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100 Jahre Novemberrevolution: Eine lehrreiche Feierstunde

Eingereicht on 11. Dezember 2018 – 18:17

Manfred Dietenberger. Als die Kronen purzelten und das Volk aufstand, bekamen die Fabrikherren wieder das Knieschlottern. Die Gewerkschaftsführungen aber auch, und so unterzeichneten beide zwölf Tage nach dem Matrosenaufstand in Kiel gemeinsam ein Abkommen, das der Revolution ganz schnell ein Ende bereiten sollte. Die Fabrikherren hielten sich nicht lange daran, sie warteten auf die nächste Gelegenheit, es über Bord zu werfen. Das tun sie heute wieder, wenn auch mit weißen Handschuhen statt dem SA-Knüppel. So führen sie die vielen salbungsvollen Reden, in denen die liberalen Eliten dieses Landes nach 100 Jahren die Novemberrevolution als Geburtsstunde der Republik preisen, selber ad absurdum: Hinter der Tünche steckt der Klassenkampf.

Der Ausspruch von Kurt Tucholsky, «Es geht nirgends merkwürdiger zu als auf der Welt», trifft, da bin ich mir sicher, auch auf die Welt der Arbeit in unserem Lande zu. Jüngster Beleg dafür ist, was sich am 16.10.2018 im Historischen Museum zu Berlin abspielte.

Da klopften sich die Großkopfeten von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Staat gegenseitig auf die Schultern, um medienwirksam mit einem Festakt «100 Jahre Sozialpartnerschaft» zu feiern. Eingeladen hatten der Präsident des Unternehmerverbands BDA, Ingo Kramer, und Reiner Hoffmann, Vorsitzender des DGB. Die Zahl der Gäste und die Ämter, die jene zu diesem Anlass trieben, war bemerkenswert. Darunter niemand geringerer als Bundesarbeitsminister Heil (SPD), Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) und selbst die französische Arbeitsministerin Muriel Pénicaud sowie Frank Bsirske, der Vorsitzende von Ver.di. Das passte, denn die Veranstalter der Partnershow hatten das Arbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918 zwischen den freien und christlichen Gewerkschaften und den damaligen Unternehmern – heute kurz Stinnes-Legien-Abkommen genannt – zum «Gründungsdatum der Sozialpartnerschaft» erkoren.

Macht das wirklich Sinn? Ja und Nein! Was passierte da wirklich vor 100 Jahren? Ein paar Tage zuvor hatten die Matrosen in Kiel revoltiert und es kam zu Massenkundgebungen im ganzen Land. Die Angst vor den revoltierenden, nicht nur demonstrierenden, Massen ließ die Fabrik- und Konzernherren um ihre Fabriken und Profite zittern. In vielen Städten – von Kiel bis an den Bodensee – bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, zum Teil auch mit dem Ziel, die Industriebetriebe zu übernehmen.

Die Angst vor der Revolution teilten die Fabrikherren mit den Gewerkschaftsführungen. Um den Kapitalismus und damit ihre eigene Haut zu retten – von ihrem Verhandlungsort aus, dem Berliner Hotel Continental, war schon MG-Feuer zu hören – unterzeichnete der Industrieboss des Ruhrgebiets, Hugo Stinnes, und der Vorsitzende des ADGB, Carl Legien, am 15. November ihr Abkommen. Der Inhalt war weitreichend: Die Gewerkschaften wurden darin von den Unternehmern als die «berufene Vertretung der Arbeiterschaft anerkannt», jegliche Einschränkung der Koalitionsfreiheit ausgeschlossen (alle Beschäftigten haben das Recht, sich Gewerkschaften anzuschließen und zu streiken), und es wurde festgelegt, dass die Arbeitsbedingungen für ein Gewerbe in «Kollektivvereinbarungen» (Tarifverträgen) festzulegen sind.

Mit diesem «Linsengericht» kauften sich die Kapitalisten quasi frei in der berechtigten Hoffnung, dass die Gewerkschaften verhindern würden, dass die Massen die Fabrikherren für ihre Kriegsschuld zur Rechenschaft gezogen wurden. Das war auch Bergwerksdirektor Geheimrat Ewald Hilger bewusst, als er auf einer Versammlung des Vereins der Eisen- und Stahlindustriellen (VdESI) davon sprach, das Abkommen sei «eine ganz kolossale Errungenschaft» und seine Bedingungen «viel günstiger als erwartet».

Hundert Jahre später erkennt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zu diesem Abkommen darin ein «wahrhaft historisches Ereignis»: «Ich befürchte, es sind nicht mehr viele in Deutschland, die wissen, wofür Stinnes und Legien und das Abkommen, das sie miteinander geschlossen haben, stehen. Es ist nichts weniger als das: der Beginn der deutschen Sozialpartnerschaft, der Anfang der Tarifautonomie vor fast 100 Jahren.» Obwohl damals die Weichen in Richtung «Wohlstand», «Demokratie» und «soziale Marktwirtschaft» gestellt worden seien. Auch der DGB würdigt auf seiner Webseite das Abkommen als «ein entscheidender Beitrag zur Zähmung des Kapitalismus und zur Demokratie in der Wirtschaft», hält «das Zweckbündnis mit den Unternehmern» aber 100 Jahre danach für «reformbedürftig». Ver.di-Chef Frank Bsirske meldete sich mit der Forderung zu Wort, angesichts der «dramatischen Tarifflucht vieler Unternehmen» die Tarifbindung wieder «deutlich zu stärken».

Unternehmerfunktionär Ingo Kramer aber hatte sich schon kurz vor den gemeinsamen Feierlichkeiten in der FAZ für eine an den Kapitalinteressen orientierte «Neuausrichtung der Tarifpolitik» ausgesprochen. Er will eine weitere Deregulierung des bestehenden Tarifsystems. Er wirbt für «modulare Tarifverträge», bei denen sich die Unternehmen die Bedingungen «auswählen» können: dass sie bspw. den Entgelttarifvertrag akzeptieren können, ohne an den Manteltarifvertrag gebunden zu sein, der die Arbeitsbedingungen und damit die Arbeitszeit regelt. Und schließlich soll es möglich werden, dass Betriebsräte ohne die Gewerkschaft diese «Modularisierung auf Betriebsebene» mit den Unternehmen vereinbaren. Nur noch mit einer Teilgültigkeit von Tarifverträgen sei eine Tarifbindung möglich.

Spätestens hier wurde deutlich, wie dünn die Sozialpartnertünche über der Alltagswirklichkeit ist. Die sieht so aus: 2017 waren 73 Prozent der Betriebe ohne Tarifvertrag. Nur noch 47 Prozent der Beschäftigten fallen unter den Schutz solcher kollektivrechtlicher Vereinbarungen. Dazu kommt noch der Zerfall der Löhne, die den Profiten weit abgeschlagen hinterherhinken. Millionenfach versteckte Arbeitslosigkeit, expandierende prekäre Beschäftigung, unbezahlte Überstunden, immer mehr befristete, unsichere Arbeitsplätze und ein menschenverachtendes Hartz-IV-Regime. All das verträgt sich nicht mit dem Gefasel von Sozialpartnerschaft.

Was ist von einem Partner zu halten, der dabei ist, nach Möglichkeiten zu suchen, das Streikrecht zu beschneiden und die die «technische Revolution» (Industrie 4.0) nur dazu nutzen möchte, die Profite zu maximieren? Damit wird deutlich, ein Pakt mit den Herren der Fabriken bringt den Arbeitenden im besten Fall nichts – meist aber größeres Ungemach als vorher. 1920 forderte Tucholsky: «Wir haben keine Revolution gehabt. Macht eine!»

Quelle: Soz Nr. 12/2018… vom 11. Dezember 2018

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