Lenin – Die Wette auf die Arbeiterklasse. Zur Lenin-Biografie von Lars Lih
Es ist seit langem geradezu Mode innerhalb der «Linken», die Fehlschläge der proletarischen Revolutionen dem Konto Lenins, der Bolschewiki, von Marx und Engels oder gar demjenigen von der Arbeiterklasse zu belasten. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Lenin-Biografie von Lars T. Lih (Lenin, Reaktion Books, 2011)?
Ein zentraler und immer wieder geäusserter Vorwurf an die Adresse Lenins ist, dass er kein Vertrauen in die Arbeiterklasse gehabt habe. Er und damit die revolutionären proletarischen Parteien hätten deren revolutionären Segmenten die Führung «von aussen», durch die «Intellektuellen», aufdrängen wollen. Lih hat bereits 2008 eine bahnbrechende Arbeit zu dieser Debatte veröffentlicht (Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context).
Dort geht es ihm um den Nachweis, dass erstens Lenin bezüglich der Auffassung über Ziel und Methoden des Parteiaufbaus auf der Linie von Karl Kautsky und damit der international massgebenden deutschen Sozialdemokratie war und, zweitens, dass er ab den 1890er Jahren einen sehr intensiven und aufmerksamen Kontakt zu den kämpferischen Segmenten der russischen und der internationalen Arbeiterbewegung, den «Praktiki», unterhielt. Dies ganz im Gegensatz zu anderen Führern der Sozialdemokratie. Lih entwurzelt damit dieses hartnäckige und oft böswillige Argument gegen Lenin und die Bolschewiki.
Drehbuch der Revolution in drei Akten
Lih entwickelt in seiner Lenin-Biografie dieses Argument weiter. Er stellt Lenins Leben in ein Drama der Revolution aus drei Akten. Jeder dieser Akte repräsentiert zugleich eine Dekade in seiner Karriere als Revolutionär. Lenin hielt gemäss Lih Zeit seines Lebens an einer Art «heroischer Auffassung über die Führung und die Rolle der internationalen Arbeiterklasse» an diesem Drehbuch fest. (47).
Lenin war bereits um 1904 der «unter den Praktiki am besten abgestützte und populärste Führer», wie Axelrod, der Führer der Menschewiki damals bedauernd an Karl Kautsky schrieb und sich über ihn als «Störenfried» beklagte (91).
Die Februar-Revolution 1917 bestätigte erneut den bis zuletzt durchgehaltenen Optimismus Lenins bezüglich der heroischen Rolle des revolutionären Proletariats. Durch sein Eingreifen anfangs April 1917 brachte er mit seinem Aufruf «Ergreift die Macht!» (135) schnell die Partei und insbesondere die Praktiki hinter sich. Diese Position brachte den Bolschewiki bis in den späten Sommer Hundertausende neuer Mitglieder.
Die Frage des Thermidors
Trotz der einsetzenden ungeheuren Schwierigkeiten nach der Oktoberumwälzung kam nun die «glücklichste Zeit in Lenins Leben» – wie auch im Leben anderer Revolutionäre. Diese sollte erst ab 1920 zu Ende gehen (170), als absehbar war, dass die proletarischen Revolutionen in Europa scheiterten, die wirtschaftlichen Probleme in Russland zu einer tödlichen Gefahr wurden, der weitgehend vom Zarismus übernommene Staatsapparat nicht reformierbar war und die bürokratischen, retardierenden Elemente in der Gesellschaft und in der Partei überhandnahmen. Und dies angesichts eines bereits im Sommer 1917 einsetzenden und bis ins 1921 dauernde Bürgerkrieges, an dem sich ab dem frühen 1918 19 Länder des «demokratischen Westens» mit bedeutenden Waffenlieferungen und Detachementen beteiligten, um der demokratischsten Revolution der Geschichte den Garaus zu machen. Diese Faktoren werden ab der Mitte der 1920er Jahre den Thermidor, die allmähliche Liquidierung der Errungenschaften der politischen und der weit gediehenen sozialen Revolution, vorwärtstreiben. Ferner musste Lenin zunehmend erkennen, dass er ans Ende seiner Schaffenskraft gelangt war (164). Ab 1922 hat er mehrere Male an Selbstmord gedacht.
In dieser Phase nahm Lenins Neigung für autoritäre Lösungen der schwerlastenden und kaum mehr handhabbaren Probleme eher zu. Nie aber schritt er zur Inhaftierung, Schikanierung oder gar Ermordung von Genossinnen und politischen Gegnern im Umfeld der russischen Arbeiterbewegung – wie dies seine Nachfolger, insbesondere Stalin, mit einer gründlichen Systematik auch international betrieben haben. Zur Lösung der schwerlastenden Probleme war Gewalt «schlicht und einfach nicht vorgesehen» (203). Dieser Aspekt wird bei Lih etwas unterbelichtet. Hingegen weist er richtig darauf hin, dass die Zwangskollektivierung ab dem Ende der 1920er Jahre unter Lenin nie möglich gewesen wäre.
Weitere Entwicklungslinien der Sowjetunion und der III. Internationale ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, die unverträglich mit Lenins heroischem Szenario waren, werden von Lih nicht erwähnt – Lenins politisches Leben endete ja im März 1923. So ab 1925 etwa der «Sozialismus in einem Lande» und die «Bolschewisierung», in deren Rahmen die Interventionen und der Aufbau der KPs und der III. Internationale immer stärker den Tagesinteressen der herrschenden Clique in der Sowjetunion untergeordnet wurden. Oder die systematische Ausschaltung aller unabhängigen, kämpferischen Ansätze in der Arbeiterbewegung ab etwa 1928.
Grenzen des «Kautskyianismus»
Insgesamt setzt Lih mit seinem Lenin die frühere Arbeit fort und versucht, das Wirken Lenins in die Tradition der «kautskyianischen»-Sozialdemokratie hineinzuinterpretieren – im «Gegensatz zu anderen Führern der Sozialdemokratie aber hielt er zeitlebens an deren Grundsätzen fest». Damit kann überzeugend herausgearbeitet werden, dass die Arbeiterbewegung ein inneres Motiv hat, unabhängige politische Organisationen mit dem Ziel der Machtergreifung zu schaffen. Dies war zur Zeit Lenins jeder politisch aufmerksamen Zuschauerin klar. Heute, wo solche politischen Instrumente offensichtlich fehlen, ist dieses Argument, obwohl weiterhin gültig, nicht mehr ohne weiteres einsichtig.
Die Originalität und die Leistung Lenins und der Bolschewiki bestanden gerade darin, eine revolutionäre Partei mit Massenanhang aufzubauen, um die politische Macht zu erringen. Die organische Bindung an die revolutionären Sektoren der Arbeiterinnen und Bauern hat sie zu einem revolutionären Instrument der Machtergreifung gemacht. Dies ist der entscheidende Unterschied zur europäischen Sozialdemokratie, deren Führungen zunehmend von den institutionellen Mechaniken der imperialistischen Nationalstaaten durchdrungen waren und somit ihren Rückhalt bei eher retardierenden Sektoren suchten. Insofern überspannt Lih sein
Argument, Lenin als «treuen Kautskyianer» darzustellen.
Das Buch Lihs zeichnet das Bild eines tragischen Lenin in einem Drama, dessen dramatis personæ eine Rolle leben (internationales Proletariat und arme Bauernschaft), die sie unter der erdrückenden Last der Probleme noch nicht lösen können. Er hat diese Aufgabe nicht gescheut, was ihn als bisher grössten revolutionären Führer auszeichnet. Das internationale Proletariat hingegen wartet weiter hinter der Bühne, auf dass der «Maulwurf der Geschichte» weiter wühle, bis das Szenenbild auf Sturm gestellt ist. Es wird dann erneut die Bühne betreten und seine Rolle dann – so bleibt zu hoffen – erfolgreich zu Ende bringen, für die Freiheit von Unterdrückung, von Ausbeutung, von ökologischer Zerstörung und von Krieg!
Willi Eberle, erschienen im Vorwärts vom 23. August 2013
Der Autor ist Mitglied der Antikapitalistischen Linken, Zürich
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