Ernest Mandel: Der Kurs der Bolschewiki – eine kritische Analyse
In seinem Buch über die Russische Revolution setzt sich Ernest Mandel mit den gängigen Legenden, aber auch mit der ernstzunehmenden Kritik an der Politik der Bolschewiki auseinander.
Der folgende Text wurde dem Buch Oktober 1917: Staatsstreich oder soziale Revolution von Ernest Mandel – 1. Aufl. – Köln: ISP, 1992 entnommen
Die Oktoberrevolution war im Wesentlichen das Produkt der objektiven gesellschaftlichen Widersprüche, die eine nicht mehr zu unterdrückende explosive Dynamik angenommen hatten, sowie der Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen Klassen und sozialen Schichten, die in diesem Umfeld agierten. Sie war auch Ergebnis der Tätigkeit der bolschewistischen Partei, die darauf gerichtet war, diese Knoten von Widersprüchen im Interesse der werktätigen Massen und des internationalen Proletariats aufzulösen. Doch ist im Lichte der späteren Entwicklung Sowjetrusslands und der UdSSR die Frage zu stellen, ob nicht bestimmte politische Maßnahmen, die die bolschewistische Partei nach der Übernahme der Macht ergriffen hat, den Prozess der bürokratischen Entartung des ersten Arbeiterstaates begünstigt haben.
Diese bürokratische Entartung in den Jahren 1920/1930 ist durch den Kurs der Partei sicherlich nicht eingeleitet oder grundsätzlich verursacht worden. Auch diese Partei hat ihre Wurzeln in den objektiven Widersprüchen der sowjetischen Gesellschaft und in der damaligen internationalen Lage. Doch haben auch die Beschlüsse und die konkreten Verhaltensweisen der bolschewistischen Partei – oder der verschiedenen Bestandteile ihrer Führung – zu bestimmten Zeitpunkten und bezogen auf bestimmte Probleme ihre Auswirkung auf den Prozess der Bürokratisierung des Regimes gehabt. Wir müssen also versuchen zu verstehen, welche Fehler begangen worden sind.
Das Verbot der Sowjetparteien
Der schlimmste dieser Fehler war das Verbot der Sowjetparteien zum selben Zeitpunkt, als die revolutionäre Macht den Bürgerkrieg von 1918-1920 endgültig gewonnen hatte. Obwohl Trotzki wenig zu Selbstkritik in Bezug auf Entscheidungen der Führung und der Regierung neigte, deren einflussreichstes Mitglied er nach Lenin war, hat er hierzu zwei explizite Wertungen formuliert. 1936 schrieb er:
«Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen [in der bolschewistischen Partei – E. M.] nach sich; das Fraktionsverbot mündete in das Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Der polizeiliche Monolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Spielarten von Zügellosigkeit und Zersetzung wurde.»[i]
Zwei Jahre später sprach er sich im Übergangsprogramm, das er 1938 für die Gründungskonferenz der IV. Internationale verfasste, ausdrücklich für ein Mehrparteiensystem aus:
«Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die Arbeiter und Bauern selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.»[ii]
Es ist nicht zu bestreiten, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen die Menschewiki 1920 als eine Sowjetpartei betrachteten, denn diese erhielten nicht wenige Abgeordnete, vor allem in Charkow und Moskau. Dieselbe Feststellung gilt für die Anarchisten. Das Verbot der Sowjetparteien ebenso wie das Verbot der Fraktionen innerhalb der Regierungspartei, das ihm logischerweise folgte (denn jede Fraktion ist natürlich potentiell eine andere politische Partei) waren zweifelsohne als provisorische Maßnahmen gedacht, die an besondere Umstände gebunden waren und demzufolge beseitigt werden sollten, wenn die objektive Situation sich verbessert hätte.
Man muss sich natürlich fragen, welche bestimmten Folgen diese bestimmten Beschlüsse hatten, die zu einer bestimmten Zeit verwirklicht wurden. Aber man muss auch eine andere Frage aufwerfen, die sich hiervon unterscheidet und die eine allgemeinere Tragweite hat: Welche Konsequenzen hatten die Theorien, die aufgestellt wurden, um solche Verbote, selbst wenn sie zeitbedingt sein sollten, zu rechtfertigen? Wir sind der Auffassung, dass diese theoretischen Rechtfertigungen auf längere Sicht viel mehr Schaden angerichtet haben als die Maßnahmen selbst – und dass sie auch heute weiterhin Schaden anstiften.
Die Gefahr des Substitutionalismus
Das Verbot der Sowjetparteien beruht auf einer substitutionalistischen Konzeption des Aufbaus des Sozialismus – und der sozialistischen/ kommunistischen Politik im Allgemeinen. Einer Konzeption also, die Trotzki (mit Ausnahme seiner „schwarzen Jahre“ 1920/1921)[iii] immer verurteilt und auch Lenin während eines großen Teils seines Lebens bekämpft hat. Nach dieser Konzeption sei das Proletariat in seiner Mehrheit zu wenig bewusst, um ein Land regieren zu können (die Sozialdemokraten sind der gleichen Ansicht und fügen sogar hinzu: um eine Gewerkschaft führen zu können). Später wurde ein neues Argument vorgebracht: die Deklassierung und die Korruption (unter anderem mittels kolonialer Extraprofite) der Arbeiterklasse.
Dieser Ausgangspunkt führt sehr schnell zu der Schlussfolgerung, die Partei habe anstelle der wirklich existierenden Arbeiterklasse zu regieren. Dann sind der Apparat der Partei bzw. ihre Führung bzw. ihr „unfehlbarer Führer“ die entscheidenden Instrumente, um die Gesellschaft zu verändern. Stalin hat den wirklichen Gehalt des Substitutionalismus in einer Formel gefasst, die nicht eindeutiger sein könnte: „Die Kader entscheiden alles.“ Die substitutionalistische Lehre der Partei nährt – selbst dann, wenn es nicht zu den schlimmsten Exzessen und Verbrechen des Stalinismus kommt, – eine vertikalistische, etatistische, paternalistische und autoritäre Konzeption der Macht. Gewiss kann man sie mit einer Vielzahl von einschränkenden Klauseln versehen: Die Partei (die Parteiführung) regiert anstelle der Arbeiterklasse, stützt sich jedoch auf sie, mobilisiert sie, ist empfänglich für ihre Reaktionen, korrigiert ihre eigenen Fehler im Lichte der Praxis usw. Aber all dies verändert die grundlegende Haltung um keinen Deut.
Nicht die Arbeiterklasse regiert, nicht sie fasst demokratisch die Beschlüsse. An ihrer Stelle leitet eine kleine Minderheit. Unter solchen Bedingungen sind die Sowjets mindestens eines lebenswichtigen Bestandteils dessen beraubt, was ihren Inhalt ausmacht. Zur Not können sie als wirksames Kampfinstrument gegen den Klassenfeind dienen. Aber sie sichern nicht mehr die direkte Ausübung der Macht durch das Proletariat und (oder) die werktätigen Massen in ihrer Gesamtheit. Ohne ein wirkliches, praktisch vorhandenes Mehrparteiensystem können die Sowjets nicht wirklich demokratisch sein. Sie können nämlich nicht wirklich zwischen verschiedenen Alternativen in Wirtschafts-, Sozial-, Kulturpolitik usw. entscheiden. In dem Maße wie die Beseitigung der Sowjetdemokratie repressive Aspekte annimmt, zielt diese Repression nicht mehr allein auf die kleine, mittlere und Großbourgeoisie; sie trifft auch die Arbeiterklasse. Man kann sogar sagen: Je zahlreicher das Proletariat ist und je mehr es sozial die Hegemonie innehat, desto mehr zielt die Repression praktisch auf sie ab.
Eine derartige Konzeption, ein derartiger politischer Kurs stehen im Gegensatz zu dem, was den Hauptbeitrag von Marx zur sozialistischen Theorie (sowie zur Theorie der revolutionären Organisation) darstellt: die Idee der Selbstbefreiung und der zunehmenden Selbstorganisation des Proletariats. Die Emanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter wird das Werk der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst sein – und nicht von Gewerkschaften, Parteien, Regierungen oder Staaten. Diese sind unentbehrliche Instrumente im historischen Prozess. Aber nie können sie an die Stelle der eigenständigen Tätigkeit der Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen und der anderen ausgebeuteten oder unterdrückten Schichten treten. Die grundlegende emanzipatorische Rolle dieser Selbsttätigkeit darf nicht übergangen werden.
Es hieße die Rolle der materiellen und sozialen Interessen als Triebkraft in der Geschichte verkennen, wollte man annehmen, die substitutionalistische Ideologie habe die Hydra der Bürokratisierung geschaffen. Vielmehr hat die Existenz der Arbeiterbürokratie die Ideologie des Substitutionalismus hervorgebracht. Nachdem sie einmal entstanden war, hat diese Ideologie jedoch ihrerseits den objektiven Prozess der Bürokratisierung gefördert.
Rosa Luxemburgs Standpunkt
Das hatte Rosa Luxemburg verstanden, als sie die bolschewistischen Führer in ihren ersten Kommentaren zur russischen Revolution vor dieser Gefahr warnte: «Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.»[iv]
In dieser Aussage von Luxemburg wird der Zustand des öffentlichen Lebens im Russland von 1918 nicht zutreffend beschrieben. Es gab damals eine Vielfalt und eine sehr lebendige Debatte um politische Ideen, einschließlich legaler oder quasi-legaler Tätigkeit zahlreicher Organisationen. Rosa hat ihre Broschüre im Gefängnis verfasst und verfügte nicht über hinreichende Informationen. Aber sie stellt hier eine prophetische und bemerkenswerte kritische Diagnose der längerfristigen Entwicklungstendenzen, vor allem ab 1920/1921. Diese schon im Sommer 1918 formuliert zu haben – «die Bürokratie allein bleibt das aktive Element» – zeugt von außergewöhnlichem Scharfsinn und außergewöhnlicher Fähigkeit zu theoretischer Analyse. Wir meinen, dass Rosa ebenso recht hatte, als sie schrieb:
«Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. (…) Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie (…). Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur [des Proletariats, E. M.] im Gegensatz zur Demokratie (…). Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der [bürgerlichen, E. M.] Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht vollziehen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h., sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.»[v]
Rosa Luxemburg zeigt in derselben Broschüre bei ihrer Kritik an den Orientierungen der bolschewistischen Partei und der Sowjetmacht in Hinsicht auf die Nationalitäten- und die Bauernfrage weitaus weniger Scharfsinn. Hierzu bezieht sie dogmatische Standpunkte, die weder den politischen noch den ökonomischen Notwendigkeiten, sowohl aktueller als auch historischer Art (für die Übergangsperiode) Rechnung tragen. Sie kritisiert die zentralen Losungen des Selbstbestimmungsrechts und der Verteilung des Bodens – in der Agrarreform – an diejenigen, die ihn bearbeiten, als „kleinbürgerlich“ und opportunistisch.[vi] Hätten die Bolschewiki sich dem Wunsch nach Selbstbestimmung der gewaltsam ins Zarenreich integrierten Völker entgegengestellt, hätten sie sich dem Landhunger der großen Mehrheit der Bauern und Bäuerinnen entgegengestellt, hätten sie zwangsläufig die Macht verloren. Was sich nach 1928 in der UdSSR ereignet hat und was sich gegenwärtig dort ereignet, bestätigt diese Aussage auf tragische Weise. Wenn die bolschewistische Führung und die bolschewistischen Kader auf diesem Gebiet „gesündigt“ haben − Lenin und Trotzki merklich weniger als andere −, dann vielmehr aus linkem Sektierertum heraus und nicht durch ein Übermaß an Opportunismus. Das Argument der «Parallelen» zu Kautskys Gedankengängen lässt sich im Übrigen gegen Rosa kehren. Denn auch Kautsky klagt Lenin und Trotzki des Opportunismus gegenüber den Bauern an.
Das Arbeiter- und Bauern-Bündnis und der Kriegskommunismus
Es ist schwierig zu beurteilen, inwieweit die Politik der Beschlagnahme des Getreides durch die belagerte Sowjetmacht in den Jahren 1918 bis 1920 – des sogenannten «Kriegskommunismus» – zumindest in einem gewissen Maße unvermeidlich war. Aber es steht fest, dass sie das Arbeiter- und Bauern-Bündnis, also eben die Grundlage der Sowjetmacht, immer mehr zu sprengen drohte. Es ist ebenso gewiss, dass sie zu einem immer deutlicheren Rückgang der Produktivkräfte, vor allem der Nahrungsmittelproduktion, führte, durch den die gesamte russische Wirtschaft zusammenzubrechen drohte. Die landwirtschaftliche Produktion, hauptsächlich von Getreide, war um fast 30 % gesunken, der Pferdebestand um 25 %, der Rinderbestand um 20 %, der Schweinebestand um 28 %, die Industrieproduktion um fast 60 %. Im Austausch für die gleiche Menge Getreide erhielt der Bauer nur noch 5 % der Industrieprodukte, die er 1917/1918 dafür erhalten hatte. Daher seine Weigerung, Getreide gegen praktisch wertloses Geld zu verkaufen. Daher die Notwendigkeit, das Getreide zu beschlagnahmen. Daraus folgte aber auch ein absoluter Rückgang des Anbaus von Getreide und nicht nur einfach ein Zurückziehen der Bauern auf die Subsistenzproduktion. Und wenn die Getreideproduktion sank, gab es auf die Dauer immer weniger zu beschlagnahmen. Daraus folgte eine allgemeine Tendenz zur Spekulation und zum Schwarzmarkt, wodurch vor allem die ärmsten Schichten benachteiligt waren.
Trotzki, während des Bürgerkriegs Oberkommandierender der Roten Armee, befand sich an der Spitze einer Armee, die hauptsächlich aus Millionen von Bauern bestand. Er reiste ständig durch das ganze riesige Land. Deshalb erkannte er besser als Lenin und die anderen Parteiführer die Tagessorgen der Bauernschaft. Er hatte folglich ein Jahr vor Lenin die Aufgabe des «Kriegskommunismus» zugunsten der frühzeitigen Aufnahme einer geschmeidigeren Politik, einer «Neuen Ökonomischen Politik» (NEP) vorgeschlagen. Zu diesem Zeitpunkt stieß er auf den Widerstand von Lenin und der Mehrheit der Führung.[vii]
Wir stimmen in dieser Frage der Einschätzung des sowjetischen Historikers Roy Medwedjew zu, für den der Versuch, nach dem Ende des Bürgerkrieges die Politik der Beschlagnahme von Getreide fortzusetzen, die soziale Krise von 1921 auslöste – den Aufstand von Kronstadt eingeschlossen.[viii] Dies war ein schwerer Fehler, der teuer zu stehen kam. Unter dem «Kriegskommunismus» ist das Proletariat nicht nur numerisch, sondern auch physisch und moralisch geschwächt worden. 1921 erhielten die Produzenten und Produzentinnen in der Industrie nur 30 % der Kalorien, die sie 1913/1914 verbraucht hatten, und weniger als die Hälfte des Verbrauchs von 1916/1917. Dies brachte einen tiefen Rückgang der Arbeitsproduktivität mit sich, die W. H. Chamberlin für das Jahr 1920 auf 26 % des Niveaus von 1913 schätzt.[ix]
Manche haben die Politik des „Kriegskommunismus“ idealisiert, wobei sie den Übergang zu «unmittelbar kommunistischen» Produktions- und Verteilungsformen hervorhoben. Leo Krizman, dessen Buch wir die soeben zitierten statistischen Angaben entnommen haben, spricht in diesem Zusammenhang von der «heroischen Periode der Großen Russischen Revolution».[x] Viele der bolschewistischen Führer haben sich das teilweise zu eigen gemacht. Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht und die Zwänge, die dem Mangel und der Rationierung geschuldet waren, theoretisiert. Sie idealisierten die Rückkehr zur «Naturalwirtschaft» (genauer zu einer Wirtschaft mit den drei Sektoren Subsistenz-, Tausch und Geldwirtschaft). Die gesamte marxistische Tradition und der gesamte Verstand des Proletariats sprechen jedoch gegen diesen «Kommunismus des Elends», mögen auch die sehr egalitären «Modelle», die zu dieser Zeit ausgearbeitet und angewandt wurden, (für die Zukunft!) sympathisch und anregend gewesen sein.[xi] Dieses „Modell“ hat keinerlei Dynamik ausgelöst, die in der Lage gewesen wäre, das Land aus der wachsenden Hungersnot zu führen. Und es hat in den Köpfen eine Verwirrung gestiftet, an die Stalin in den Jahren 1928 bis 1934 in zynischer Weise anknüpfen konnte.
Die Frage der Friedensverhandlungen
Der Bürgerkrieg und der Interventionskrieg der imperialistischen Mächte, vor allem des deutschen Imperialismus, gegen das Russland der Sowjets erklären den Ursprung und die Abweichungen des «Kriegskommunismus» zum Teil. Aber wir berühren hier einen anderen großen Fehler, den die Mehrheit der bolschewistischen Führer und Kader während der Verhandlungen von Brest-Litowsk begangen hat – mit der bemerkenswerten Ausnahme von Lenin, der zu diesem Zeitpunkt den Höhepunkt seines politischen Scharfsinns erreichte: Wir meinen den verspäteten Abschluss des Separatfriedens mit den Mittelmächten.
Es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen den Friedensbedingungen, die diese Mächte während der ersten Phase der Verhandlungen von Brest-Litowsk, die im Dezember 1917 begannen, vorschlugen, und den Bedingungen, die sie nach der Unterbrechung der Verhandlungen durch die Sowjets und der Wiederaufnahme des Vormarsches der deutschen Armee durchsetzten. Die ersteren waren für einen guten Teil der öffentlichen Meinung der Arbeiterklasse und des städtischen Kleinbürgertums noch annehmbar. Die zweiten wurden weithin als nationale Demütigung und Verrat an den Interessen des Proletariats Sowjetrusslands und des internationalen Proletariats empfunden. Außerdem schlossen sie die Kontrolle der Ukraine durch das kaiserliche Deutschland und die Unterdrückung der ukrainischen Bauernbewegung ein. Daher waren die Reaktionen sehr heftig. Die Annahme dieser Bedingungen führte zum Zerbrechen der Koalition von Bolschewiki und linken Sozial-Revolutionären. Sie schürte den Bürgerkrieg kräftig. Die Mehrheit des bolschewistischen Zentralkomitees und der Kader lehnte die rasche Unterzeichnung der Friedensbedingungen ab, die das Ergebnis der ersten Phase der Verhandlungen von Brest-Litowsk waren. Sie können − wie Trotzki für seine «Mittel»-Haltung: «weder Krieg noch Frieden» – zu ihren Gunsten die Tatsache anführen, dass ihre Haltung dem Empfinden der Mehrheit der städtischen Bevölkerung entsprach. Aber sie entsprach nicht dem Empfinden der Mehrheit der Landbevölkerung, ganz zu schweigen von der Stimmung der Soldaten einer in voller Auflösung befindlichen Armee. Und vor allem eröffnete sie keinerlei konkrete Alternative. Sofortiger Sturz der Herrschaft der Hohenzollern und der Habsburger? Wer konnte das garantieren? Sofortige Organisierung eines «revolutionären Krieges»? Mit einer nicht vorhandenen Armee? Die Weigerung, sofort Frieden zu schließen, hatte als einziges Ergebnis zur Folge, dass die deutsche Armee neue recht wichtige Gebiete besetzen konnte, vor allem, dass die Ukraine mit ihren riesigen Reichtümern der Sowjetrepublik entrissen wurde. Lenin hatte es Tag für Tag vorhergesagt. Wiederum ist festzustellen, dass der Preis, den die Revolution für diesen Fehler zahlen musste, sehr hoch war.
Der rote Terror
Die Frage des Terrors – und der Schaffung der Tscheka (der geheimen politischen Polizei) – ist eng mit den Konsequenzen aus dem Frieden von Brest-Litowsk verbunden. Beide sind nur im Lichte dieser Ereignisse zu verstehen. Die Frage des Terrors ist – unabhängig von unzulässigen Exzessen – weniger klar, als manche behaupten. Um das festzustellen, genügt es, sich die Erfahrung des spanischen Bürgerkrieges zu vergegenwärtigen. Damals haben nicht nur die Stalinisten, sondern auch die Anarchisten und die Sozialdemokraten (die rechten, die «in der Mitte stehenden», die linken alle miteinander) sowie viele autonome und nichtorganisierte Arbeitergruppen in beträchtlichem Umfang Maßnahmen des roten Terrors angewandt. Sie hatten keine andere Wahl. Wenn man es mit einem unbarmherzigen, mörderischen, folternden Feind zu tun hat, der vor nichts zurückschreckt, der Frauen und Kinder von politisch Aktiven als Geiseln nimmt, der massenhaft Kriegsgefangene und politische Gegner erschießt, dann muss man gewisse Vergeltungsmaßnahmen treffen, um die Verluste einzuschränken. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand. Mögen die Herren Mörder als erste aufhören, wenn sie es vermeiden möchten, selbst einen hohen Preis für ihre Verbrechen zu zahlen. Es ist festzuhalten, dass Lenin sich nach der Oktoberrevolution darum bemüht hatte, dass nicht zum Terror gegriffen würde. Er erklärte insbesondere:
«Man wirft uns vor, daß wir Verhaftungen vornehmen. Jawohl, wir nehmen Verhaftungen vor, und heute haben wir den Direktor der Staatsbank verhaftet. Man wirft uns vor, daß wir Terror anwenden, aber einen Terror, wie ihn die französischen Revolutionäre anwandten, die waffenlose Menschen guillotinierten, wenden wir nicht an und werden wir, wie ich hoffe, nicht anwenden. Ich hoffe, wir werden ihn nicht anwenden, denn wir sind eine Macht. Als wir Verhaftungen vornahmen, sagten wir: wir lassen euch frei, wenn ihr unterschreibt, daß ihr keine Sabotage treiben werdet. Und solche Unterschriften wurden gegeben.»[xii]
Nur verhielten sich die Konterrevolutionäre trotz des ursprünglichen Großmuts der Bolschewiki völlig zynisch und skrupellos. Die Generäle Krasnow, Kaledin und andere, die Offiziersschüler, die während des Oktoberaufstandes verhaftet worden waren, wurden unter dem Versprechen freigelassen, sie würden sich jeder Aktion gegen die Regierung enthalten. Sie haben ihr Wort sofort gebrochen, zu den Waffen gegriffen und den Tod von Tausenden von Arbeitern verursacht. Das Volk beging diesen Fehler einmal, zweimal, dann schlug es hart zurück. Ist das erstaunlich? A. R. Williams berichtet von einer der besonders zynischen Handlungen der künftigen «Opfer des Terrors», nämlich die Verwendung von Abzeichen des Roten Kreuzes auf Automobilen durch die Weißen in Petrograd im November 1917, um die Umzingelung durch Rotgardisten zu durchbrechen und Waffen heranzuschaffen.[xiii] Williams berichtet auch von einem bewegenden Beweis für die Großzügigkeit der Revolution: Die Offiziersschüler, die nach der Gefangennahme im Winterpalais freigelassen worden waren, schlossen sich den Weißgardisten an und besetzten das Telefonamt von Petrograd. Antonow-Owsejenko, Sekretär des Revolutionären Militärkomitees und einer der Kommissare des Petrograder Sowjets, der den Sturm auf das Winterpalais geleitet hatte, fiel in die Hände der Konterrevolutionäre. Die Aktion der weißen Offiziere und Offiziersschüler brach rasch zusammen. Antonow, eben noch gefangen, wurde nun um sein «Wort als Bolschewik, als wahrer Bolschewik» angefleht, «daß wir sicher sind.» Die Menge der Roten forderte den Tod der Weißgardisten. Antonow zog seinen Revolver und sprach feierlich zu den revolutionären Soldaten, Bauern und Arbeitern: «Den ersten, der einen Offiziersschüler zu töten versucht, werde ich töten.»[xiv] Schließlich konnte er die Menge überzeugen:
«Erkennt ihr, wohin dieser Wahnsinn führt? Wenn ihr einen gefangenen Weißgardisten tötet, so tötet ihr nicht die Gegenrevolution, sondern die Revolution. Für diese Revolution habe ich in der Verbannung und im Kerker zwanzig Jahre meines Lebens gegeben. (…) Und die Revolution bedeutet etwas Besseres. Bedeutet Leben und Freiheit für alle. Deshalb gebt ihr für sie Leben und Blut, aber ihr müßt ihr noch mehr geben. Müßt ihr auch euren Verstand geben. Müßt den Dienst der Revolution über die Befriedigung eurer Leidenschaften stellen. Ihr seid tapfer gewesen, um der Revolution zum Triumph zu verhelfen. Nun seid um ihrer Ehre willen barmherzig. Ihr liebt die Revolution. Ich bitte euch nur darum, nicht das zu töten, was ihr liebt.»[xv]
Aber nach dem Erleiden der barbarischen Gewalttätigkeiten der Konterrevolutionäre änderte sich die Stimmung. Es sei wiederholt: Ist das erstaunlich? Der Umfang des Terrors ist im Übrigen gut einzugrenzen. Die Gesamtzahl der Opfer des roten Terrors bis März 1920 wird offiziell auf 8 620 Personen geschätzt. Morizet schätzt sie auf etwas mehr als 10 000. Nach der Niederlage der weißen Armeen von Denikin und Koltschak hob die Sowjetregierung die Todesstrafe für mehrere Monate auf (sie wurde erst nach der polnischen Offensive gegen die Ukraine im Mai 1920 wiedereingeführt). Die Atmosphäre in Sowjetrussland war weit entfernt von jener allgemeinen Angst, wie so viele Historiker sie schildern. Einen Eindruck vermittelt der Bericht, den Morizet als Augenzeuge des Prozesses gibt, der am 14. Juli 1921 in Moskau gegen Galkin, einem höheren Offizier der Weißen, vor dem Revolutionsgericht stattfand:
«Ich glaube, ich habe nie ein Publikum oder Richter gesehen, die dem Angeklagten gewogener waren, als an diesem Tag. Die 400 Arbeiter oder Soldaten, die sich in diesem Saal drängten, die drei Richter und der Ankläger, alle vier jung, alle schauten mit einer Art Freundschaft auf diesen kleinen Mann von 35 Jahren in abgetragener Kleidung, den ein gemütlicher Unteroffizier mit dem Revolver in der Hand bewachte, um der Vorschrift zu genügen. Keinerlei Schranke zwischen ihnen und ihm. Vier bewaffnete Soldaten, die vor allem an der Verhandlung interessiert waren, begrenzten mehr oder weniger den freien Raum, den die dem Angeklagten vorbehaltene Gartenbank, der Tisch des Verteidigers und unser Tisch einnahmen. Man hätte sich eher bei einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung unter Männern geglaubt, die sich über die Lösung eines Gewissenskonflikts uneins sind, als bei einer Sitzung des schrecklichen Revolutionstribunals.»[xvi]
Galkin ist zu einer leichten Strafe verurteilt und dann bald begnadigt worden, obwohl er die Waffe gegen die Sowjetmacht erhoben hatte. Aber er sagte, er verabscheue – nach den Erfahrungen, die er mit ihnen gemacht hatte – die konterrevolutionären Diktatoren noch mehr. Das Gericht glaubte es ihm aufs Wort.
Die Tscheka
Die Frage der Tscheka unterscheidet sich sehr wohl von dem, wovon soeben die Rede war: punktuellen Terrormaßnahmen während eines grausamen Bürgerkrieges. Sie schließt die Schaffung einer Institution, eines Apparates mit der unvermeidlichen Tendenz jeder Institution und jedes Apparates ein, zum Dauerzustand zu werden und sich jeglicher Kontrolle zu entziehen. Man kann einen faschistischen Folterer nach einem öffentlichen Prozess, selbst nach einem verkürzten, erschießen. Man kann aber eine geheime politische Polizei keiner öffentlichen Kontrolle unterziehen. Die Archive der Tscheka, deren Öffnung dank der Glasnost (der Politik der «Transparenz» unter Gorbatschow) begonnen hat, zeigen deutlich, daß der Wurm von Anfang an in der Frucht war – trotz der persönlichen Redlichkeit von Felix Dserschinski, dem ersten Führer der Tscheka, dem niemand unlautere Absichten unterstellt.
Es genügt, eine Tatsache zu nennen: Mitglieder und Informanten der Tscheka sicherten sich eine Prämie (einen Teil der «Beute») für alles Wertvolle, das bei einem «Spekulanten» oder einem Verantwortlichen für «Wirtschaftsverbrechen» beschlagnahmt wurde. Die korrumpierende Dynamik steht außer Zweifel.[xvii] Dies gilt ebenso für die Tendenz der Tscheka, sich jeder Kontrolle zu entziehen. Diese gefährliche Dynamik ist sehr frühzeitig sichtbar geworden. Eine Anekdote verdeutlicht das. Lenin brachte dem links-menschewistischen Führer Martow größte Wertschätzung und größte Freundschaft entgegen. Eines Tages bestellte ihn Lenin in den Kreml, übergab ihm einen falschen Pass und sagte zu ihm: «Verlass sofort das Land. Sonst wird die Tscheka dich in ein paar Tagen verhaften, und ich werde sie nicht daran hindern können.» G. Leggett, ein dem bolschewistischen Regime extrem feindlich gesonnener Reaktionär, räumt jedoch ein, dass diese Autonomie anfangs nur den Umständen geschuldet war: «Bei dem unvermeidlichen Zusammenprall zwischen der willkürlichen Gewalt der Tscheka und dem System des Sowjetgesetzes, das vom Volkskommissariat für Justiz [NKJu] ausgearbeitet wurde, setzte die Tscheka sich immer dann durch, wenn das Regime bedroht wurde; wenn die Krisen wieder abklangen, gewann das NKJu das Übergewicht.»[xviii]
Lenin selbst war entschieden für die Bildung eines Rechtsstaates und für bedeutende Schritte in diese Richtung. In einem Konflikt über die Reform der politischen Polizei nach dem Ende des Bürgerkrieges, bei dem sich Ende 1921 Dserschinski und Kamenjew gegenüberstanden, unterstützte Lenin den letzteren. Kamenjew hatte vorgeschlagen, die Zuständigkeit der Tscheka solle auf Spionageprobleme, politische Anschläge, den Schutz der Eisenbahn und der Lebensmittellager begrenzt werden; jede andere repressive Tätigkeit sollte Aufgabe des Volkskommissariats für Justiz sein.[xix] Es muss auch festgehalten werden, dass die Tscheka keineswegs ein Geschöpf der bolschewistischen Partei oder Lenins war. Bei ihrer Gründung spielten vor allem die Linken Sozial-Revolutionäre eine Schlüsselrolle. Aber es bleibt wahr, dass von Anfang an eine Tendenz der Tscheka zur Verselbständigung, zu immer größerer Unkontrollierbarkeit bestanden hat. Christian Rakowski hat in diesem Zusammenhang den Begriff «‚professionelle Risiken‘ der Macht» benutzt.[xx] Wir ziehen deshalb die Schlussfolgerung, dass die Bildung der Tscheka zweifellos ein Fehler war.
Quelle: inprekorr.de…
[i] Verratene Revolution. Was ist die U.S.S.R. und wohin treibt sie? Antwerpen 1937, S. 104; in: Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd. 1.2, Hamburg 1988, S. 804 (Übersetzung nach Vergleich mit dem russischen Text verändert).
[ii] Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale [„Übergangsprogramm“], Essen o. J., S. 37 (Übersetzung mit dem russischen Text verglichen).
[iii] Vgl. hierzu jetzt Abschnitt 4 (Die „schwarzen Jahre“ 1920-1921: Trotzkis Hinübergleiten zum Substitutionismus‘) von Kapitel V in Ernest Mandels Buch Trotzki als Alternative, Berlin 1992, S. 118-122; Abschnitt 4 (1920-1921: Die dunklen Jahre Lenins und Trotskis) von Kapitel 3 (Substitutionism und Realpolitik: Die Politik der Arbeiterbürokratien) in seinem Buch Macht und Geld, S. 126-135.
[iv] Vgl. „Zur russischen Revolution“, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 342/352; „Die russische Revolution“, in: Politische Schriften, Bd. III, S. 136
[v] Vgl. „Zur russischen Revolution“, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 342/352; „Die russische Revolution“, in: Politische Schriften, Bd. III, S. 138/139.
[vi] Vgl. „Zur russischen Revolution“, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 342/352; „Die russische Revolution“, in: Politische Schriften, Bd. III, S. 116-126.
[vii] Nachdem sein Vorschlag vom Februar 1920, frühzeitig eine andere Wirtschaftspolitik einzuführen, abgelehnt worden war, vertrat Trotzki eine Zeit lang alternativ die „Militarisierung“ der Arbeit. Dieser Konzeption hatte der IX. Parteitag im März/April 1920 einstimmig zugestimmt. (Vgl. hierzu: E. H. Carr, The Bolschewik Revolution, Bd. 2, S. 211-214; Taschenbuchausg. S. 213-216; vgl. auch die Dokumente in dem Abschnitt The Ninth Party Congress Approves Compulsory Labor’ in: James Bunyan, The Origin of Forced Labor in the Soviet State, 1917-1921. Documents and Materials, Baltimore 1967, S. 117-131.) Die NEP ist dann von März/Mai 1921 an eingeführt worden. Sie stellte einen tiefen Bruch mit der Kommandowirtschaft des Kriegskommunismus dar, dadurch dass der Markt und die bäuerliche Wirtschaft liberalisiert wurden, eine gewisse Entwicklung privater Kleinindustrie gefördert wurde, ausländische Investitionen ins Land geholt werden sollten.
[viii] Roy A. Medwedjew, Oktober 1917, Hamburg 1979, S. 227. Im März 1921 rebellierte die Garnison von Kronstadt, einem Hafen am baltischen Meer in der Nähe von Petrograd. Nachdem die Verhandlungen mit der Regierung gescheitert waren, wurde der Aufstand von der Roten Armee niedergeschlagen. Wir versuchen in diesem Essay nicht, das Problem der Kronstädter Revolte von Kronstadt und deren Unterdrückung durch die Sowjetmacht genauer zu analysieren. Unserer Auffassung nach geht es in Anbetracht dessen, dass der Bürgerkrieg noch nicht vollständig beendet war, um eine Frage einer taktischen politischen Bewertung, keine Prinzipienfrage. Die Schwierigkeit der Debatte über dieses Thema liegt darin, dass die meisten Kritiker und Kritikerinnen der Entscheidung der Bolschewiki ihre Wertung mit spezifisch politischen Einschätzungen begründen: dem Charakter der Forderungen der Aufständischen, dem Charakter der vorhandenen politischen Kräfte usw. Unserer Auffassung nach ist jedoch in einer Bürgerkriegssituation der Charakter der vorhandenen sozialen Kräfte (und deren „Logik“) ausschlaggebend. Die Informationen, über die wir in dieser Hinsicht verfügen, erlauben aber keine definitiven Schlussfolgerungen. Die einen, vor allem die Anarchistinnen und Anarchisten sagen, die Kronstädter Matrosen seien – wie 1917/18 – im wesentlichen Industriearbeiter gewesen; ihre Revolte stand im Zusammenhang mit den Arbeiterprotesten vom Februar 1921 in Petrograd und anderswo; es ging also um das Problem der Rätedemokratie, der proletarischen Demokratie. Andere – vor allem Trotzki – sagen, die proletarischen Matrosen von 1917/18 seien weitgehend nicht mehr auf den Schiffen und an den Hafenanlagen von Kronstadt gewesen; sie waren an der Front gefallen, von der Roten Armee und dem Staatsapparat aufgesaugt worden usw.; die Matrosen des Winters 1920/21 waren Söhne von Mittleren und wohlgenährten Bauern; ihre Revolte stand im Zusammenhang mit der Ablehnung des „Kriegskommunismus“ und der Getreidebeschlagnahme; man musste mit ihnen verhandeln, durfte aber nicht auf eine soziale Dynamik einlassen, die womöglich die konterrevolutionäre Bedrohung Petrograds verstärkt hätte – eine nationale und internationale Gefahr, denn das Schmelzen des Eises um die Festung Kronstadt konnte den Hafen für Kriegsschiffe zugänglich machen, die auf Seite der Weißen eingegriffen hätten.
[ix] Die russische Revolution, 2.Bd., S. 101.
[x] L. Kritsman, Die heroische Periode der Großen Russischen Revolution. Ein Versuch der Analyse des sogenannten „Kriegskommunismus“, Wien Berlin 1929; statistische Daten S. 242, 243, 254, 255, 295.
[xi] Marx und Engels haben vor einem derartigen «Kommunismus des Elends» gewarnt, bei dem nur der Mangel verallgemeinert und der unvermeidlich mit der Wiederherstellung der «ganzen alten Scheiße» enden werde: «(…) andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandene empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung [für die Aufhebung der „Entfremdung“], weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte (…)» (Die deutsche Ideologie in: MEW, Bd. 3, S. 34/35.)
[xii] «Rede in der Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zusammen mit den Vertretern der Front» (4.11.1917), in: LW, Bd. 26, S. 289.
[xiii] Durch die russische Revolution 1917-1918, Berlin 1922, S. 112-118; neue Ausg. in: Albert Rhys Williams, Ein Amerikaner im revolutionären Rußland. Reportagen, Berlin/DDR 1982, S. 110- 114.
[xiv] Vgl. A. R. Williams, Durch die russische Revolution, S. 119-131, Zitate S. 123, 125; A. R. Williams, Ein Amerikaner im revolutionären Rußland, S. 114-126, Zitate S. 119, 121.
[xv] W. A. Antonow-Owsejenko, zit. nach: Durch die russische Revolution, S, 125, 126; Ein Amerikaner im revolutionären Rußland, S. 121, 122.
[xvi] André Morizet, Chez Lénine et Trotski, Moskau 1921, S. 429.
[xvii] Dies wird auch von W. H. Chamberlin eindeutig bestätigt (Die russische Revolution, 2. Bd., S. 67).
[xviii] The Cheka: Lenin’s Political Police. The All-Russian Extraordinary Commission for Combating Counter-Revolution and Sabotage (December 1917 to February 1922), Oxford 1981, S. 171.
[xix] Vgl. G. Leggett, The Cheka: Lenin’s Political Police, S. 341-343. Dokumente vom 15. und 29. November und vom 1. Dezember 1921 (ein Auszug aus einem Protokoll des Rats der Volkskommissare, eine Aktennotiz von Lenin, Lenins Rohentwurf für einen Politbüro-Beschluss und ein Auszug aus einem Protokoll des Politbüros) zur Reform der Tscheka, die kurz darauf, Ende Januar / Anfang Februar 1922, als GPU (Staatliche Politische Verwaltung) in das NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) eingegliedert wurde, sind auf Deutsch abgedruckt in; W. I. Lenin und die Gesamtrussische Tscheka, S. 594/ 595, 603, 606/607; Lenins Aktennotiz für Kamenjew ist auch in der Ausgabe seiner Briefe veröffentlicht worden, sein Entwurf für einen Beschluss des Politbüros über die Tscheka («die Kompetenz einengen», «in Bezug auf Verhaftungen die Rechte noch mehr einengen») in einem Ergänzungsband zur Werkausgabe (LW, Ergänzungsbd. Oktober 1917 − März 1923, S. 382/383).
[xx] «Die Ursachen der Entartung von Partei und Staatsapparat (Brief an Walentinow)» (6.8.1928), in: L. Trotzki, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd. 1.2, S.1347.
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