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Kuba – Sozialismus als potemkinsches Dorf. Ein Reisebericht

Eingereicht on 11. März 2019 – 16:13

Paolo Gilardi. Vor zwei Wochen haben mehr als 86 % der Kubaner, die abstimmen gingen, die neue Verfassung der Republik Kuba angenommen – eine Verfassung, die auf Betrug beruht.

Sowohl die Kampagne vor der Abstimmung am 24. Februar als auch deren Durchführung selbst sowie der Inhalt des angenommenen Textes entwickelten sich auf zwei Ebenen, einerseits der des Erscheinungsbildes und andererseits der des Inhalts.

«Ich stimme mit JA für die Revolution»

Der Aufruf zur Abstimmung kam als «Stimme für das Vaterland», «Stimme für die Würde», «Stimme für die Revolution» daher; ihr gingen in den vergangenen Monaten unzählige Versammlungen voraus – es wird von 135.000 Versammlungen gesprochen –, die nach der Annahme des neuen Textes durch das Parlament organisiert wurden; die entsprechende Parlamentssitzung wurde von allen nationalen Fernsehsendern live übertragen.

Kein Büro, kein Wartezimmer, kein Laden, keine Bushaltestelle, die nicht mit einfachen A4-Plakaten an den Wänden aufwarteten, die die Menschen einluden, «für das Land», «für die Würde», «für die Revolution» mit JA zu stimmen.

Was die Fernsehsender – Nachrichten, Wissenschaft, Kultur und Sport – betrifft, sie alle haben bis zur Schliessung der Wahllokale andauernd Interviews ausgestrahlt, in denen die Vorzüge der neuen Verfassung gelobt wurden. So konnte man nur peinlich berührt sein, wenn etwa einzelne Sportler ihren Text wie folgsame Schüler herunterbeteten, ohne ihn zu verstehen…

Tatsächlich war der Abstimmungstermin des 24. Februar, dem am Samstagabend unzählige Gratiskonzerte in den Straßen der Städte vorausgingen – während derer auch die Lieder mit der Aufforderung zur patriotischen Pflicht am nächsten Tag endeten – zu einer solchen Sonntagsverabredung geworden, so dass man sich an diesem Tag gegenseitig begrüßte und fragte: «Hast du bereits abgestimmt? ».

Von acht bis sechs Uhr nachmittags geöffnet, waren die vielen Wahllokale, die ich in Santiago besuchen konnte von Frauen eingerichtet worden und von Frauen geleitet. Die einzigen Uniformen, die in den Wahllokalen anwesend waren, waren nicht die der Polizei oder der Armee, sondern die der beiden Gymnasiasten, die aufmerksam die Urne bewachten.

Es war also im Rahmen einer schein-demokratischen Ausmarchung – obwohl keine Propaganda gegen das Verfassungsprojekt je gesichtet wurde – die Behörden also das erhielten, was sie wollten: eine Zustimmung für die neue Verfassung.

Nur der Sozialismus……..

Sie besteht aus 229 Artikeln und hob die bisherige Verfassung vom 24. Oktober 1976 auf, mit der der «sozialistische» Charakter der Republik Kuba festgelegt wurde. Der Sozialismus kann jedoch so gar nicht aufgehoben werden, da sie bereits in ihrem ersten Artikel feststellt, dass «Kuba ein sozialistischer Staat ist».

Die «Verteidigung der sozialistischen Heimat ist die größte Ehre und die höchste Pflicht eines jeden Kubaners», heißt es in dieser neuen Verfassung (Art. 5), ebenso wie sie den sozialistischen Charakter Kubas als «unwiderruflich» definiert. (Art. 4). Allerdings hütet sich die Verfassung sehr davor, die Konturen und die Inhalte des Sozialismus nicht zu definieren.

Es sind die Artikel über die wirtschaftlichen Grundlagen des Staates (Artikel 18 bis 31), die etwas mehr Klarheit in das Konzept bringen. Diese Artikel legen fest, dass «in der Republik Kuba eine sozialistische Wirtschaft vorherrscht, die auf dem Eigentum aller Menschen an den grundlegenden Produktionsmitteln als wichtigster Eigentumsform beruht».

Da die Verfassung neben dieser wichtigsten, sozialistischen auch andere Eigentumsformen vorsieht, gibt sie einen Überblick über andere mögliche Eigentumsformen, einschließlich  dem «Privateigentum [d.h.], das von kubanischen oder ausländischen natürlichen oder juristischen Personen über bestimmte Produktionsmittel ausgeübt wird».

Der Wandel ist insofern radikal, als bisher mit Ausnahme der Sonderentwicklungszone in Mariel, etwa 50 km westlich von Havanna, ausländische Investoren höchstens 49 % der Anteile an Unternehmen halten konnten, die restlichen 51 % sind dem Staat vorbehalten.

Dies ist eine grundlegende Änderung, die für die von der Regierung im August letzten Jahres verabschiedete Gesetzesverordnung eine Rechtsgrundlage liefert; damit soll ausländischen Investoren der gesamten Wiederaufbau eines völlig heruntergekommenen Eisenbahnnetzes ermöglicht werden (wenn die Fahrt von Santiago nach Havanna 1995 zwölf Stunden dauerte, dauert sie jetzt – und solange die Züge überhaupt fahren, was nie garantiert ist – nicht weniger als 24 Stunden….).

Das Beispiel der französischen SNCF und der russischen RZD, die bereits die Möglichkeiten dieses Gesetzesdekrets genutzt haben – die erste, die zwei Fabriken zur Produktion von Hochgeschwindigkeitszügen in Havanna und Camagüey errichtete, die zweite für den Wiederaufbau der zentralen Linie, die die beiden wichtigsten Städte des Landes verbindet – zeigt, welcher Weg eingeschlagen wurde: der Weg der völligen Öffnung für den Kapitalismus in bestimmten Wirtschaftssektoren.

War dies nicht bereits die Vision von Che?

Die Öffnung – von der die Migranten nach Miami ausgeschlossen sind – wird im Verfassungstext damit begründet, dass ein Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes geleistet werden müsse.

Die Suche nach einer Koexistenz von kollektivem Eigentum und Formen des kleinen Privateigentums ist an sich nicht neu. Guevara selbst hatte in der ersten Hälfte der 1960er Jahre die mögliche Nutzung von Privateigentumsformen als Ergänzung zu sozialisiertem Eigentum in Erwägung gezogen, «wenn dadurch die Bedürfnisse der Bevölkerung besser erfüllt werden können».[1]

Es ist jedoch klar, dass im derzeitigen Kontext die Grundbedürfnisse eines großen Teils der Bevölkerung bei weitem nicht gedeckt sind. Die Kluft zwischen «los Cubanos que van a pié», d. h. den Armen, und den anderen wird immer größer.

Andererseits, während tropische Krankheiten wie das Dengue-Fieber auf dieser Insel, der Weltmeisterin der Gesundheitspolitik, erneut Leben dahinzuraffen beginnt, – das Schweigen der Behörden zu diesem Thema schürt umso mehr Gerüchte – so ist es in den Städten nicht ungewöhnlich, auf arme Schlucker zu stossen, die im Müll nach Essensresten suchen…

Darüber hinaus hat sich die Wette auf den Tourismus als Mittel zur Beschaffung der für die Wiederbelebung der Wirtschaft erforderlichen Devisen, insbesondere der Mechanisierung der Landwirtschaft – bedroht durch die Ausbreitung eines parasitären Busches[2] und durch das fast vollständige Verschwinden von Landmaschinen – als Misserfolg erwiesen.

Die Verschlechterung der Beziehungen zu den USA nach den Trump-Wahlen[3], der Sieg von Bolsonaro in Brasilien – der die Reisexporte nach Kuba gefährdet – und der Putschversuch in Venezuela[4] machen die Situation noch unsicherer. Manuel Caruncho, ein kubanischer Schriftsteller und Doktor der Wirtschaftswissenschaften von der Complutense Universität in Madrid[5], zögert nicht, eine mögliche Entwicklung wie in Nicaragua zu erwähnen.

Zwischen den Vorschlägen von Che in den Jahren 1963-64 und den Bestimmungen der neuen Verfassung liegen jedoch Welten.

Ersterer plädierte für eine teilweise Öffnung für kleines Privateigentum – was heute in Kuba vor allem in der vorherrschenden Tourismusbranche weitgehend verwirklicht ist –, während die neuen Verfassungsbestimmungen die vollständige Aneignung von Schlüsselsektoren und, wie im Falle der zentralen Eisenbahnlinie, lebenswichtiger Infrastruktur durch ausländisches Kapital vorsehen.

Eine kapitalistische Restauration…. unter Kontrolle

Die Genehmigung dieser privaten Projekte ist ein Vorrecht des Ministerrates, der Regierung. Bei ihm liegt die Entscheidung, ob diese Projekte an «der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes teilnehmen und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Staates nicht bedrohen» (Art. 24).

Zu den Kriterien, die bei der Genehmigung dieser privaten Projekte berücksichtigt werden, gehört die Einhaltung der Arbeitsbedingungen, die die Regierung schützen muss. Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Wandel im Sprachgebrauch, der nicht ohne Folgen bleibt.

Artikel 65 besagt, dass die Arbeit «nach deren Quantität und Qualität gemäss dem sozialistischen Prinzip <jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Arbeit>» bezahlt werden muss.

Nur, dass das von Marx selbst mehrfach dargelegte sozialistische Prinzip nicht den Übergang zu einer Gesellschaft darlegt, in der jeder nach seiner Arbeit bezahlt wird, sondern nach seinen Bedürfnissen, was etwas ganz Anderes ist….

Die Nutzung privater Investitionen ist auch in Artikel 28 als Aufgabe des Staates festgelegt, soweit er verpflichtet ist, «die für ausländische Investitionen notwendigen Garantien zu fördern und zu gewährleisten». Man kann sich vorstellen, dass unter den notwendigen Garantien ebenfalls die Arbeitsbedingungen fallen könnten.

Und in diesem Sinne sieht die neue Verfassung (Art. 67) neben der Festlegung der gesetzlichen Maximaldauer des Arbeitstages auf acht Stunden die Möglichkeit vor, ein Gesetz zu erlassen, das «abweichende Regelungen über Arbeitstage und Arbeitsvereinbarungen» erlaubt.

Da also gemäß Artikel 5 der Verfassung «die Kommunistische Partei Kubas, die einzigartige, martyianische[6], fidelistische, marxistische und leninistische organisierte Avantgarde der kubanischen Nation [….] die übergeordnete politische Kraft der Gesellschaft und des Staates ist», werden letztendlich Entscheidungen über ausländische Investitionen ausschließlich den Herrschaftssphären der Einheitspartei überlassen.

Unter diesen spielt das Militär eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle großer Teile der Wirtschaft, insbesondere …. von ausländischen Investitionen. In Kombination mit der Kontrolle der inneren Sicherheitsdienste verleiht die Kontrolle der Wirtschaft dem Militär enorme Macht.

Es ist die Führung der Streitkräfte – unter dem Befehl nicht von comandantes wie Camilo, Che oder Fidel es waren, sondern von hohen Offizieren wie General Raul Castro-Ruz –, die fast ausschließlich die Kontrolle über den kapitalistischen Wiederaufbau in Kuba haben wird.

Quelle: Zugesandt am 10. März 2019; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch


[1] Zitiert nach Antonio Moscato: Una breve storia di Cuba, Rom, 2006.

[2] Wahrscheinlich als Samen im Darm von Vieh aus Afrika gegen Ende der 1990er Jahre eingeführt, hat sich dieser parasitäre Strauch mit tiefreichenden Wurzeln mit wissenschaftlichem Namen Dichrostachys cinerea – in Kuba Marabú genannt – schnell verbreitet. Es wird geschätzt, dass der Strauch heute über die Hälfte des kubanischen Ackerlandes bedeckt, wobei aufgrund des Fehlens von Ackerbaumaschinen dessen Beseitigung nur noch schwieriger wird. Zur Zeit der Obama-Administration wurde nach den Verträgen von 2013 das geschnittene Marabú-Holz für die Herstellung von Zellulose in die USA exportiert. Mit dem Anbruch der Trump-Administration sah sich Kuba mit Verwertung dieses Holzes auf sich selbst gestellt und versucht nun, daraus Kohle herzustellen.

[3] Sämtliche Verträge aus der Zeit nach 2013 mit der Obama-Administration wurden annulliert. Für die Bürgerinnen und Bürger der USA besteht nur mehr die Möglichkeit, sich persönlich nach Kuba zu begeben, «um diesem Volk beizustehen, das Opfer der Tyrannei wurde», in Gestalt grosser Kontingente von Predigern der Pfingstgemeinden.

[4] Ein Sieg von Guaidò würde die Versorgung von Kuba mit Erdöl und damit mit Energie versiegen lassen und das Land in einen Abgrund treiben, ähnlich der UdSSR nach deren Implosion am Anfang der 1990er Jahre.

[5] La Brecha, Uruguay, 4. Januar 2019.

[6] In Bezug auf José Marti (1853-1895), den «Vater des Vaterlandes».

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