Kim Moody über moderne Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung
Kim Moody, Mitgründer der Labor Notes, Aktivist und Labour-Forscher, wirkt wie ein Fels in der Brandung: Trotz, wie er zu scherzen beliebt, ganzer Regalmeter voller Bücher, in denen das Ende der Arbeit durch Automatisierung und Rationalisierung vorhergesagt wurde, hielt er immer daran fest, dass keine technologische Revolution ohne menschliche Arbeitskraft auskomme. Die Zahl der Lohnabhängigen sei so hoch wie nie, lediglich die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich. Unbeirrbar hält er aber auch daran fest, dass es die »Zusammenballung«, die »große Zahl« der Lohnabhängigen an einem Ort sei, die entscheidend für die Kampfbedingungen sei. Und diese Bedingung sieht er in seinen jüngsten Arbeiten gerade in der sog. Logistik-Revolution gegeben: Schlecht bezahlte ArbeiterInnen ballen sich in großer Zahl in riesigen Logistik-Zentren, und sie sitzen damit an den sensiblen Schaltstellen der Just in Time-Produktion. Es kommt nur drauf an, was man daraus macht? Oder stimmt schon an der Beschreibung etwas nicht?
Das neue Buch von Moody: »On New Terrain: How Capital is Reshaping the Battleground of Class War« ist Ende letzten Jahres bei Haymarket Books erschienen – eine Kurzfassung seiner Thesen, die auf umfangreichen Recherchen für das Buch basieren, dokumentieren wir im Folgenden – und laden damit ein zur Debatte über die Sprengkraft der Logistik-Revolution.
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Der Niedergang der Gewerkschaften in den entwickelten Ländern ist keine Neuigkeit. In den USA fiel der Anteil gewerkschaftlich organisierter ArbeiterInnen von einem 35-Prozent-Hoch 1954, größtenteils in der Privatwirtschaft, auf elf Prozent 2016, davon die Hälfte im öffentlichen Dienst. In Großbritannien fiel der Organisierungsgrad von 55 Prozent 1979 auf 25 Prozent im Jahr 2016.
Trotz des jüngsten Aufschwungs der Linken in beiden Ländern scheinen die Zeiten, als Gewerkschaften genug Macht hatten, große Zugeständnisse zu fordern und durchzusetzen, weit entfernt zu sein. Teilweise hat ihre Rolle sich infolge einer harten Arbeitsgesetzgebung und aggressiver Arbeitgeberstrategien mehr zu Beratungs- als zu Machtinstitutionen entwickelt.
Jetzt scheint ein Comeback dennoch möglich – und nicht nur des politischen Klimas wegen. Veränderungen der Unternehmenslandschaft seit der Reagan/Thatcher-Ära deuten große Chancen für die organisierte ArbeiterInnenbewegung an. Die Frage ist, ob die Gewerkschaften diese auch nutzen.
Gründe des Niedergangs
In den USA setzte der Herbst der Gewerkschaften am Ende des zweiten Weltkriegs ein, als große Industrieunternehmen Produktionsstätten in den gewerkschaftsfreien Süden verlagerten, um Kosten zu senken und den Zusammenballungen organisierter ArbeiterInnen in Städten wie Detroit, Gary, Los Angeles und Chicago zu entkommen.
Zwischen 1947 und 1972 verdoppelte sich der Südstaaten-Anteil an der industriellen Wertschöpfung auf nahezu ein Viertel des Gesamtwerts der USA. Die großen Industriegewerkschaften erreichten ihre Spitzenzahl an Mitgliedern in den frühen Siebzigern und sollten nie mehr weiter wachsen. Großbritannien sollte diesem Trend wegen des Niedergangs der industriellen Basis und Margaret Thatchers Entschlossenheit in den 1980ern, die Gewerkschaften zu zerschlagen, folgen.
Eine weitere entscheidende Entwicklung war eine Welle von Fusionen und Übernahmen in den 1960ern, losgetreten von sehr liquiden Unternehmen, die vom starken Wirtschaftswachstum profitierten. Diese Form der Transaktion nahm beispielsweise in den USA von ca. 1.200 Fällen 1963 auf 6.000 im Jahr 1969 zu, war aber auch in vielen anderen Ländern verbreitet. Daraus gingen die Konglomerate hervor – Firmen, die eine breite Palette an Produkten und Dienstleistungen bieten, die oft nicht das Geringste miteinander zu tun haben.
Die Gewerkschaften waren bis dahin vor allem in Unternehmen vertreten, die sich über ein bestimmtes Produkt wie Autos oder Stahl definierten. Teil eines größeren Ganzen zu sein verringerte nun die Möglichkeiten der ArbeiterInnen, durch Arbeitskampfmaßnahmen Schaden anzurichten. Dies wiederum machte die Gewerkschaften weniger attraktiv und drückte die Mitgliederzahlen weiter.
Viele weitere gewerkschaftlich erschlossene Arbeitsplätze wurden zerstört durch die tiefe Rezession von 1979 bis 1982, gefolgt von der Globalisierung Mitte der 80er. Viele westliche Konzerne griffen zu den Anleitungen ihrer japanischen Konkurrenz und führten Lean Production, die schlanke Produktion, ein: mehr produzieren mit weniger Arbeitskräften; mehr Auslagerungen; und die Just in Time-Lieferung der Teile, um Lagerbestände auf ein Minimum zurückzuschneiden.
Lean Production verhalf den Unternehmen zu einer Regeneration ihrer Profitabilität, aber der zunehmende weltweite Wettbewerb führte zu einer neuen Fusionswelle: von 4.239 im Wert von 206 Mrd. US-Dollar 1990 zu 11.169 im Wert von 3,4 Billionen US-Dollar im Jahr 2000. Nach 2001 pendelten sie sich bei etwa 7.000 im Jahr ein, und damit immer noch deutlich über dem Niveau vor den 90er Jahren. In europäischen Ländern zeigte sich ein ganz ähnlicher Trend, wobei Großbritannien den größten Anteil daran hatte.
Diesmal allerdings vermied das Kapital Konglomerate zugunsten einer Umsteuerung der Produktion auf bestimmte Produktlinien. Es schuf Firmenstrukturen, die den industriegewerkschaftlich organisierten Unternehmen der 1930er sehr ähnlich sind. Zusätzlich waren diesmal gewaltige Mengen an Fixkapital und -kosten involviert, was sie für Arbeitskämpfe sehr verwundbar machte.
Dies wurde noch verstärkt durch das, was manchmal die Logistikrevolution genannt wird. Dabei geht es um eine enorme Reorganisation des Gütertransports, die notwendig wurde, als das Just in Time-Modell sich in den Versorgungsketten ausbreitete und der Wettbewerb um Liefergeschwindigkeiten in der Online-Ära deutlich an Schärfe zunahm.
Große logistische Knotenpunkte aus Transportwesen, Lagern, Informations- und Kommunikationstechnik sowie intermodalen Einrichtungen (containerbasierte Verlade- und Umschlagsterminals zur Verknüpfung unterschiedlicher Transportformen) entstanden. Diese Knotenpunkte sind meist in oder nah bei großen Stadtgebieten gelegen, zu den größten zählen New York, Chicago, Rotterdam, Hamburg und London.
Die Zahl der Lagerhäuser in den USA ist beispielsweise seit 1998 um das anderthalbfache auf über 17.000 im Jahr 2017 gewachsen. Obwohl Automatisierung oft dazugehört, machen die Arbeitskräfte immer noch 65 Prozent der durchschnittlichen Betriebskosten aus, und die Zahl der LagerarbeiterInnen ist von 356.800 im Juni 1990 auf 830.700 im Juni 2017 gewachsen. Insgesamt sind in der Logistikbranche der USA etwa 4 Millionen Menschen beschäftigt.
Das sind die Leute, von denen die heutigen Unternehmen im produzierenden Gewerbe vollständig abhängig sind. Die wirklich großen Drehkreuze brauchen 100.000 ArbeiterInnen oder mehr, um zu funktionieren. Nehmen wir Chicago mit mehr als 150.000 Transport- und LagerarbeiterInnen in seinem Ballungsgebiet. Oder die Ansammlung von Unternehmen (Cluster) rund um die neue FedEx-Niederlassung in Memphis mit 15.000 direkt Angestellten und 220.000 in damit verknüpften Transport- und Lagerarbeiten.
In Großbritannien gibt es Cluster rund um Liverpool-Manchester, in den Midlands, Glasgow und London. Der Londoner Gateway-Hafen mit seinem Logistikpark auf neun Millionen Quadratfuß wurde 2013 eröffnet und wird bei voller Auslastung 27.000 ArbeiterInnen beschäftigen. Er erweitert das Cluster von Ost-London, das auch das Dagenham Dock, die Tilbury Docks und den Londoner Themsehafen umfasst.
Zudem sind die großen britischen Güterbahnunternehmen dabei, ein strategisches Frachtnetzwerk einzurichten, das den großen Bahnlinien in den USA ähneln soll. Insgesamt beschäftigt der britische Logistiksektor 1,7 Millionen ArbeiterInnen. Schätzungen zufolge sind die Investitionen in Logistik in ganz Europa auf das Zweieinhalbfache des BIP angewachsen.
Möglichkeiten tun sich auf
Diese Cluster scheinen hochgradig verwundbar durch Arbeitsunterbrechungen zu sein. Ein Streik in einem Warenlager oder bei einem Lieferanten mit Schlüsselfunktion könnte die Produktion entlang der gesamten Versorgungskette lahmlegen und möglicherweise dem Image eines Unternehmens mit Blick auf seine Zuverlässigkeit großen Schaden zufügen. Das könnte enormen Druck auf die Arbeitgeber bedeuten, Zugeständnisse zu machen oder eine neue Gewerkschaft anzuerkennen, ohne dass es dafür die Art Sekundär- oder Sympathiestreik bräuchte, die in vielen Ländern illegal ist.
Es gehört zur großen Ironie des modernen Kapitalismus, dass wir jetzt eine massive Konzentration von manueller, menschlicher Arbeit erleben, der die Konzernführungen eigentlich entkommen wollten. Bisher haben wir nicht beobachten können, dass Gewerkschaften sich diese Situation zunutze machen, teilweise wegen der erlittenen Rückschläge und teilweise, weil Leute wie LagerarbeiterInnen nicht dazu neigen, sich zu organisieren.
Gleichwohl weiß ich aus meiner Forschungstätigkeit, dass sowohl Gewerkschafts- wie Unternehmensvorstände sich den Risiken der neuen Unternehmensmodelle wohl bewusst sind und ernsthaft darüber nachdenken. In einer zunehmend wütenden Welt können die Drehkreuze zu entscheidenden Brennpunkten werden: Es wird spannend sein zu beobachten, ob Gewerkschaften versuchen werden, das zu ihren Gunsten umzumünzen.
Übersetzung: Stefan Schoppengerd
* Der Artikel ist am 3. Januar 2018 erschienen in der australischen Online-Zeitung »The Conversation«, einem nicht-kommerziellen akademischen Veröffentlichungs-portal.
Quelle: labournet.de… vom 23. Februar 2018
Tags: Arbeitswelt, Bücher, Gewerkschaften, Neoliberalismus, Strategie, Widerstand
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