Macron erklärt EisenbahnerInnen den Krieg
Marc Lassalle. Am 22. März fanden Streiks und Demonstrationen in ganz Frankreich statt. Sie wurden von den meisten Gewerkschaften des öffentlichen Diensts, die das Eisenbahn-, Schul- und Krankenhauspersonal, BeamtInnen, FluglotsInnen und Pariser U-Bahn-MitarbeiterInnen vertreten, ausgerufen. Ihr Ziel war, das „Gesetzesprojekt für einen neuen Eisenbahnpakt“ von Präsident Emmanuel Macron, dem Pin-up-Boy der internationalen Bourgeoisie, zu Fall zu bringen.
Der Angriff
Es besteht nur aus vier Seiten und 8 kurzen Artikeln, enthält aber eine echte Kriegserklärung. Damit hat Macron die Feindseligkeiten gegen EisenbahnerInnen mit einem weitreichenden Angriff eröffnet: Änderung des Status der SNCF (der staatlichen Eisenbahngesellschaft mit 146.000 Beschäftigten) in Richtung Privatunternehmen, Öffnung der französischen Eisenbahnen für den Konkurrenzkampf (derzeit ist sie ein staatliches Monopol), Abbau von 4000 bis 9000 km Nebenstrecken und Verhinderung der Neueinstellung von Beschäftigten unter bestehenden kollektiv vereinbarten Arbeitsbedingungen der SNCF.
Letzteres ist das Herzstück der Attacke. Die EisenbahnerInnen verfügen aufgrund vieler Kämpfe in der Vergangenheit über vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen sowie eine Entschädigung für Nacht- und Wochenendarbeit. Diese „Privilegien“ werden seit Jahrzehnten medial und politisch angegriffen, obwohl die Gehälter dem nationalen Durchschnitt entsprechen und die Belegschaften bereits besondere Verrentungsbedingungen verloren haben. Der Hauptgrund für den Angriff ist jedoch, dass die ArbeiterInnen der SNCF nach wie vor eine Hochburg des militanten Gewerkschaftswesens sind, und zwar einer der letzten gut organisierten und kämpferischen Industriesektoren in Frankreich.
Von seinem Erfolg im Herbst beseelt, als seine Regierung ohne ernsthaften Widerstand ein neues Arbeitsgesetz (Code du Travail) verhängte, das die Bosse völlig begünstigte, will Macron dieser Avantgarde der französischen ArbeiterInnenklasse, dem Kern des Widerstands innerhalb der verschiedenen sozialen Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte, eine große strategische Niederlage aufzwingen. Jede/r denkt noch an den langen Streik von 1995, als die EisenbahnerInnen das Land für drei Wochen lahmlegten und am Ende der rechten Regierung Alain Juppés eine demütigende Niederlage zufügten.
Macron profitiert von einer außergewöhnlich starken parlamentarischen Mehrheit und möchte diese neue „Reform“ ohne öffentliche Debatte auf dem Wege von Verordnungsdekreten durchsetzen, so wie er es mit dem Arbeitsgesetz getan hat. Das sind kurze Ermächtigungsgesetze, die der Regierung einen Blankoscheck aushändigen, damit sie tun kann, was sie will. Diese Eile hat keine wirkliche Rechtfertigung, abgesehen von dem Versuch, die Debatte im Parlament und im Land zu verkürzen und die ArbeiterInnen vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Er will auch die politische Krise nutzen, die die ArbeiterInnenbewegung erschüttert. Ihre traditionellen Parteien, die Sozialistische Partei, PS, und die Kommunistische Partei, PCF, befinden sich in völliger Zerrüttung, während die Neue Antikapitalistische Partei, NPA, stark geschwächt ist. Jean-Luc Mélenchons Versuche, sie mit seiner populistischen Bewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) zu beerben, sind trotz wiederholter rhetorischer Heißluft nie richtig in Gang gekommen.
Als Grund für die Veränderungen werden die Vorgaben der Europäischen Union (EU) herbeizitiert. Doch dies ist eine Ausrede. Die EU ist heute so geschwächt, dass sie eine andere Entscheidung Frankreichs für den Eisenbahnsektor akzeptieren müsste. Die Wahrheit ist, dass die französische Regierung diesen öffentlichen Dienst in ein privates Unternehmen umwandeln will, das auf Profit ausgerichtet ist. Sie wünscht, dass das Schienennetz auf Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen den wichtigsten Städten beschränkt bleibt, mit Nahverkehrszügen in dichten Stadtgebieten. Die NutzerInnen in ländlichen und verarmten Gebieten sowie solchen mit einem hohen ArbeiterInnenanteil an der Bevölkerung lässt der Rahmen dieses neuen Geschäftsplans eindeutig außer Acht.
Die Öffnung des Marktes sowie eine Klausel, die die EisenbahnerInnen verpflichtet, jeden neuen Arbeitsplatz in diesem Sektor, auch bei privaten Unternehmen, anzunehmen, wird zu einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen führen. Was auch immer von den derzeitigen Verhältnissen übrig bleiben sollte, würde ständig der Gefahr, unterlaufen zu werden, ausgesetzt sein. Mit dem Angriff auf die SNCF verfolgt Macron auch einen großen politischen Sieg, der den Weg für weitere „Reformen“ gegen den öffentlichen Dienst ebnen könnte.
Eines der Wahlversprechen Macrons war, die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 120.000 zu reduzieren. Ähnliche „Reformen“ sind in Vorbereitung, unter anderem in den Bereichen Gemeindeverwaltung, Schulen und Gesundheitswesen. Macron will „Jobs auf Lebenszeit“ für die Staatsbediensteten untergraben und sie durch „prekäre“ ArbeiterInnen mit niedrigeren Löhnen und niedrigen oder gar keinen Renten ersetzen.
Als unverschämter Verfechter des Neoliberalismus, der den individuellen wirtschaftlichen Erfolg als einziges wichtiges Kriterium lobt, träumt Macron von einer umfassenden Umgestaltung der französischen Wirtschaft, die nach wie vor auf einen bedeutenden öffentlichen Dienst angewiesen ist. Bisher ist er auf wenig Widerstand gegen seine Schocktaktik gestoßen.
Die aktuelle Angriffswelle wird jedoch nicht ohne einen ernsthaften Klassenkampf ausgehen. Der Aktionstag und die Streiks am 22. März waren ein klarer Erfolg, warfen aber die Frage auf, was die nächsten Schritte sein sollten, denn der letzte ähnliche Aktionstag passierte im Oktober 2017.
Kampftaktiken
Alle Gewerkschaften der SNCF haben die Reform abgelehnt, und die stärksten Gewerkschaften, einschließlich der CGT, rufen zu Streiks im April und Mai auf. Leider ist die gewählte Streiktaktik von Anfang an bürokratisch. Sie besteht aus zwei Streiktagen pro Woche, die von den Leitungsgremien der Gewerkschaft im Voraus festgelegt werden. Die französische Gewerkschaftstradition, insbesondere bei der SNCF, sieht unbefristete Aktionen vor, bei denen der Streik jeden Morgen auf jeder Arbeitsstelle von der Generalversammlung der Beschäftigten gemeinsam beschlossen wird. Indem die GewerkschaftsbürokratInnen den Streik im Voraus für die nächsten Monate planen, erzwingen sie eine strengere Kontrolle des Kampfes von oben – nützlich, wenn sie beschließen, ihn zu beenden.
Laurent Brun, Leiter der CGT-EisenbahnerInnen, spricht erwartungsgemäß von einem guten Kampf. „Wir nehmen die Herausforderung an. Dies wird sicherlich eine der größten sozialen Bewegungen in der Geschichte der SNCF sein“, sagte er. Es scheint allerdings auch, als hätte Macron die Unterstützung durch Laurent Berger, den Generalsekretär des CFDT-Gewerkschaftsverbandes, verloren, der die Regierung beschuldigt hat, „den ArbeiterInnen der Eisenbahn und des öffentlichen Dienstes ins Gesicht zu spucken“. Bei der „Reform“ des Code du Travail konnte Macron Berger noch benutzen, um die Gewerkschaften zu spalten und die CGT zu isolieren.
Der Kampf der ArbeiterInnen der SNCF ist in der Tat so bedeutsam, dass alle französischen ArbeiterInnen ihn aktiv unterstützen müssen, am besten, indem sie auf eigene Forderungen hin streiken. In mehreren anderen Sektoren wurde in letzter Zeit die ArbeiterInnenschaft mobilisiert oder wird es bald werden: bei Air France, dem riesigen Einzelhändler Carrefour, EHPAD (Etablissement d’Hébergement pour Personnes Agées Dépendantes; deutsch: Niederlassung für die Unterbringung abhängiger älterer Personen), also ArbeiterInnen, die sich um ältere Menschen in Heimen kümmern, und SchullehrerInnen. Auch die SchülerInnen haben sich in den letzten Wochen gegen eine „Reform“ ihrer Gymnasien eingesetzt, die den Zugang zu den Universitäten stark einschränken wird.
In diesem Zusammenhang ist der von Olivier Besancenot von der NPA initiierte und von 16 Gruppen, darunter der PCF, unterzeichnete Aufruf zur Solidarität ein Schritt in die richtige Richtung. Eine Massenbewegung und ein Sieg für die EisenbahnerInnen wären ein Sammelpunkt für die gespaltene französische Linke und die Gewerkschaften.
Der 22. März, der Tag des Streiks, war der 50. Jahrestag der Besetzung des Campus der Universität Nanterre (Universität Ouest Paris-Nanterre La Défense oder Universität Paris X) , die die Bewegung initiierte, die mit dem Generalstreik und den Barrikadenkämpfen im Mai 1968 ihren Höhepunkt erreichte. Heute müssen die französischen ArbeiterInnen und Jugendlichen dem Beispiel dieses Streiks mit Massenmobilisierungen, Betriebsbesetzungen und einem Generalstreik folgen, der von der Basis kontrolliert wird. Tatsächlich kann nur eine Bewegung dieser Stärke das gesamte Reformpaket von Macron zu Fall bringen. Im Kampf müssen die ArbeiterInnen und Jugendlichen Organe der Selbstorganisation schaffen, um die Kontrolle über den Streik zu übernehmen und ihre Forderungen nicht nur an die Regierung, sondern auch an ihre eigenen nationalen FührerInnen zu stellen.
Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 28. März 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Frankreich, Gewerkschaften, Neoliberalismus, Sozialdemokratie, Strategie, Widerstand
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