Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte

Die ArbeiterInnenklasse – ein zerbröseltes Subjekt?

Eingereicht on 28. November 2018 – 17:24

Jakob Schäfer. Seit einigen Jahren wird wieder vermehrt über die ArbeiterInnenklasse diskutiert. Nicht wirklich hilfreich allerdings sind dabei Betrachtungsweisen nach folgendem Muster: Von einer ArbeiterInnenklasse kann nur gesprochen werden, wenn sich die ArbeiterInnen als Klasse verstehen und sich im Kampf gegen das Kapital stellen.

Erstens findet der Klassenkampf ständig statt, wenn auch hauptsächlich von oben. Auch wenn es betrieblich und überbetrieblich keine gemeinsame Abwehrfront gibt, so finden doch selbst in der BRD an verschiedenen Stellen Kämpfe statt, von Halberg-Guss über Amazon bis zu den Unikliniken Essen und Düsseldorf. Wenn der gemeinsame Kampf von unten das entscheidende Kriterium ist, dann schwankt – zumindest im Abstand von einigen Jahren – die Größe der ArbeiterInnenklasse. Demnach wäre die so definierte Klasse in den letzten Jahren z.B. in Frankreich bedeutsam geschrumpft, obwohl die Zahl der Lohnabhängigen gestiegen ist.

Zweitens, und das ist politisch bedeutsamer: Wenn wir nicht die objektive Interessenlage der lohnabhängigen Bevölkerung als Ausgangspunkt nehmen, dann stellen wir damit – gewollt und ungewollt – das Potential der ArbeiterInnenklasse und die Veränderlichkeit ihres Bewusstseinsstandes infrage.

Nun wurde die ArbeiterInnenklasse in den letzten Jahrzehnten in vielfältiger Weise vertikal und horizontal fragmentiert; sie wurde durch den Einsatz ausländischer EntsendearbeiterInnen segmentiert; mit Scheinselbständigkeit und sonstigen Prekarisierungen (befristete Beschäftigungen usw.) entstehen viele Abstufungen bei Einkommen und Arbeitsbedingungen usw. Nicht zuletzt die Verkleinerungen der Belegschaften hat die Kampfkraft der KollegInnen geschwächt. Mit Sicherheit führt dies in vielen Fällen zu tiefgreifend empfundener Perspektivlosigkeit.

Es stellen sich dennoch zwei zentrale Fragen, die näher zu erörtern sein werden: Hat damit die ArbeiterInnenklasse ihr gesellschaftsveränderndes Potenzial verloren und kann sie sich nicht mehr als kampffähiges und kampfbereites Subjekt neu formieren? Und: Wenn dies grundsätzlich weiterhin möglich ist, wie können Prozesse zur Herausbildung einer breiten Kampffront gegen Kabinett und Kapital gefördert werden? Hier nun soll erst mal geklärt werden, über wen wir eigentlich sprechen.

Wer ist die ArbeiterInnenklasse?

Wenn wir an der revolutionär-marxistischen Tradition festhalten, bei der Definition einer Klasse von der Interessenlage auszugehen, dann sollten wir vier Ebenen im Auge haben:

a.) Allen abhängig Beschäftigten ist gemeinsam, dass sie dem Direktionsrecht der Firmen- oder Amtsleitung unterstehen. Das betrifft den Kollegen bei Opel genauso wie den Müllwerker eines städtischen Entsorgungsbetriebs oder die Pflegerin in einem Universitätskrankenhaus. Zu dieser Fremdbestimmung führt Marx aus: «Die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, entwickelt sich mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz.» (MEW 23:455.)

Entfremdung ist natürlich nicht von der Ankettung an die Maschinerie abhängig. Sie tritt ein, wenn die Menschen nicht – gemeinsam mit anderen – darüber bestimmen können, welche Güter oder Dienstleistungen sie produzieren, wie sie das tun usw.

b.) Schon bei Marx geht es um den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter und keineswegs nur um diejenigen, die in der materiellen Produktion ihre Arbeitskraft verkaufen. Ausschlaggebend für Marx ist die Verwertung des Kapitals, ganz gleich, wo dieses angelegt ist, ob im Bankgeschäft, im Handel oder im Dienstleistungssektor.

Darüber hinaus sollte klar sein, dass den abhängig Beschäftigten im Öffentlichen Dienst keine andere Klassenlage zugeschrieben werden kann, nur weil der Dienstherr des Pflegeheims oder der Müllentsorgung eine staatliche (kommunale) Stelle ist. Dazu sind für die Beschäftigten im ÖD wie im «Privatsektor» die Unterschiede der Einkommen und Arbeitsbedingungen einfach zu unbedeutend. Da sind die Abstufungen zwischen den Arbeits- und Entlohnungsbedingungen eines Stammbeschäftigen in der Autoindustrie und denen eines Leiharbeiters (in derselben Fabrik) viel größer.

c.) Das dritte ganz wesentliche Kriterium ist die Abhängigkeit vom Verkauf der Ware Arbeitskraft. Es kann also nicht um das formale Beschäftigungsverhältnis gehen, sondern einzig und allein darum, ob jemand auf das Anbieten seiner Ware Arbeitskraft (und sei es, um als Erwerbsloser Transferzahlungen zu erhalten) verzichten kann, ohne im Lebensstandard gewaltig abzusinken. Ein Manager, der mit einem Jahresgehalt von 2 Millionen Euro schon nach wenigen Jahren so viel auf die Seite legen konnte, dass er nicht mehr arbeiten muss, kann logischerweise nicht zur ArbeiterInnenklasse gerechnet werden. Auf der anderen Seite aber eine Trennung in der Klassenzugehörigkeit vornehmen zu wollen zwischen einem in der Industrie Beschäftigten und einem beamteten Briefzusteller ist nicht nur eine formale Willkürlichkeit (der Briefzusteller verdient weniger als viele abhängig Beschäftigte in der Industrie), es wird auch der realen Ausbeutungssituation nicht gerecht, von der Entfremdung und anderen Faktoren ganz zu schweigen.

d.) Für einen Teil der Erwerbstätigen kommt ein weiteres wesentliches Moment zur Bestimmung ihrer Interessenlage hinzu: Wie stark sind ihre Tätigkeit und ihre Macht institutionell mit den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verbunden?

Welche Größenordnung?

Wer ist nun konkret der ArbeiterInnenklasse zuzuordnen und von welchen Größenordnungen sprechen wir in der Bundesrepublik? Wir gehen von einer Gesamtzahl der statistisch erfassten Erwerbstätigen von 44,3 Mio. aus. Zusammen mit den in der Statistik erfassten 1,7 Mio. «aktiv am Arbeitsmarkt verfügbaren Erwerbspersonen» sind wir dann bei insgesamt 46 Mio. (Die unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten sind hier miterfasst, nicht aber die verdeckt Erwerbslosen, deren Zahl heute auf 1,5–2,5 Mio. geschätzt wird.)

Zur ArbeiterInnenklasse gehören diejenigen, die nach den o.g. Kriterien abhängig beschäftigt sind, kein Direktionsrecht ausüben und auch über keine Leitungsfunktion oder Macht in staatlichen Stellen ausüben. So können ein Polizeipräsident, ein Richter oder ein hoher Ministerialbeamter nicht als Teil der ArbeiterInnenklasse angesehen werden. Auf der anderen Seite sind Scheinselbständige selbstverständlich Teil der ArbeiterInnenklasse. Nicht dazu gehören aber diejenigen, die mit ihrem Kleinbetrieb ein auskömmliches Einkommen erzielen und materiell wie politisch andere Interessen haben als z.B. die bei ihnen abhängig Beschäftigten. Zu diesen «Kleinbürgern» gehören die Großbauern genauso wie die Zahnärzte oder der Handwerker, der zehn Gesellen angestellt hat, dessen Löhne er niedrig halten will.

Die Zahl der wirklich Selbständigen unter den Erwerbspersonen – also derjenigen mit anderen Klasseninteressen als jenen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen – hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nennenswert verändert. Sie schwankt zwischen 4 und 4,3 Millionen.

Die Zahl der traditionellen Freiberufler (Ärzte usw.) stieg 2018 auf 1,4 Mio. Es ist nicht ganz einfach, eine klare Grenze zu ziehen, ab welchem Einkommen und ab welcher institutionellen Sicherheit (bzw. Unabhängigkeit) ein(e) Selbständige(r) nicht durch andere (bzw. die wirtschaftlichen Strukturen) fremdbestimmt ist und gleichzeitig so gut leben kann, dass wir bei ihm/ihr von anderen Klasseninteressen sprechen können. Hier mögen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Die Kriterien «Entfremdung» (wer hat das Direktionsrecht?) und materielle Lage sind immer im Zusammenhang zu sehen.

Zu denjenigen, die faktisch nicht auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, gehören vor allem die gut bezahlten Manager, obwohl sie formal den Status von Beschäftigten haben. Von den 3,9 Mio. «Führungskräften» dürfte nach vorsichtigen Schätzungen etwa eine halbe Million dazu gehören. Sie bilden einen Teil der mehr als 19000 Einkommensmillionäre (andere Einkommensquellen sind Immobilienbesitz, Firmenanteile usw.). Ebenso wenig abhängig beschäftigt sind all jene, die genug geerbt haben (bzw. Aufsichtsratstantiemen beziehen) und gleichzeitig woanders noch in gut dotierter Stellung arbeiten. (Die gut 1,3 Mio. Vermögensmillionäre bleiben bei der Betrachtung der Erwerbstätigen unberücksichtigt.)

Neben der Höhe der Einkünfte und der Zugehörigkeit zum «gesellschaftlichen Gesamtarbeiter» ist noch die Frage der institutionellen Machtposition (in der Regel verbunden mit starker Beschäftigungsabsicherung) zu berücksichtigen. So sind die höheren Beamten nicht in der Lage eines Lohnabhängigen. Als grobe Anhaltspunkte können die oberen Besoldungsstufen dienen, also in etwa: ab A16; ab B2; ab R2; teilweise W2 (mindestens aber W3).

Zusammen mit einem Teil der Soldaten (vornehmlich den Offizieren) sind dies im Bund ca. 150000; in den Ländern ca. 120000; in den Kommunen ca. 80000; bei den Sozialversicherungen weniger als 5000. Zusammen sind das deutlich weniger als eine halbe Million Beschäftigte dieser Art, die also nicht zur ArbeiterInnenklasse zu rechnen sind.

Wenn wir zusammenrechnen, kommen wir auf ca. 3 Mio. (maximal 4 Mio.). erwerbstätige BürgerInnen und KleinbürgerInnen. (Hierzu zählen nicht die Scheinselbständigen, zu denen die meisten der 2,31 Mio. Soloselbständigen gehören).

Somit gehören von den genannten 46 Mio. Erwerbstätigen und Erwerbslosen mindestens 91 Prozent zur Klasse der Lohnabhängigen (zum «gesellschaftlichen Gesamtarbeiter»), also zu den Menschen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Mit anderen Abgrenzungen bei Managern, hohen Beamten oder den Selbständigen mag man im Extremfall auf 85 respektive auf 94 Prozent kommen, aber insgesamt ist dies die Größenordnung.

Disparate Lebenslagen

Ganz ohne Zweifel sind die unmittelbarsten Interessenlagen der abhängig Beschäftigten extrem unterschiedlich, je nachdem ob sie zur Stammbelegschaft eines Großbetriebs gehören oder ob sie prekär beschäftigt sind, vielleicht ohne Papiere usw. Auch die Selbsteinschätzungen liegen weit auseinander. Die spannende und künftig zu erörternde Frage lautet: Was sind die gemeinsamen Grundinteressen und damit die potenziell einigenden Momente? Und: Mit welchen Hebeln, mit welchen Instrumenten der gewerkschaftlichen und politischen Arbeit und mit welchem Programm (mit welchen Losungen) kann das gemeinsame Ziehen an einem Strang befördert werden?

Hier nur als Stichwort, was an anderer Stelle detaillierter zu entwickeln sein wird: Es geht um die Ausarbeitung von eingängigen, überzeugenden Argumentationen, die deutlich machen, wo die gemeinsamen Interessen liegen und wie auch heute eine andere Welt durchsetzbar ist, allerdings nur im gemeinsamen Kampf. Voraussetzung ist:

– gewerkschaftliche und politische Organisierung und Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen. Beispiel: umfassender Kampf für eine Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten bei vollem Entgelt- und Personalausgleich;

– politische Unabhängigkeit der Organisierten;

– Kampf für eine ökologische Zukunft (gemeinsam mit UmweltaktivistInnen für den Ausstieg aus der Kohle, aus der Autogesellschaft usw.) und Nutzung aller Momente, die zu einer Politisierung und Aktivierung aller Betroffenen beitragen können;

– aktive internationale Solidarität.

Quelle: sozonline.de… vom 28. November 2018

Tags: , , , ,