Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus
Tobias Rupprecht. Fällt der Begriff „Neoliberalismus“, geht vielen das Messer in der Tasche auf. Die meisten Liberalen ärgern sich über den „deformierten Streitbegriff“ (Christian Lindner). Rezension von Slobodian, Quinn: Globalists.
The End of Empire and the Birth of Neoliberalism. Harvard 2018, Harvard University Press
Tobias Rupprecht. Kapitalismuskritiker, die in den 1980ern „Neoliberalismus“ als Schmähausdruck aus Lateinamerika re-importiert hatten, benutzen ihn dagegen gern ausgiebig zur Erklärung vielfältiger zeitgenössischer Probleme von sozialer Ungerechtigkeit und Umweltverschmutzung zu psychischen Erkrankungen bis hin zu Donald Trump. Wie einst „faschistisch“ ist „neoliberal“ zu einem Etikett verkommen, das manche Linke allem anheften, was ihnen irgendwie gegen den Strich geht.
Ist dieser Begriff analytisch noch zu irgendetwas zu gebrauchen?[1]
Quinn Slobodian hat die bislang überzeugendste ideengeschichtliche Studie des Neoliberalismus vorgelegt. Darin präsentiert er gewichtige Gründe, noch einmal ideologisch distanziert über die Ursprünge neoliberalen Gedankenguts nachzudenken – und den Begriff wieder in seiner ursprünglich gedachten Form zu verwenden. Sein Hauptargument richtet sich dabei weniger gegen Forschungsmeinungen, sondern gegen ein in einer breiten Öffentlichkeit immer noch vorherrschendes Klischee: Neoliberale, so heisst es oft, sind gegen den Staat und glauben an die Selbstregulierungskraft wirtschaftlichen Laissez-faires. Slobodian, kanadischer Historiker mit Deutschlandexpertise, erinnert seine Leser aber daran, dass die ursprünglichen Neoliberalen gerade nicht an selbstregulierende Märkte glaubten. Sie sahen auch nicht Menschen als rationale wirtschaftliche Akteure, und schon gar nicht haben sie versucht, den Staat und Nationalgrenzen zurückzudrängen. Vielmehr war der Neoliberalismus der teilweise erfolgreiche Versuch, die Spielregeln des freien Marktes durch die Stärkung des Staates und die Gründung starker internationaler Organisationen nach dem Ende von Imperien und Kolonialreichen auf globaler Ebene zu bewahren.
Die sozialwissenschaftliche Literatur zur neoliberalen politischen Praxis beginnt für gewöhnlich mit Thatchers und Reagans Wirtschaftsreformen in den 1980er-Jahren, oder Pinochets autoritären Kapitalismus der 1970er, die alle von der Chicagoer und Virginia Schule geprägt waren. Ideengeschichtliche Ansätze haben die Ursprünge des Neoliberalismus auf die Gründung der Mont Pèlerin Gesellschaft 1947 und dem folgenden globalen Einfluss dieses Netzwerkes zurückverfolgt.[2] Slobodian geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter zurück. Er sieht die Wurzeln des Neoliberalismus in Ostmitteleuropa nach dem Zerfall des Habsburgerreiches.
Liberale Ökonomen, sozialisiert in einer Ära des europäisch dominierten Freihandels, sahen in den 1920er- und 30er-Jahren ihre politökonomischen Ordnungsvorstellungen durch Massendemokratie und Wirtschaftsnationalismus unterwandert. Ludwig von Mises, Friedrich Hayek, oder Michael Heilperin überlegten nun, wie man eine kapitalismusfreundliche Ordnung auf globaler Ebene wiederherstellen könnte. Internationale Investitionsschutzabkommen, supranationale Föderationen und internationale Organisationen, in denen Mitbestimmung von Wirtschaftsleistung abhängt, sollten ihnen zufolge globale freie Märkte vor dem Zugriff durch national-orientierte Demokraten schützen. Über die Jahre zog es viele dieser Ökonomen nach Genf, wo sie am Aufbau von internationalen Organisationen wie dem Völkerbund mitwirkten und später auch Zuflucht vor den Nazis fanden. Slobodian verwendet für diese Gruppe den bislang kaum bekannten Begriff der „Genfer Schule“ des Neoliberalismus und argumentiert überzeugend, dass diese weniger eine ökonomische Disziplin war, als eine „Schule der Staatskunst und des Rechts“ (S. 11).
In sieben Kapiteln verfolgt Slobodian die Ordnungsvorstellungen der Neoliberalen und ihren Beitrag zur Errichtung globaler Institutionen von der Internationalen Handelskammer 1919 bis zur Welthandelsorganisation 1995. Herausragend sind Passagen in denen Slobodian die ideengeschichtliche Entwicklung elegant in lokale Bezüge setzt. Eine stilistisch glänzende Ortsbeschreibung der Wiener Ringstrasse als Geburtsort des Neoliberalismus wird Leser freuen, die sich gewöhnlich durch eher trockene wirtschaftshistorische Texte mühen: die Architektur der historistischen Bauten repräsentiere das „Triumvirat von Herrschaft, Finanz, Konsum“ (S. 34) – und die grosszügige Neuordnung der modernen Stadt das Bedürfnis der Herrschaft, die liberale Ordnung vor marodierenden Massen zu bewahren.
Man könnte freilich ergänzen, dass Kontrollverlustängste im Zeitalter des Endes von imperialen Ordnungen kein Spezifikum neoliberaler Ökonomen waren: auf eben jener Ringstrasse kam auch Karl Popper während einer gewalttätigen Demonstration von seiner jugendlichen Begeisterung für den Sozialismus ab. Und konservativ-elitäre Geistesgrössen wie Elias Canetti, Thomas Mann, oder José Ortega y Gasset verliehen in der Zwischenkriegszeit europaweit ihrer Furcht vor der Masse literarisch Ausdruck.
Spezifisch für die neoliberalen Ökonomen aber war ihr rhetorisches Sperrfeuer gegen Zölle und Gewerkschaften. Kapital, Güter und Löhne sollten vor staatlichem Zugriff geschützt werden – während die Kontrolle von Migration durch nationale Grenzen durchaus gutgeheissen wurde, um die politische Ordnung zu wahren. Nach anfänglicher Begeisterung für mathematische Modelle und das Studium von Konjunkturzyklen wandten sich viele Neoliberale in den 1930ern gegen eine von ihnen attestierte Illusion der Kalkulierbarkeit und Prognostizierbarkeit von (i.d.R. wieder national gedachten) Volkswirtschaften. Es überrascht hier etwas, wie wenig Slobodian die Neudefinition des Sozialismus durch die Russische Revolution als staatlich gelenkte Wirtschaft und deren Einfluss auf die globale Linke diskutiert. Sehr überzeugend dagegen ist, wie er den Neoliberalismus als Moralphilosophie präsentiert, die auf einer fast metaphysischen Ordnungsvorstellung basierte: marktgenerierte Preise signalisieren den Menschen darin, wie sie sich verhalten sollen, und frei fliessendes Kapital diszipliniere Staaten zu marktkonformem Verhalten.
Slobodian sieht zwar im Neoliberalismus einen „einheitlichen Gedankenkomplex“ (S. 3), räumt aber im Verlauf des Buches verschiedenen Strömungen und ideologischen Brüchen durchaus ihren Platz ein. Er diskutiert Meinungsverschiedenheiten zwischen der Österreichischen Schule und den pragmatischeren deutschen Ordoliberalen in Bezug auf die Frage der sozialen Einbettung der Marktwirtschaft. Die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die zu Beginn noch weite Teile des kolonialen Afrikas beinhaltete, stiess ebenfalls auf ein geteiltes Echo: die erste Generation „universalistischer“ Neoliberaler kritisierte deren System imperialer Bevorzugung als Manipulation der Weltwirtschaft. Eine jüngere Generation dagegen, die mehr auf interne Verfassungsstrukturen der sich formierenden Europäischen Gemeinschaft sah, unterstützte das Projekt.
Wilhelm Röpke, einer der Gründerväter der westdeutschen Sozialen Marktwirtschaft, wurde in den 1960er-Jahren zu einem Unterstützer des Apartheidregimes in Südafrika. Seine rassistischen Äusserungen isolierten ihn in der neoliberalen Bewegung, weisen aber auch auf die Ursprünge einer anti-progressiven Strömung innerhalb des Liberalismus, die bis heute in einige rechtspopulistische Parteien Europas wirkt. Auf der linken Seite des neoliberalen Spektrums dagegen eigneten sich einige Vertreter auch progressives Vokabular an, als sie in den 1970er- und 1980er-Jahren ein „Selbstbestimmungsrecht für Konsumenten“ forderten, und Kapitalkontrollen als „Menschenrechtsverletzungen“ brandmarkten.
Slobodian argumentiert, dass es gerade die Präferenz eines für einen freien Markt nötigen starken Staates und starker internationaler Institutionen ist, die den Neoliberalismus vom Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Man könnte etwas einschränkend einwenden, dass diese Kontrastfolie eher auf den Manchester-Kapitalismus und Richard Cobdens idealistische Vorstellungen von Freihandel und Weltfrieden zutrifft als auf andere liberale Traditionen, die auch schon lange vor den Neoliberalen autoritäre Herrschaft mit offenen Märkten verbanden. Die Liberalen im Deutschen Reich und teilweise auch in Frankreich traten für starke Institutionen und gegen das allgemeine Wahlrecht ein. Wie Pareto und Schumpeter sorgten auch sie sich um die politische Ordnung durch zu viel Demokratie.
In Lateinamerika rechtfertigten liberale politische Denker von Bolívar bis Sarmiento lange vor Hayek autoritäre Herrschaft in „rückständigen“ Gesellschaften. Der Neoliberalismus erscheint so weniger als eine Neuerfindung denn als Adaption liberaler Ideen an globale politische Gegebenheiten des 20. Jahrhundert, insbesondere der Auflösung der Kolonialreiche und der Durchsetzung von Demokratien. „Globalists“ ist eine faszinierende und hervorragend recherchierte Ideengeschichte dieses Neoliberalismus, die sich wohltuend von vielen polemischen Studien unterscheidet. Konzepte anti-liberaler Demokratie und wirtschaftsliberaler Autokratie sowie politische Ordnungen, die durch populistische Reaktionen auf Massenmigration bedroht werden sind hochrelevante zeitgenössische politische Themen. In Slobodians Studie der Neoliberalen erhalten sie eine aufschlussreiche historische Tiefenschärfe.
Quinn Slobodian: Globalisten – Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Suhrkamp, 2019. 522 Seiten, ca. SFr 44.00. ISBN 978-3-518-42903-7
Quelle: hsozkult.de… vom 2. Dezember 2019
[1] Lisa Nienhaus, Sind Sie neoliberal, Herr Lindner? Ein Gespräch mit dem Parteivorsitzenden der FDP über Mutproben, Steuerpläne und den Traum vom eigenen Haus, in: Die Zeit, 21.6.2017, https://www.zeit.de/2017/26/christian-lindner-fdp-interview (23.07.2018); George Monbiot, Neoliberalism – the ideology at the root of all our problems, in: The Guardian, 15.4.2016, https://www.theguardian.com/books/2016/apr/15/neoliberalism-ideology-problem-george-monbiot (09.07.2018).
[2] Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012; Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Harvard 2009.
Tags: Bücher, Neoliberalismus, Politische Ökonomie
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