen er viele mit dem traditionellen Christ:innentum und dem Jüd:innentum teilt), die jedoch von der bürgerlichen Revolution, dem Säkularismus und der bürgerlichen Frauenbewegung in den Bereich des Privatlebens oder der persönlichen Überzeugungen verbannt worden waren, wurden in den Dienst des Ziels gestellt, die muslimischen Gemeinschaften „anders“ zu machen und sie von den fortschrittlichen Bewegungen, insbesondere der Linken, zu entfremden.
Der Zweck des antimuslimischen Rassismus
Der antimuslimische Rassismus ist zu einer Schlüsselideologie der westlichen imperialistischen Mächte geworden. Er hat andere Faktoren, die ihn hervorgebracht haben, integriert und verschärft. Erstens: die rassistische und nationalistische Einwanderungspolitik und die Aufteilung der Arbeitsmärkte. Die USA und die ehemaligen Kolonialmächte haben seit langem rassistisch segmentierte Arbeitsmärkte und verfolgen eine Politik gegenüber rassistisch Unterdrückten, die darauf abzielt, deren Unterdrückung zu verstärken. Ein ähnliches Muster gilt für die imperialistischen Staaten, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einen massiven Anstieg der Arbeitsmigration erlebt haben. Die Expansion des deutschen Kapitals (und anderer) wäre ohne Millionen von eingewanderten Arbeitskräften aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien und insbesondere aus der Türkei nicht möglich gewesen. Die staatliche Politik war offen auf die Nichtintegration dieser Arbeiter:innen ausgerichtet, die nur als „Gastarbeiter:innen“ (ursprünglich wurden sie sogar als „Fremdarbeiter:innen“ etikettiert) arbeiten sollten. Auch wenn viele von ihnen schließlich in die Arbeiter:innenklasse integriert wurden, sind sie immer noch Formen der Segregation ausgesetzt. Dasselbe gilt für die Millionen von Flüchtlingen der letzten Jahrzehnte.
Zweitens werden Rassismus und Chauvinismus dazu benutzt, die Arbeiter:innenklasse politisch zu spalten, indem die Arbeiter:innenaristokratie und über sie weitere Teile der Arbeiter:innenklasse und des Lumpenproletariats an die Unterstützung der imperialistischen Eroberungskriege im Ausland und der Unterdrückung im Inland gebunden werden. Die sozialdemokratischen und Labour-Parteien sowie die Gewerkschaftsbürokratie sind unverzichtbar, um diese Unterstützung für den Imperialismus zu bündeln. Dies gilt auch für reformistische Massenparteien stalinistischen Ursprungs. Andere, kampforientierte, „linke“ Kräfte sind inkonsequent, indem sie beispielsweise den „Krieg gegen den Terror“ ablehnen, aber die Augen vor der brutalen Unterdrückung in Tschetschenien und gegen die Uigur:innen verschließen.
Der antimuslimische Rassismus verbindet die Diskriminierung von Arbeitsmigrant:innen mit ihrer rassistischen Brandmarkung als „Muslim:innen“ und damit als Gefahr. Diese rassistische Propaganda, die sowohl von den etablierten konservativen, liberalen oder sogar rechtsreformistischen bürgerlichen Parteien und Politiker:innen verbreitet wurde, ist von den wachsenden rechtsgerichteten, populistischen, rechtsextremen oder faschistischen Parteien weitgehend übernommen worden. Verschiedenen Umfragen zufolge stimmt ein zunehmender Teil (und in vielen Ländern eine klare Mehrheit) der EU-Bevölkerung der Meinung zu, dass „Muslim:innen nicht in die europäischen Gesellschaften integriert werden können“.
Die Rechtsextremen und Faschist:innen greifen die Bezeichnung des „fremden“ Charakters der muslimischen Kultur auf und verbinden sie mit rassistischen Verschwörungstheorien wie der so genannten „Great Replacement Theory“ (Große Ersetzungstheorie), die vom Liberalismus und der kosmopolitischen Intelligenz inszeniert wurde, um die weiße Bevölkerung an den Rand zu drängen und schließlich durch muslimische Einwander:innen zu ersetzen. Diese reaktionäre Ideologie ist heute ein Lehrbuch der extremen Rechten in Europa und den USA (und in gewisser Weise auch in Russland). Sie greift die vorherrschende imperialistische Ideologie auf und radikalisiert sie bis zum Äußersten, indem sie eine Politik der Abschottung einer ganzen Reihe von Ländern gegen (muslimische) Einwander:innen (Ungarn, Polen, Rumänien, baltische Staaten) rechtfertigt, die Abschottung der europäischen Grenzen und im Extremfall die „Rückwanderung“, d. h. die Ausweisung von Millionen von Menschen fordert. Dies stellt die offene, rechtsextreme, rassistische Form des antimuslimischen Rassismus und der Islamophobie dar, die zunimmt und in einer offen völkischen und rassistischen Form zum Ausdruck kommt.
Dass die meisten europäischen Regierungen (und die EU sowie die Biden-Administration) auf der anderen Seite eine angeblich liberale, „reformistische“ Islamophobie präsentieren, die den Bedürfnissen des Kapitals nach selektiver Migration entspricht, darf niemanden darüber hinwegtäuschen, dass alle Formen der Islamophobie und des antimuslimischen Rassismus rassistische Ideologien sind, die der Unterdrückung von eingewanderten und geflüchteten Arbeiter:innen dienen sowie einen ideologischen Deckmantel für „humanitäre Interventionen“ in den Halbkolonien oder die Unterstützung des zionistischen Staates liefern.
Die Situation der Muslim:innen in Europa
Die meisten Muslim:innen in der EU gehören zur Arbeiter:innenklasse und bilden in ihrer Mehrheit eine Gruppe mit niedrigerem Einkommen und einem höheren Anteil an unsicheren und prekären Arbeitsplätzen. Die Beschäftigungsquote von Migrant:innen türkischer Herkunft in Deutschland, aus Nordafrika in Frankreich oder aus Pakistan oder Bangladesch in Großbritannien – den drei Ländern mit den meisten Arbeitsmigrant:innen – liegt 15 – 40 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. In allen Ländern übersteigt die Arbeitslosenquote von Migrant:innen und Muslim:innen (sofern separate Daten vorliegen) deutlich den Durchschnitt der übrigen Arbeiter:innenklasse.
Auf dem Arbeitsmarkt sind Muslim:innen sowohl als Migrant:innen als auch als Muslim:innen systematischen Formen der Diskriminierung ausgesetzt. In einer Reihe von europäischen Staaten gibt es Gesetze gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Vereinbarungen, die z. B. Halal-Lebensmittel (nach islamischer Vorstellung zulässig) am Arbeitsplatz gewährleisten, finden sich in der Regel in Großunternehmen oder im öffentlichen Sektor. Sie sind in erster Linie das Ergebnis von Rechtsvorschriften und Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften oder betrieblichen Vertreter:innen und Arbeit„geber“:innen. In kleineren kapitalistischen Unternehmen oder in kleinbürgerlichen Betrieben gibt es sie nur in Ausnahmefällen.
Trotz einiger Einschränkungen bei der offenen Diskriminierung berichten die meisten zugewanderten Arbeiter:innen über Benachteiligung am Arbeitsplatz. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen sind bei der Arbeitssuche und in der Ausbildung offener oder versteckter Diskriminierung ausgesetzt. Dies führt dazu, dass Muslim:innen (und die rassistisch Unterdrückten und Zuwander:innen im Allgemeinen) in der am schlechtesten bezahlten Gruppe der Arbeiter:innenklasse und des Subproletariats überrepräsentiert sind. Diese Arbeitsteilung wird ständig reproduziert und verstärkt.
In mehreren Ländern hat sich ein großes zugewandertes (und muslimisches) Kleinbürger:innentum herausgebildet, das sich auf den Handel und kleine Geschäfte konzentriert. Ebenso haben sich in der klassenübergreifenden muslimischen Gemeinschaft zwar Schichten der Intelligenz, der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, einer Arbeiter:innenaristokratie und sogar Kapitalist:innen herausgebildet, doch sind diese Schichten im Vergleich zum Durchschnitt der Gesellschaft kleiner.
In den letzten Jahren hat der politische und ideologische Einfluss der kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten und der Intelligenz auf die muslimische (und migrantische) Bevölkerung zugenommen. Dies ist das Ergebnis (a) einer systematischen Unterdrückung, Stigmatisierung und Ghettoisierung; (b) einer Führungskrise innerhalb der Migrant:innensektoren, in denen die kleinbürgerlichen linken und stalinistischen Kräfte in den letzten Jahrzehnten sehr viel schwächer geworden sind; (c) des Chauvinismus der reformistischen und bürokratisch dominierten Arbeiter:innenbewegungen; (d) der Zunahme des antimuslimischen Rassismus innerhalb der Gesellschaft, einschließlich der Arbeiter:innenklasse, nach einer Periode des relativen Rückgangs. Dies äußert sich im Wachstum der extremen Rechten und dem Rechtsruck in den bürgerlichen Parteien, einschließlich der meisten bürgerlichen Arbeiter:innenparteien. Im Gegenzug konnten die eher traditionalistischen oder sogar reaktionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Kräfte innerhalb der Migrant:innen- und muslimischen Gemeinschaften ihr Gewicht ausbauen und stärken. Dieser Einfluss ist zwar real, aber bei weitem nicht stabil, und er darf nicht überbewertet werden.
In allen Ländern gibt es nach wie vor linke, radikale kleinbürgerliche oder organisierte Kräfte aus der Arbeiter:innenklasse, die Teile der muslimischen und zugewanderten Bevölkerung anführen und beeinflussen. Tatsächlich sind wichtige Teile der eingewanderten Arbeiter:innen und Jugendlichen politisch aktiver geworden; sie fühlen sich von den „älteren“ Migrant:innenorganisationen und -parteien in ihren Gemeinschaften weniger angezogen und stehen ihnen sogar kritisch gegenüber. Darüber hinaus ist ein beträchtlicher Teil vorhanden, der politisch unentschlossen ist, aber dennoch radikale Antworten auf den Rassismus und die Ausbeutung sucht, unter denen er durch den Imperialismus leidet.
Der Nahe und Mittlere Osten und die nordafrikanischen Länder, aus denen die meisten muslimischen Migrant:innen stammen, sind von Krisen, Kriegen, Revolutionen, Gegenrevolutionen, imperialistischen Interventionen und zionistischer Unterdrückung geprägt. Diese Gemeinschaften sind unmittelbar von den Auswirkungen dieser Entwicklungen betroffen – sei es als Flüchtlinge, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, oder als Einwander:innen, die ihre Freund:innen und Verwandten verlieren.
Da die europäischen imperialistischen Regierungen, ihre Verbündeten und Institutionen Teil ihrer Probleme und oft direkt oder indirekt dafür verantwortlich sind, werden Muslim:innen auch als potenzieller oder tatsächlich protestierender oder widerständiger Teil der Bevölkerung in Europa „identifiziert“. Daher unterliegen sie und viele andere Einwander:innen einer besonderen staatlichen Überwachung. Viele ihrer Organisationen wurden verboten oder stehen unter ständiger Beobachtung. Sie sind immer mehr rassistischen Gesetzen, Aufenthaltsbeschränkungen und Sondergesetzen ausgesetzt, wenn sie die Staatsbürgerschaft erwerben wollen.
Diese Entfremdung hat zu einer winzigen Zahl gelegentlicher individueller terroristischer Akte geführt. Typischerweise richten sich diese Gewalttaten eher gegen kulturelle als politische Ziele und die Täter :innen haben, wenn überhaupt, nur geringe Verbindungen zu islamistischen Organisationen. Sie stellen Verzweiflungstaten dar, die durch die weitaus tödlicheren Terrorakte des Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten und die rassistische Unterdrückung im Westen verursacht wurden.
Der reaktionäre Charakter dieser Gesetze wird durch ihre reaktionären Folgen bestätigt: Zunahme des Rassismus, weitere Einschränkungen der demokratischen Rechte und weitere „Antiterror“-Gesetze, die anschließend gegen die Arbeiter:innen-, Umwelt- und Propalästina-Bewegung eingesetzt werden. Wir sind gegen alle diese Einschränkungen und Verbote von politischen und kulturellen Organisationen. Wir unterstützen zwar nicht den individuellen Terrorismus, aber wir unterstützen auch nicht das moralische oder politische Recht des (kapitalistischen) Staates, ihn zu verfolgen. J’accuse (ich klage an) – ihr (die Staatsapparate) seid die wahren Terrorist:innen.
Religion und die Linke
In Europa hat der antimuslimische Rassismus eine vermeintlich „demokratische“ oder säkulare Form angenommen. Es ist heute üblich, dass Liberale, Reformist:innen, Grüne und sogar „sozialistische“ oder „kommunistische“ Kräfte für Verbote von (muslimischer) religiöser Kleidung in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz eintreten und diesen direkten Angriff auf die Religionsfreiheit als „Verteidigung“ der Trennung von Kirche und Staat tarnen.
Die Arbeiter:innenbewegung muss alle derartigen Forderungen zurückweisen und das Recht der muslimischen Frauen auf freie Kleiderwahl verteidigen. Auf diese Weise kann die Arbeiter:innenbewegung den Migrant:innen und religiösen Minderheiten zeigen, dass sie die einzige echte und konsequente Verteidigerin der (bürgerlichen) demokratischen Rechte ist. Die Verteidigung des Rechts auf freie Religionsausübung durch die Sozialist:innen geht Hand in Hand mit dem Kampf gegen die erzwungene Einhaltung religiöser Moralvorschriften, Kleidungsvorschriften usw., die Frauen und Jugendlichen auferlegt werden. Unser Prinzip ist die Freiheit der/s Einzelnen, sich frei von staatlicher oder familiärer Kontrolle zu bekennen oder nicht.
Das bürgerlich-demokratische Recht auf Religionsfreiheit besteht aus zwei Teilen: (a) der Trennung von Kirche und Staat und (b) dem Recht auf Religionsausübung (d. h. Errichtung religiöser Gebäude, religiöse Predigt, Unterricht, Kleidung usw.) und dem Recht auf Nichtreligiosität. Die Religionsfreiheit ist eine Aufgabe der bürgerlich-demokratischen Revolution. In den meisten europäischen Ländern ist sie verfassungsmäßig vollständig verwirklicht, in einigen (z. B. Großbritannien) nur teilweise. In vielen der Länder, aus denen Menschen muslimischer Herkunft oder neu zugewanderte Personen stammen, ist die Religionsfreiheit entweder nicht vorhanden oder, wo sie ein formales verfassungsmäßiges Recht ist, wird sie dennoch durch die vorherrschende ideologische Hegemonie der religiösen Führer:innen stark beschnitten.
Die Religionsfreiheit dient, wie andere Rechte auch, dem Schutz von Minderheiten vor Angriffen durch die Mehrheit. Da sie die Freiheit, zu glauben und nicht zu glauben, schützt, ist sie kein „Privileg“ für Gläubige, sondern ein kollektiver Schutz. Ähnlich verhält es sich mit anderen Rechten, die sich aus diesem Schutz ergeben, z. B. dem auf besondere Ernährungsvorschriften in Schulen oder am Arbeitsplatz. Diese Rechte im Namen der „Trennung von öffentlich und privat“ anzugreifen, bedeutet, den Staat mit dem „öffentlichen Bereich“ zu verwechseln. Ein Verbot religiöser Kleidung oder religiöser Praktiken (Gebetsräume, Diäten usw.) hätte zur Folge, dass (a) die vorherrschende „Kultur“ (sei sie nun säkular oder anderweitig) gewaltsam durchgesetzt würde und (b) der Einfluss der Führer:innen religiöser Gemeinschaften auf die am stärksten unterdrückten Sektoren gestärkt würde, indem Frauen aus dem öffentlichen Raum und Kinder aus dem allgemeinen Bildungssystem verdrängt würden usw.
Die Konstruktion des antimuslimischen Rassismus als eine spezifische Ideologie des Imperialismus (die an anderer Stelle, z. B. von Hinduchauvinist:innen, adaptiert und wiederverwendet wurde) geht Hand in Hand mit dem Verbot der sichtbaren Ausübung der Religion im öffentlichen Raum. Es war die Erschaffung der/s „Muslim:in“ als „innere/r Feind:in“, die/der kulturell außerhalb der Grenzen und Normen der westlichen „Zivilisation“ steht, die es der herrschenden Klasse ermöglichte, muslimischen Gläubigen ihre religiös-demokratischen Rechte vorzuenthalten und muslimisch kategorisierte Menschen generell einer unverhältnismäßigen und rassistisch motivierten Überwachung und Repression zu unterwerfen.
Die Angriffe der bürgerlich-demokratischen Regime auf die religiöse Kleidung in der Öffentlichkeit stellen keineswegs eine „Verteidigung“ des Laizismus (weltlichen Rechts) dar, sondern sind in Wirklichkeit ein Anschlag auf die Religionsfreiheit. Diese Angriffe auf die „Gewissensfreiheit“, eine der grundlegenden ideologisch-demokratischen Säulen der bürgerlichen Revolution, entlarven den reaktionären und degenerierten Charakter der bürgerlichen Demokratie. Das Ergebnis dieser langfristigen Aushöhlung demokratischer Rechte im Namen von „Sondermaßnahmen“ zur Bekämpfung einer/s „besonders gefährlichen“ Feind:in ist in Großbritannien zu sehen, wo das „Prevent“-(Verhinderungs)Programm auf alle Formen des inländischen „Extremismus“, einschließlich der linken und propalästinensischen Bewegung, ausgeweitet wurde. Daher verteidigen Revolutionär:innen immer und überall die vollste und weitestgehende Ausprägung des Rechts auf Religionsfreiheit, auch, wo dies möglich ist, durch Verankerung dieser Rechte in der Verfassung.
Ausbeutung und soziale Unterdrückung in rassifizierten Gemeinschaften
Die Notwendigkeit, gegen den antimuslimischen Rassismus zu kämpfen, sollte uns nicht blind machen für die wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Unterdrückung innerhalb der rassifizierten Gemeinschaften. Die Entwicklung der Klassenschichtung innerhalb der unterdrückten Gemeinschaften geht zwangsläufig mit der Ausbeutung der Arbeitskraft einher. Dies verstärkt die soziale Unterdrückung von Frauen, LGBT+-Personen und Jugendlichen innerhalb der Gemeinschaft; der Wettbewerb um Arbeitsplätze, öffentliche Dienstleistungen, Wohnraum usw. verschärft den religiösen und rassistischen Antagonismus gegenüber anderen Einwander:innen bzw. Religionsgemeinschaften.
Wo die Sozialdemokratie Kriege gegen muslimische Länder oder Bewegungen unterstützt oder reaktionäre Gesetze einführt, kann es zu Versuchen kommen, populistische Parteien zu gründen, die auf Zugeständnissen an diese dominanten Schichten innerhalb der Einwander:innengemeinschaften beruhen, z. B. strenge Beschränkungen der Abtreibung, religiöse Sonderschulen oder Beschränkungen des Unterrichts zu LGBT+-Fragen oder sogar die Unterstützung muslimischer Bosse gegen Streiks muslimischer Arbeiter:innen. Dies war bei dem Bündnis Respect im Vereinigten Königreich der Fall und könnte sich im Zusammenhang mit der Gazabewegung dort erneut stellen. Wo zentristische Kräfte involviert sind, kritisieren wir, dass sie den Grundsatz der klassenpolitischen Unabhängigkeit aufgeben.
Die rassistische Absonderung und Marginalisierung von Einwander:innengemeinschaften verstärken diese. Die herrschenden Schichten innerhalb der rassistisch Unterdrückten – im Fall der muslimischen Gemeinschaften sowohl die wirtschaftlich, sozial und religiös dominanten Kräfte – stellen jeden Angriff auf ihre Privilegien und Ausbeutung demagogisch als einen Angriff der dominanten bürgerlichen Kultur dar. Die Arbeiter:innenbewegung muss dies zurückweisen und die Arbeiter:innenklasse, die revolutionären und fortschrittlichen Kräfte innerhalb der Einwander:innengemeinschaft müssen sich organisieren, um diesen Betrug und die reaktionäre Rolle dieser Schichten zu entlarven. Auch wenn diese Konflikte oft auch religiöse Züge tragen, so sind sie doch letztlich Formen der Klassenausbeutung und sozialen Unterdrückung.
Wir kämpfen gegen Sexismus, Homophobie, Transphobie, Frauen- und Jugendunterdrückung und gegen alle reaktionären und unterdrückerischen Formen – seien es Kleidervorschriften, Zwangsheiraten, körperliche und sexuelle Gewalt. Wir stellen uns auch gegen die rechte Rhetorik des Krieges gegen die „Clans“ als das, was sie ist: rassistische Propaganda, die dazu dient, Migrant:innengemeinschaften zu kriminalisieren. Daher verteidigen wir das Recht, Kleidungsstücke wie Hidjabs, Niqabs und Burkas zu tragen, und lehnen alle Gesetze dagegen ab, während wir gleichzeitig für das Recht der Frauen kämpfen, frei zu wählen, wie sie sich kleiden wollen. Wir verteidigen auch das Recht auf Religionsausübung, z. B. in Schulen, und kämpfen gleichzeitig gegen verpflichtenden Religionsunterricht oder andere Vorschriften wie Schariagesetze.
Unsere wichtigste Methode zur Mobilisierung von Frauen und Jugendlichen für den Kampf gegen die soziale Unterdrückung ist die Beteiligung an einer Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse und einer revolutionären Jugendorganisation. Genau wie in der Arbeiter:innenbewegung und allen anderen unterdrückten Bewegungen verteidigen wir das Recht der Unterdrückten, Fraktionen zu organisieren, eine Ausbildung in Selbstverteidigung zu erhalten und von der Arbeiter:innenbewegung getragene Selbstverteidigungsorganisationen von Frauen, LGBT+-Personen und Jugendlichen gegen Gewalt zu schaffen.
Gegen die Bedrohung durch Gewalt, Erpressung und Ausbeutung durch „kriminelle“ Netzwerke in Arbeiter:innenklassengemeinschaften kämpfen wir für Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und der Arbeiter:innenklasse zur Selbstverteidigung. Wir engagieren uns gegen die „Illegalität“ und Verdrängung in Wanderarbeit, den Schmuggel, die Sexarbeit usw. und für Papiere und gleiche Rechte auf Arbeit für alle.
Der wichtigste Aspekt bei der Bekämpfung der Marginalisierung muslimischer Arbeiter:innen besteht jedoch darin, den Kampf gegen Rassismus mit einem Einsatz gegen alle Formen sozialer Unterdrückung (innerhalb und von außen) zu verbinden und den Kampf eingewanderter Arbeiter:innen für ihre eigenen Klasseninteressen zu verstärken. Dies ist der beste Weg, um einen Keil zwischen die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Führer:innen der „Gemeinschaft“, seien sie religiös oder nicht, und die Arbeiter:innenklasse zu treiben. Dazu gehören die gewerkschaftliche Organisierung all dieser Arbeiter:innen und der Kampf für Löhne und Bedingungen, die durch einen allgemeinen Tarifvertrag abgedeckt sind. Angesichts der Passivität der Gewerkschaftsbürokratie und der reformistischen Führer:innen und in vielen Fällen des Sozialchauvinismus der „einheimischen“ Arbeiter:innenklasse und insbesondere der Arbeiter:innenaristokratie ist eine systematische Kampagne erforderlich, um muslimische und andere Wanderarbeiter:innen und Flüchtlinge massenhaft für die Gewerkschaften zu gewinnen, einschließlich einer bewussten Politik, um die Arbeiter:innenbewegung sozial und kulturell einladend zu gestalten, und des Rechts auf Caucuses (gesonderte Treffen) für die rassisch und sozial Unterdrückten.
Das Eintreten gegen Unterdrückung und Ausbeutung innerhalb der „Gemeinschaft“ ist ein notwendiger Bestandteil, um die Arbeiter:innenklasse und die fortschrittlichen Teile der muslimischen und eingewanderten Intelligenz für den Kampf gegen rassistische und alle Formen von Unterdrückung und Ausbeutung zu gewinnen.
Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 18. September 2024
Tags: Arbeitswelt, Europa, Flüchtlinge, Neoliberalismus, Rassismus, Repression, Strategie, USA
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