Vorwort zu «Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken»
Ralf Ruckus. Ende 2016 begannen mehr als 1.000 LeiharbeiterInnen beim chinesisch-deutschen Joint Venture FAW-Volkswagen in Changchun, China, einen Arbeitskampf. Viele von ihnen waren mehrere Jahre von ihrer Leiharbeitsfirma in die Fabrik des Joint Ventures geschickt worden, verdienten jedoch weniger als die direkt bei FAW-Volkswagen Beschäftigten – obwohl sie an den Montagelinien die gleiche Arbeit verrichteten. Die LeiharbeiterInnen forderten „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“, einen Ausgleich für die vergangenen Jahre ungleicher Bezahlung, bessere Arbeitsverträge und anderes mehr. In den folgenden Monaten organisierten sie Demonstrationen, schrieben Petitionen und zogen vor Gericht. FAW-Volkswagen machte kaum Zugeständnisse, die örtlichen
Gerichte wiesen ihren Fall ab und im Juni 2017 verhafteten die lokalen Behörden einige der Arbeiteranführer.[1] Dies ist ein prominentes Beispiel für die Arbeiterproteste von AutomobilarbeiterInnen in China in jüngster Zeit und vor allem ein Kampf, der von denen getragen wird, die oft als „schwach“ gelten – den LeiharbeiterInnen.
Im vorliegenden Buch Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken beschreibt Zhang Lu, wie die Arbeitgeber die Zweiteilung der Belegschaften seit Jahren einsetzen, um mit Unterstützung des Staates ihre ArbeiterInnen in zwei Gruppen zu spalten – Direktbeschäftigte und LeiharbeiterInnen – und so ihre Kämpfe zu schwächen. Diese Strategie war bisher nur teilweise erfolgreich. Im Laufe ihrer Untersuchung von Mitte der 2000er bis Anfang der 2010er Jahre in sieben großen Automobilfabriken Chinas – darunter zwei chinesisch-deutschen Joint Ventures – begegnete Zhang Lu diversen Widerstandsformen von LeiharbeiterInnen und Direktbeschäftigten, wie Leistungszurückhaltung, Sabotage, offenen Protesten und Streiks.[2]
Der bisher aufsehenerregendste Kampf von AutomobilarbeiterInnen in China war der Streik in einem Getriebewerk von Honda in Foshan Mitte 2010 – mit jungen WanderarbeiterInnen und PraktikantInnen als aktivste Kraft. Jener Streik machte sich die starke Produktionsmacht der ArbeiterInnen zunutze, die diese aufgrund des just-in-timeProduktionssystems in der Automobilindustrie haben. Die Streikenden konnten den Produktionsprozess an einer entscheidenden Stelle stören und so die Produktion in allen Montagewerken Hondas in China zum Stillstand zu bringen. Die ArbeiterInnen des Getriebewerks gewannen deutliche Lohnerhöhungen, und ihr Kampf, über den weitläufig berichtet wurde, löste in dem Jahr eine Welle weiterer Streiks aus, die viele Arbeitgeber zu Lohnerhöhungen von mehr als zwanzig Prozent zwangen. Die chinesische Regierung war aufgrund der sozialen Unruhe besorgt und versuchte die Situation zu entschärfen, indem sie die Mindestlöhne deutlich anhob.[3]
Diese Streiks, und viele Kämpfe in anderen Sektoren in China seit Mitte der 2000er Jahre, wurden weitgehend von WanderarbeiterInnen organisiert, den Arbeitskräften, die hinter dem Aufstieg Chinas zum globalen Zentrum der Industrieproduktion seit den 1990er Jahren standen. Ihre Kämpfe machten China im vorigen Jahrzehnt zum „neuen Mittelpunkt der globalen Arbeiterunruhe“.[4]
Zhang Lus Buch Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken hilft uns, die Entwicklung und die sozialen Beziehungen in den Betrieben sowie den lokalen, regionalen und globalen Kontext dieser Kämpfe in einem zentralen Wirtschaftssektor, der Automobilindustrie, zu verstehen. Für die chinesische Regierung ist die Automobilindustrie eine strategische „industrielle Säule“, und Veränderungen und Arbeitskämpfe in dem Sektor haben starke und weitreichende Auswirkungen, weil China nicht nur der weltweit größte Produzent
von Automobilen ist, sondern auch den größten Automobilmarkt stellt. So ist es kein Wunder, dass alle großen Automobilunternehmen dort Produktionsstätten haben – auch deutsche Firmen wie Volkswagen, Audi, Mercedes Benz und BMW.
Die Autorin beschreibt die Entwicklung des weitgehend autonomen Automobilsektors in der Mao-Zeit, der in der Reformperiode umstrukturiert wurde und expandierte. Sie beschreibt die historische Rolle des chinesischen Staates und der größten Automobilkonzerne der Welt, die mit staatlichen Unternehmen zusammen Joint Ventures gründeten und so den Aufstieg der Industrie in den 1980ern und 1990ern einleiteten. Und sie schildert die Wirkung von Chinas WTO-Beitritt 2001, die neue Welle ausländischer Investitionen und den Aufstieg der chinesischen Automobilhersteller in den 2000er und frühen 2010er Jahren. Auf der Grundlage ihrer beobachtenden Forschung und einer großen Anzahl von Interviews in den Fabriken analysiert sie die Veränderungen auf Betriebsebene, die harten Arbeitsbedingungen an den Montagelinien, die strenge Fabrikhierarchie und die zweifelhafte Rolle der betrieblichen Gewerkschaftssektionen und Komitees der Kommunistischen Partei, die auf der Seite der Arbeitgeber stehen. Sie unterstreicht die Bedeutung der sozialistischen Vermächtnisse für die Betriebsführung und die Kontrolle der ArbeiterInnen sowohl in den staatlichen Unternehmen als auch in den Joint Ventures ausländischer Unternehmen mit chinesischem Staatskapital. Ihre Belege zeigen, dass der Druck von unten durch die ArbeiterInnen, ohne jegliche gewerkschaftliche Vertretung, zu Lohnerhöhungen und politischen Veränderungen führten, so auch zur Verabschiedung von Gesetzen wie dem Arbeitsvertragsgesetz von 2008.
Seit der Veröffentlichung des englischen Originals 2015 hat sich die chinesische Automobilindustrie vielfach verändert, so auch durch den gegenwärtigen Übergang zu Elektroautomobilen und die damit zusammenhängende Reorganisation des Sektors. Zhang Lus Beobachtungen sind jedoch immer noch gültig. So unterstreicht sie die Bedeutung der anhaltenden Kämpfe chinesischer AutomobilarbeiterInnen für die Reaktionen von Staat und Arbeitgebern, die sinkende Profite vermeiden wollen und die Form und das Tempo der Umstrukturierung entsprechend festlegen. Staat und Arbeitgeber versuchen, den Gegensatz zwischen der Erhaltung der Profitabilität (im Interesse des Kapitals) und der Wahrung der Legitimität (unter den ArbeiterInnen) zu entschärfen, indem sie Spaltungslinien ziehen – zum Beispiel durch die immer häufigere Zweiteilung von Belegschaften. Das führt zu Konfrontationen mit Direktbeschäftigten und LeiharbeiterInnen, wie der anhaltende Kampf der LeiharbeiterInnen von FAW-Volkswagen in Changchun zeigt.
Nach einem Jahr Arbeitskampf bot FAW-Volkswagen im Dezember 2017 den LeiharbeiterInnen direkte Arbeitsverträge beim Joint Venture an – unter der Bedingung, dass sie auf einen Ausgleich für die vergangenen Jahre ungleicher Bezahlung verzichten. Das sah nach einem schmutzigen Trick aus, weil die Verträge der ArbeiterInnen mit ihrer Leiharbeitsfirma Ende des Monats auslaufen sollten und sie vor die Wahl gestellt wurden, das Angebot anzunehmen oder ihren Job ganz zu verlieren. Die meisten nahmen es an, und nur eine Handvoll weigerte sich und erklärte, den Kampf fortsetzen zu wollen.
Einer der ArbeiterInnen, ihr Anführer Fu Tianbo, ist weiterhin im Gefängnis und wartet auf sein Gerichtsverfahren. Die Anklage lautet „Versammlung einer Menschenmenge, um die soziale Ordnung zu stören“, ein üblicher Vorwurf chinesischer Behörden, mit dem sie versuchen, jene zum Schweigen zu bringen und einzusperren, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen.
Schon im Sommer 2017 hatten die chinesischen LeiharbeiterInnen aus Changchun – angesichts der unnachgiebigen Position ihrer chinesischen und deutschen Arbeitgeber und der chinesischen Behörden – Briefe an Volkswagen, die Volkswagen-ArbeiterInnen und den Betriebsrat von Volkswagen in Deutschland geschickt und um Unterstützung gebeten.[5]
Vom Konzern kam kaum eine Reaktion, ebenso wenig von ArbeiterInnen und gewerkschaftlichen BasisaktivistInnen von Volkswagen, und deutsche IG-Metall-Betriebsräte von Volkswagen schrieben einen bezeichnenderweise gleichgültigen Brief, in dem sie die chinesischen ArbeiterInnen aufforderten, sich vor Ort an FAW-Volkswagen und die lokalen Behörden zu wenden – also die Firma, gegen die sich die ArbeiterInnen zur Wehr setzten, und die Behörden, die verantwortlich waren für die Ablehnung des Falles durch die Gerichte und die Verhaftung der Arbeiteranführer.[6] Nachdem sie diese Antwort bekommen hatten, postete einer der chinesischen LeiharbeiterInnen online: “Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selbst kämpfen!“[7]
Chinesisch-deutsche Joint Ventures – darunter die von Volkswagen – stehen auch im Mittelpunkt dieses Buches, und die Kollaboration des chinesischen Staatskapitals mit einem deutschen halbstaatlichen Unternehmen wie Volkswagen zeigt die ergänzende Rolle, die beide in der Organisation der Ausbeutung in Chinas autoritärem System spielen. Das erinnert uns an die Rolle von Volkswagen in der Unterdrückung von Arbeiterwiderstand durch andere autoritäre Regime wie Brasilien und Südafrika in den 1980er Jahren, die kürzlich in deutschen Medien heiß diskutiert wurde.[8] Das Buch bietet wichtige Informationen und Einsichten zu dieser Kollaboration von deutschem (und anderem ausländischem) Kapital mit chinesischem Staatskapital, den Formen der Ausbeutung und den Arbeiterkämpfen für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Es ist zu hoffen, dass es unter ArbeiterInnen und AktivistInnen in der deutschsprachigen Welt mehr Interesse für die Situation und Kämpfe von ArbeiterInnen in China hervorrufen und zu mehr Unterstützung führen wird. Zum selben Zweck werden zusätzliche Informationen, Artikel, Links und mehr zum Buch, zur chinesischen Automobilindustrie und zu den Kämpfen von AutomobilarbeiterInnen auf der Website gongchao.orgveröffentlicht.[9]
Quelle: gongchao.org… vom 18. April 2018
[1] Mehr zu diesem Kampf siehe Ruckus, Ralf. 2017. „,Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selbst kämpfen!‘ – LeiharbeiterInnen beim Automobilhersteller FAW-VW fordern gleiche Entlohnung und werden kriminalisiert. Gleichzeitig brechen anderswo bei VW Arbeiterkämpfe aus.“ gongchao.org, 12. Oktober [http://www.gongchao.org/2017/10/12/leiharbeiter-bei-faw-vw-in-china-im-kampf/] und Xia Nü. 2018. „Has the Workers’ Protest at FAW-VW Ended?“ gongchao.org, 15. Januar [http://www.gongchao.org/2018/01/15/has-the-workers-protest-at-faw-vw-ended].
[2] Zhang Lu analysierte die Entwicklung der chinesischen Automobilindustrie und der dortigen Arbeiterkämpfe bereits in einer früheren Veröffentlichung: Zhang Lu. 2008. „Chinas Automobilindustrie – Schlanke Produktion und Kontrolle der ArbeiterInnen in einem Zeitalter der Globalisierung.“ In: Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a. Aufbruch der zweiten Generation: Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Berlin, S. 50–78. Siehe auch die Besprechung des vorliegenden Buches und ein Interview mit der Autorin in Ruckus, Ralf. 2016. „Chinese Capitalism in Crisis, Part 1: Zhang Lu on exploitation and workers’ struggle in China’s auto industry.“ In: Sozial.Geschichte Online, 18, S. 119–144 [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-41181/07_Ruckus_ZhangLu.pdf].
[3] Mehr zu dem Kampf bei Honda findet sich in Gongchao, FreundInnen von. 2010. „,Sie haben das selbst organisiert‘ – Die Streikwelle von Mai bis Juli 2010 in China.“ In: Pun Ngai, Ching-Kwan Lee u.a. Aufbruch der zweiten Generation (siehe Fußnote 2), S. 225–257 [http://www.gongchao.org/2010/10/01/sie-haben-das-selbst-organisiert-die-streikwelle-von-mai-bis-juli-2010-in-china].
[4] Siehe Silver, Beverly J., und Zhang Lu. 2010. „China als neuer Mittelpunkt der globalen Arbeiterunruhe.“ In: Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 40/161, S. 605–618 [http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2010/silver-zhang.pdf]. Zwei frühere Bücher in dieser Reihe beleuchten die Kämpfe von WanderarbeiterInnen in China und ihre regionale und globale Bedeutung in einem anderen Sektor beziehungsweise in einer wichtigen Industriezone: Pun Ngai u.a. 2013. iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien [http://www.gongchao.org/de/islaves-buch] und Hao Ren u.a. 2014. Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Wien [http://www.gongchao.org/de/streiks-buch].
[5] Einige Briefe sind hier dokumentiert: [http://www.labournet.de/?p=119093], [http://www.labournet.de/?p=122305], und [http://www.labournet.de/?p=120251].
[6] Siehe [http://www.labournet.de/?p=119093].
[7] Ruckus. 2017. „,Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selbst kämpfen!‘“ (siehe Fußnote 1). Einige ArbeitsaktivistInnen, wie die von LabourNet Germany, veröffentlichten nicht nur die Briefe der chinesischen LeiharbeiterInnen, sondern unterstrichen auch, dass sie den Kampf unterstützen. Siehe unter anderem die Beiträge unter [http://www.labournet.de/category/internationales/china/arbeitsbedingungen-china/vw-china].
[8] Siehe unter anderem Der Spiegel. 2017. „Volkswagen soll Militärdiktatur in Brasilien unterstützt haben.“ Spiegel Online, 24. Juli [http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/brasilien-volkswagen-soll-militaerdiktatur-unterstuetzt-haben-a-1159357.html].
[9] Siehe [http://www.gongchao.org/de/auto-buch].
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Bücher, China, Deutschland, Neoliberalismus
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