Unter den Raketen: Ein Bericht aus Ostjerusalem
Achmed. Während Israels Regierung einen verantwortungslosen Krieg gegen das iranische Regime führt, hört das Leid der Palästinenser:innen in Gaza, der Westbank, Ostjerusalem und dem israelischen Staat nicht auf. Im Gegenteil zeigt die Situation noch einmal deutlicher, was Apartheid bedeutet.
Donnerstag Nacht liege ich in meinem Bett und höre die Sirenen, mein Handy vibriert und zeigt mir eine Notfallmeldung auf Hebräisch. Den ganzen Tag hört man schon Gerüchte über einen israelischen Angriff auf Iran. Am Abend höre ich, dass die komplette Westbank abgeriegelt wird. Der Vater und der Bruder einer Bekannten aus Jerusalem sind in Betlehem stecken geblieben, weil der Checkpoint nach Jerusalem geschlossen wurde. Ich öffne die Nachrichten, telefoniere mit Freunden, um mir ein Bild der Lage zu machen. Der Raketenalarm ist nicht dafür da, um uns die Zeit zu geben, einen sicheren Ort zu finden. Es ist die Ankündigung, dass Israel die Welt vor dem bösen Iran schützt, das angeblich kurz davor ist, seine Atomwaffen einzusetzen. Ein Narrativ, das Netanjahu seit 20 Jahren wie ein Mantra vorträgt, um vor allem die Außenpolitik der USA mitzubestimmen.
Es ist klar, dass Iran auf die massiven Angriffe, die auch zivile Infrastruktur treffen, antworten muss. In diesem Moment ist mir klar, dass Israel mich und alle um mich herum zu legitimen Zielen des Iran macht. Menschliche Schutzschilde für zionistische Machtansprüche. Ich laufe am Freitag morgens durch die Wohnung, um einen Platz zu finden, an dem ich mich einigermaßen sicher fühle. In Ostjerusalem gibt es keine Bunker. Die Nachrichten laufen durchgehend. Die Luftwaffe Jordaniens beteiligt sich an der Raketenabwehr. Einerseits bin ich erleichtert, dass die Gefahr eines Einschlags dadurch kleiner wird, andererseits macht mich die Komplizenschaft des jordanischen Königreichs sauer. Zwischendurch öffne ich soziale Medien und sehe die Statements des deutschen Außenministeriums, die mal wieder vom Recht Israels auf Selbstverteidigung faseln. Anscheinend haben sie von den israelischen Angriffen auf Teheran und andere iranische Städte, die 78 Menschen getötet haben, nichts mitbekommen.
Viele machen sich Sorgen um mich. Freund:innen und Genoss:innen. Ich merke, wie wichtig es ist, in einer politischen Gruppe organisiert zu sein, in der Solidarität nicht nur eine theoretische politische Floskel ist, sondern praktisch gelebt wird.
Der Freitag verläuft ruhig. Anscheinend wurden alle Raketen außerhalb des israelischen Luftraums abgefangen. Ich bereite mich aber auf eine anstrengende Nacht vor. Abends treffe ich mich mit Freund:innen in Westjerusalem. Ich fühle mich hier sicherer, weil es Bunker in der Nähe gibt. Der erste Raketenalarm ertönt, mein Handy vibriert und wir gehen gemeinsam an einen sicheren Ort. Vorher sehe ich die Raketen und das israelische Abwehrsystem am Himmel. Ich denke an die Menschen in Gaza, die seit 20 Monaten fast jede Nacht so etwas erleben müssen, ohne irgendeinen sicheren Ort. Viele von ihnen leben mittlerweile in Zelten, in denen sie nur ein Stück Stoff von den Bomben trennt. Ich denke: „Hoffentlich werden militärische Ziele getroffen. Hoffentlich sterben keine Zivilist:innen.“
Auf dem Weg nach Hause sehe ich Menschen panisch durch die Gegend rennen. Ich laufe durch das orthodoxe Viertel Me’a Sche’arim. Zurück in Ostjerusalem sitzen Menschen vor ihren Häusern und schauen in den Himmel. Es herrscht keine Jubelstimmung, auch wenn sie den israelischen Staat aus guten Gründen hassen. Palästinenser:innen aus Ostjerusalem sagen mir, dass sie keine Hoffnung in das iranische Regime haben. Der Iran wird uns nicht helfen und nur für seine eigenen geopolitischen Interessen kämpfen. Auch innenpolitisch muss das geschwächte iranische Regime eine starke Reaktion zeigen, um die Zustimmung der Bevölkerung nicht zu verlieren.
Nach einer relativ schlaflosen Nacht sehe ich auf dem Handy Nachrichten von israelischen Freund:innen in Westjerusalem, die mir anbieten, zu ihnen zu kommen. Ich verstehe die Geste, aber mir wird das Abhängigkeitsverhältnis klar. Ich habe das Bedürfnis, über diese Ungerechtigkeit zu reden. Ein Teil des Unterdrückungssystem für palästinensische Menschen, auf dem ganzen von Israel kontrollierten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan, ist die fehlende Infrastruktur von Sicherheit. So gibt es in der israelischen Siedlung in Hebron mehr Soldat:innen als Siedler:innen, die von ihnen geschützt werden sollen. In palästinensischen Städten im israelischen Kernland werden gleichzeitig absichtlich mafiöse Strukturen unterstützt, damit sich Palästinenser:innen gegenseitig töten. Eine Parallele zu den jüngsten Ereignissen in Gaza, wo Netanjahu IS-nahe Strukturen bewaffnet und unterstützt, um den innerpalästinensischen Streit zu fördern.
Nach stundenlangem Warten auf Neuigkeiten, entschließe ich mich, abends das Haus zu verlassen und mache einen kleinen Spaziergang. Das Leben scheint normal weiterzugehen, auch wenn einige Geschäfte geschlossen sind. Die Altstadt mit ihrem historischen Markt ist komplett abgeriegelt. Polizeipferde bewachen die riesigen Tore und verhindern, dass Menschen ungestört ihre Geschäfte führen können. Ein Grund ist die Angst der israelischen Regierung vor Protesten und Revolten der palästinensischen Bevölkerung. Ein weiteres Anzeichen für die offensichtliche Unterdrückung von Palästinenser:innen. Auch der Zugang zur Al-Aqsa-Moschee bleibt verschlossen.
Samstag Nacht: Ich bereite mich auf die Gegenangriffe des Irans vor. Da Israel schon wieder zivile Infrastruktur angegriffen hat, stelle ich mich auf das Gleiche von der anderen Seite ein. In meinem Kopf rede ich mir ein, sicher zu sein, weil der Iran niemals das palästinensische Ostjerusalem angreifen würde. Ich weiß aber, dass aufgrund der fehlenden Schutzräume immer wieder Palästinenser:innen getötet oder verletzt werden, oft durch Raketenteile, die nach einem Abschuss durch das israelische Luftabwehrsystem auf palästinensische Gebiete fallen. So traf es bei den letzten Angriffen palästinensische Menschen in Jericho, das in der Westbank liegt, und in der Naqab-Wüste, auf israelischem Staatsgebiet.
Die Angriffe, die etwa 23:30 Uhr Ortszeit starten, konzentrieren sich diesmal aber hauptsächlich auf die Großstadt Haifa, eine sogenannte „gemischte“ Stadt, in der etwa 10 Prozent der Bevölkerung Palästinenser:innen sind. Die iranischen Angriffe zielten aber vor allem auf den strategisch wichtigen Hafen dort. Ein Freund erzählt mir am Telefon, dass der palästinensische Ort Tamra getroffen wurde. Es gibt wohl auch Tote.
Sofort melde ich mich bei einem anderen Freund, der aus Tamra kommt. Ihm geht es gut, er ist nicht dort. Seiner Familie geht es auch gut, aber mehrere Fenster im Haus sind durch die starken Explosionen zersprungen. Auch in Tamra gibt es keine Schutzbunker.
Er kennt die Todesopfer persönlich und ist schockiert. In sozialen Medien sehe ich Videos von Israelis, die die Angriffe auf das palästinensische Dorf feiern und „Euer Dorf soll brennen“ rufen. Gleichzeitig sehe ich Videos von Menschen im Libanon oder in Jordanien, die die Angriffe auf Israel feiern. Ohne hier beide Seiten gleichzusetzen, ist es politisch nicht besonders hilfreich für den palästinensischen Befreiungskampf, einen sinnlosen Angriff zu feiern, der unschuldige Menschen gefährdet.
Am Ende gehen meine Gedanken wieder nach Gaza, wo die tagtächliche Vernichtung durch den israelischen Staat, fast unbemerkt, weitergeht und durch ein Abschneiden der Kommunikation verschärft wird. Ich weiß nicht, was noch kommen wird, aber ich weiß, dass es ein Bruchteil davon sein wird, was Palästinenser:innen in Gaza jeden Tag erleben müssen.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 17. Juni 2025
Tags: Deutschland, Imperialismus, Iran, Jordanien, Palästina, Rassismus, Repression, Zionismus
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