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Arbeiterbewegung, Nation und Migration im 19. und 20. Jahrhundert

Eingereicht on 4. August 2021 – 9:20

Ralf Hoffrogge/Anja Thuns/Axel Weipert. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ – mit diesem Schlachtruf endete das 1848 erschienene Kommunistische Manifest. Die prominenten Autoren gingen selbstverständlich davon aus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter „kein Vaterland“ hätten und übernahmen damit eine These des Frühsozialismus: Die Solidarität der Klasse stehe über der Nation.

So sah es auch Wilhelm Weitling in seinem Werk „Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte“ von 1839, in dem er die Abschaffung der Nationalstaaten und die zwangsweise Einführung einer Universalsprache forderte, um nationale Gegensätze für zukünftige Generationen auszulöschen. Dieses utopische Übermaß ließ in den folgenden Jahrzehnten nach. Bereits während der 1848er-Revolution wurde die europäische Arbeiterklasse national eingemeindet. Der Erfolg bürgerlicher Revolutionen und Wahlrechtsausweitungen machte gegen Ende des 19. Jahrhundert nationale Parlamente endgültig zum Adressaten arbeiterbewegter Forderungen.

Wie selbstverständlich wurde in den sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale ab 1889 davon ausgegangen, dass Internationalismus aus der Verbrüderung nationaler Arbeiterbewegungen herrühre. Ideen von „Kulturelle Autonomie“, wie Otto Bauer sie für ÖsterreichUngarn entwickelte, oder die Debatten der Bolschewiki und des jiddischen „Bundes“ um die „nationale Frage“ im Russischen Reich blieben Randphänomene.[1] Sie entstanden nicht zufällig in Gesellschaften, die als Imperien noch keine nationalstaatliche Verfasstheit entwickelt hatten.

In der Rückschau betrachtet, trafen diese Debatten um ambivalente nationale Identitäten und den Widerspruch zwischen nationaler oder ethnisch-kultureller Identität und Klassenidentität jedoch eine Kernfrage kapitalistisch verfasster Gesellschaften. Denn weder im Globalisierungsschub des 19. Jahrhunderts noch im Freihandelsoptimismus des 21. Jahrhunderts können die Ströme von Kapital, Waren und Arbeit ohne das Gewaltmonopol von Nationalstaaten organisiert werden. Gleichzeitig untergrub der Weltmarkt stetig die Grenzen der Nation, riss immer wieder „alle chinesischen Mauern ein“, wie Marx und Engels 1848 an anderer Stelle ihres Kommunistischen Manifests festhielten.

Dieser Widerspruch von globaler Produktionsweise und national oder lokal gebundener Arbeitsbevölkerung verursachte immer wieder Migrationsströme – sie und die Reaktionen darauf sind Thema dieser Ausgabe von „Arbeit – Bewegung – Geschichte“. Es versteht sich von selbst, dass ein Heft kein erschöpfendes Bild dieses Phänomens zeichnen kann. Aber die Beiträge aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten deuten doch in der Summe zumindest an, dass Arbeit und Migration keine Phänomene sind, die sich getrennt voneinander verstehen lassen. Sie sind zwei Seiten desselben Widerspruchs, und wo politische Arbeiterbewegungen Migrationsphänomene ignorierten, verloren sie an Schlagkraft auch für ihre „Kernklientel“.

Die Beiträge dieses Heftes fragen nach Arbeiterinnen und Arbeitern in Bewegung und den damit verbundenen Konflikten. Ihr zeitlicher Rahmen erstreckt sich von den Debatten der Zweiten Internationale Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Bruchphase kapitalistischer Prosperität Anfang der 1970er-Jahre. Die Facetten sind vielfältig: es geht um die Reaktion von „alteingesessenen“ Arbeitenden auf neu ankommende Arbeitskräfte, um die Erfahrungen und Kämpfe der migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie um gesellschaftliche Diskurse, die sie integrierten oder als Fremde ethnisierten. Diese Abgrenzungstendenzen waren auch in der Arbeiterbewegung anzutreffen, wie Ole Merkel und Moritz Müller anhand der Debatte um die sogenannte Kulifrage innerhalb der Sozialistischen Internationale aufzeigen, die sich um eine Bewertung chinesischer Arbeitsmigration drehte – von der Arbeitende in Nordamerika, aber auch in Europa Lohnkonkurrenz befürchteten. Dieser Vorwurf des Lohndumpings, wie er auch arbeitenden Frauen gemacht wurde,[2] fungierte als ein zentrales Narrativ von Befürwortern nationalstaatlicher Integration. Das Argument wirkte seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer erfolgreicher als Gegenkraft zur von Marx und Engels für selbstverständlich gehaltenen Vaterlandslosigkeit der internationalen Arbeiterklasse.

Im Fokus des Heftes steht auch die Frage nach kollektiven Reaktionen und Praxen der Arbeitenden und ihrer Organisationen. Dazu zählen etwa wilde Streiks der Migrantinnen und Migranten oder die Integration durch Gewerkschaften in den Zielländern: Ein Spannungsfeld, das Simon Goeke in seinem Beitrag „Vom ‚Gastarbeiter‘ zum politischen Subjekt. Migrantische Kämpfe und die bundesdeutschen Gewerkschaften in den 1960er- und 1970er Jahren“ absteckt. Dass von Migranten und Migrantinnen geprägte Arbeitskämpfe jedoch nicht allein ein Phänomen der Nachkriegszeit waren, zeigt Anda Nicolae-Vladu in ihrem Beitrag zum konzernweiten Streik im Unternehmen „Nordwolle“ des Jahres 1927. In diesem Fall überlagerten sich Konfliktlinien im Betrieb mit sozialen und ethnischen Fragen – wobei die Gewerkschaft migrantische Beschäftigte teils in den Arbeitskampf integrierte und teils aufgrund eigenständiger Praktiken ausschloss. Neben meist lokalen Streiks und den im nationalen Rahmen agierenden Gewerkschaften der Aufnahmeländer waren transnationale Organisierungen von Arbeitenden ein wiederkehrendes Phänomen. So etwa die „Federazione Svizzera del Partito Socialista Italiano“, die in der Schweiz der Zwischenkriegszeit das alteingesessene italienischsprachige Proletariat ebenso ansprach wie durch das Mussolini-Regime vertriebene Neuankömmlinge aus dem Nachbarland im Süden. Ursina Weiler stellt diese Organisation vor und beleuchtet vor allem ihre Reorganisationsphase nach dem Sturz Mussolinis 1943.

Klassische Auswanderungsländer wie Italien waren seit Anfang des 20. Jahrhunderts Vorreiter transnationaler Organisation, und so stellt Francesco Vizzarri mit der Italienischen Föderation der emigrierten Arbeitnehmer und Familien, kurz „FILEF“ ein weiteres italienisch-internationales Organisierungsmodell vor. Er beleuchtet besonders die Stellung der FILEF in der europäischen Arbeiterbewegung der 1970er-Jahre. Im selben Zeitraum betrachtet Caner Tekin die „Europäische Föderation türkischer Sozialisten“. Auch hier spielte der Europabezug eine hoffnungsvolle Rolle, denn nicht nur im liberalen Kontext, sondern auch für die sozialistischen Arbeiterorganisationen bot Europa eine Projektionsfläche, um den Widerspruch von nationaler Organisation entlang von Sprachgrenzen und propagiertem Internationalismus zu lösen. Nach dem langen Kampf um das Wahlrecht für arbeitende Frauen und Männer gelang es vor allem den europäischen Arbeiterparteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich, nationale Politik über längere Zeiträume zu gestalten und Wohlfahrtsstaaten aufzubauen. Deren Leistungen kamen auch migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern zugute, doch existierte von der bismarckschen Rentenversicherung über das skandinavische Modell bis hin zu aktuellen Debatten um ein Grundeinkommen kein Konzept, um Leistungen nationaler Wohlfahrtsstaaten zu internationalisieren.

Ebenso wenig konnte der Sozialstaat durch „Entwicklungspolitik“ exportiert werden. Stattdessen verschob sich nach nur einer Generation das Gleichgewicht. Mit einer Doppelbewegung aus Deindustrialisierung in den historischen Kernländern des Kapitalismus und rapider Industrialisierung in vielen Schwellenländern sank der Einfluss von Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf die jeweilige nationale Politik und das internationale Welthandelsregime seit den 1970er-Jahren. Strukturelle Arbeitslosigkeit brachte das von Marx und Engels als „industrielle Reservearmee“ bezeichnete Heer der Arbeitslosen wieder auf die Bühne. Viele davon waren die über zwei Dekaden hinweg umworbenen „Gastarbeiter“, die nun teils mit finanzieller Unterstützung zur Rückwanderung bewogen werden sollten.

Doch Migration war nicht einfach umkehrbar, längst hatten sich die Gesellschaften durch sie verändert. Thomas Barr und Patrick Böhm untersuchen diese Veränderung in der Sphäre der Arbeiterkultur. In ihren Beiträgen leisten sie eine musikhistoriografische Auseinandersetzung der „Songs of Gastarbeiter“ zwischen Protest und Problemen der Identitätsfindung in der Bundesrepublik. Besonders in der deutschen Nachkriegsgesellschaft etablierte sich die weitverbreitete Vorstellung von Migration als temporärem Besuch von „Gästen“ – eine Vorstellung, in der das auf der ethnischen Herkunft basierende Staatsbürgerschaftsrecht der Kaiserzeit ebenso nachklang wie das Erbe der NS-Volksgemeinschaftsideologie.

Die Spannung „Zwischen Integration und Isolation“ lässt sich jedoch bereits früher und in anderen Gesellschaften nachweisen, wie Florian Grafl in seinem Beitrag über Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Barcelona vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Spanischen Bürgerkrieges zeigt. Der Autor argumentiert überdies, dass dieses Spannungsverhältnis wechselnden Konjunkturen unterworfen war: Integration war auch abhängig von zeitspezifischen Diskursen und der Identität der Alteingesessenen. Durch die Migration der Nachkriegszeit wurde die Arbeiterklasse in europäischen Gesellschaften diverser.

Mit Anbruch des neoliberalen Zeitalters in den 1980er-Jahren ist jedoch als Gegenreaktion auf die zunehmende Ohnmacht der Arbeiterbewegung ein erneuter Nationalisierungsschub der arbeitenden Klassen zu beobachten, der jenem am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus ähnelt. Seine Voraussetzung ist die Erosion sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiterparteien, sein Symptom der langsame Aufstieg konservativer und später rechtspopulistischer Kräfte – nicht nur in Europa, sondern mit Donald Trump und Narendra Modi auch in den USA oder in Indien. Doch Zeitdiagnosen, die Nationalismus als gegebene Grundtatsache von Arbeiterbewusstsein setzen,[3] sind ebenso verfrüht wie die Wiederbelebung eines abstrakten Kosmopolitismus nach dem Muster Wilhelm Weitlings. Denn Gegenkräfte zeigen sich weniger als abstrakte Appelle an den Internationalismus, sondern als konkrete programmatische und praktische Arbeit. Als Beispiele zu nennen sind Diskussionen über einen demokratischen Sozialismus in der Demokratischen Partei der USA oder der bisher weltweit größte Generalstreik mit über 200 Millionen Beteiligten 2019 in Indien – ein Ereignis, das in den europäischen Medien fast unterging. Es ist zu erwarten, dass es auch in der Zukunft zu überregionaler und transnationaler Arbeitsmigration kommen wird – und das weltweit. Die Frage nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Nation, nach Arbeit und Migration ist also zum aktuellen Zeitpunkt eines Abschwungs arbeiterbewegter Politik nicht erledigt, sondern aktueller denn je.

Fussnoten

[1] Vgl. dazu Eric Blanc: Ein neuer Blick auf das Verhältnis von Bolschewiki und nationalen Befreiungsbewegungen im Zarenreich, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2015, H. 2, S. 28–43, online: https://www.arbeit-bewegung-geschichte.de/eric-blanc-ein-neuer-blick-auf-das-verhaeltnis-von-bolschewiki-und-nationalen-befreiungsbewegungen-im-zarenreich [26.  11.  2020]; sowie Orel Beilinson: Judentum, Islam und Russische Revolution: Betrachtungen aus der Sicht vergleichender Geschichtswissenschaft. In: Arbeit – Bewegung – Geschichte, 2017, H. 2, S. 65–85.

[2] Vgl. das Schwerpunktheft „Klasse und Geschlecht“, Arbeit  – Bewegung  – Geschichte, 2019, H. 3.

[3] Zur Kritik daran vgl. Pierre-Héli Monot: Armut als Kapital. Eine Kritik an Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, 2020, H. 2, S. 123–134.

Quelle: arbeit-bewegung-geschichte.de… vom 4. August 2021

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