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Altersvorsorge und Geschlecht

Eingereicht on 2. Mai 2019 – 17:11

Jonas Röösli. Nicht nur im Arbeitsleben werden Frauen schlechter entlöhnt, auch im Alter leiden sie unter materieller und struktureller Ungleichheit. Die Höhe der Altersvorsorge weist einen erheblichen Unterschied zwischen den Geschlechtern auf. Dahinter stehen patriarchale Familien- und Gesellschaftsstrukturen sowie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Dagegen helfen eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und ein kämpferischer Feminismus.

Geschlechtliche Ungleichheit in der Altersvorsorge

Die geschlechtsspezifische Dimension der Altersvorsorge erscheint uns zu allererst in Form der Ungleichheit der Vorsorgeleistungen zwischen den Geschlechtern. Basierend auf der zwischen 2002 und 2012 pensionierten Generation in der Schweiz zeichnet sich folgendes Bild: Die durchschnittliche Altersrente von Frauen beträgt nur 63 Prozent der Altersrenten von Männern, ist also um 37 Prozent tiefer.[1] Um dieser Differenz auf den Grund zu gehen, muss sie nach den verschiedenen Quellen aufgeschlüsselt werden. Die Schweizer Altersvorsorge ist zusammen mit der Versicherung für Hinterbliebene und gegen Invalidität in drei Säulen organisiert. Die erste Säule, die staatliche Vorsorge (die AHV und Ergänzungsleistungen), soll den Existenzbedarf decken; die zweite Säule, die berufliche Vorsorge (vor allem die Pensionskassen) soll die Weiterführung des Lebensstandards ermöglichen; die dritte Säule, die individuelle oder private Vorsorge, steht ergänzend zu den ersten beiden Säulen.

In der ersten Säule beträgt die Differenz der Renten nach Geschlecht nur etwa drei Prozent, während sie in der zweiten Säule 63 Prozent und der dritten 54 Prozent beträgt. Der Anteil der AHV an der gesamten Rente macht bei Frauen fast 80 Prozent aus, bei Männern dagegen nur knapp 60 Prozent. Das heisst, dass der Grossteil der Renten von Frauen nur den Existenzbedarf decken. Nur etwas über die Hälfte der Frauen bezieht eine Rente aus der beruflichen Vorsorge, während es bei den Männern über drei Viertel sind. Bei der dritten Säule zeichnet sich ein ähnliches Bild: Insgesamt verfügen nur ein Viertel aller Menschen über eine private Vorsorge. Der Anteil der Männer mit privater Vorsorge ist aber fast doppelt so hoch wie derjenige der Frauen (26 bzw. 14 Prozent). Zudem hat die familiäre Situation der Frauen einen starken Einfluss auf die Höhe der Renten: bei Verheirateten und Personen mit Kindern liegt die Differenz der Leistungshöhe zwischen Frauen und Männern über dem Durchschnitt. [2];[3]

Entsprechend hat das Armutsrisiko im Alter eine stark geschlechtsspezifische Dimension. Die Armutsquote von Frauen über 65 beträgt etwa 20 Prozent, während es bei den Männern 12 Prozent sind. Auch ist für etwa 37 Prozent der Rentnerinnen die AHV die einzige Einkommensquelle (gegenüber etwa 18 Prozent bei Männern) und sie sind wesentlich öfters auf Ergänzungsleistungen angewiesen.[4]

Um diese Erscheinungen erklären zu können, wollen wir die Altersvorsorge gesellschaftlich situieren und die Entwicklung der sozio-ökonomischen Situation der Frauen in der Schweiz im Zusammenhang mit der von ihnen geleisteten produktiven und reproduktiven Arbeit betrachten.

Altersvorsorge und Klassenkampf

Die Altersvorsorge ist Teil des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Sie entstand infolge der Trennung von Arbeit und Wohnen und der damit zusammenhängenden Auflösung der Grossfamilie im Zuge der Industrialisierung. Zuvor hatte sich zumeist die Familie um diejenigen Angehörigen gekümmert, die nicht mehr in der Lage waren zu arbeiten. Erst mit der Entstehung einer zuerst zahlenmässig, dann auch politisch starken Arbeiter*innenklasse im 19. Jahrhundert kam die Frage und Forderung nach einer universellen Vorsorge auf. Die Notwendigkeit eines Altersvorsorgesystems ist nach der Ökonomin Serap Saritas Oran ein Resultat unter anderem «der Ausbreitung des Kapitalismus, der die Familie und Eigentumsverhältnisse zerstörte, die älteren Menschen erlaubten, zu überleben [und] dem Kampf der Arbeiter*innenklasse für einen höheren Lebensstandard, inklusive Sicherheit im Alter.» [5]

In ihrer modernen Form ist die Vorsorge Teil der Kosten der Arbeitskraft. Am deutlichsten erscheint dies in Form der Lohnabzüge für die staatliche und berufliche Vorsorge. «Der Wert der Arbeitskraft entspricht nicht einfach der Summe, die für die Reproduktion der Muskeln und Nerven einer individuellen Arbeitskraft notwendig ist. Vielmehr hängt der Wert vom sozialen Reproduktionsprozess ab, dessen Wert durch das Verhältnis zur kapitalistischen Klasse, dem Staat und der Familie bestimmt wird.»[6] Dieses Verhältnis beinhaltet auch die Lebensqualität im Alter und in diesem Sinne ist die Vorsorge Teil des Preises der Arbeitskraft, dessen Höhe das Kräfteverhältnis der Klassen widerspiegelt. Genau wie der Preis der Arbeitskraft Resultat von sozialen Auseinandersetzungen und schlussendlich dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist, hängt auch die Vorsorge als Teil dessen davon ab.

Entwicklung des Schweizer Altersvorsorgemodells

So war im Schweizer Landesstreik 1918 – neben der Beschränkung der Wochenarbeitszeit und dem Frauenstimmrecht – die Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung eine der Forderungen. Die AHV wurde allerdings erst 1948, also nach dem Zweiten Weltkrieg, eingeführt – nicht zuletzt aufgrund einer Streikwelle, welche fast alle Branchen zwischen 1944 und 1948 erfasste. Die wirtschaftlich gute Konjunktur sowie der Druck, der aus der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West erwuchs, erlaubte es, die Vorsorge in den westlichen Staaten ab den 1950er-Jahren Schritt für Schritt auszubauen. Die damals entstandenen Vorsorgemodelle bauten stark auf der patriarchalen Ein-Verdiener-Familie auf. 1972 wurde in der Schweiz als Gegenvorschlag zur linken Volkspensionsinitiative das Drei-Säulen-Modell eingeführt. Dieses verlieh der beruflichen Vorsorge ein starkes Gewicht.

Aufgrund der neoliberalen Wende, der zunehmenden Schwäche der organisierten Arbeiter*innenbewegung ab den 1980er-Jahren sowie den regelmässigen Wirtschafts- und Finanzkrisen nahm der Druck auf den Sozialstaat stetig zu. Im Zuge dessen wurde bis 2005 auch das ordentliche Rentenalter von Frauen von 62 auf 64 angehoben. Gerade die berufliche Vorsorge (2. Säule) ist seither von Leistungsreduktionen und Umstrukturierung geprägt, weil die Leistungshöhe des angesparten Alterskapitals immer stärker an die Bewegungen auf dem Finanzmarkt gekoppelt wurde.

Bürgerlich-patriarchale Kernfamilie als Problem

Im Zuge der Industrialisierung löste sich die bäuerliche Grossfamilie im 19. Jahrhundert zunehmend auf. Während Frauen der arbeitenden Klasse schon vor und während der Industrialisierung auf Erwerbsarbeit angewiesen waren, konnte sich nach dem 2. Weltkrieg die bürgerlich-patriarchale Kernfamilie – mit dem Mann als Verdiener und der Frau als Hausfrau und Erzieherin – aufgrund der konjunkturellen Lage bis zu einem gewissen Grad als typische Familienform etablieren. Wie aber alles Ständische und Stehende verdampft, ist auch diese Familienform in Auflösung begriffen.

Der Kampf der feministischen Bewegung gegen die Abhängigkeit vom Ehemann und gegen die «feminine mystique»[7], die das Glück der Frau in ihrer Rolle als Hausfrau sieht, hat zusammen mit der Expansion der Warenform in immer mehr Bereiche des Lebens dazu geführt, dass Frauen in zunehmendem Masse in den Arbeitsmarkt integriert werden. Da die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit auch heute noch mehrheitlich von Frauen verrichtet wird, wird das Engagement in einer Erwerbstätigkeit zu einer doppelten Belastung. Wegen mangelnder Verfügbarkeit von Betreuungsdienstleistungen sind es dann vor allem die Mütter, die nach der Geburt des Kindes ihre Stellenprozente reduzieren oder sich ganz aus der Berufsarbeit zurückziehen.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ursache für die Ungleichheit

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, also die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in Produktion, Haushalt, Familie und Öffentlichkeit nach Geschlecht, reproduziert sich aber auch in der Erwerbsarbeit selbst: Frauen arbeiten öfters in Niedriglohnsektoren mit geringen Aufstiegschancen, während Kapital und gutbezahlte Führungspositionen in Politik und Unternehmen zumeist in Männerhand sind. Da die Höhe der Altersvorsorge vor allem über kumulierte Lohnbeiträge bestimmt wird, zieht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch Ungleichheit in der Altersvorsorge nach sich.

Das Schweizer Vorsorgesystem baut stark auf der Arbeitsmarktrealität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere des Ein-Verdiener-Haushaltes auf. Niedrigere Löhne und insbesondere die bei Frauen noch stark verbreitete Teilzeitarbeit führen zu überproportionalen Einbussen in der Vorsorgeleistung. Dazu kommt, dass sich mehrere Arbeitsstellen gerade in der beruflichen Vorsorge schlecht zusammen versichern lassen. Die Rentenhöhe bestimmt sich in der zweiten Säule über das Kapitaldeckungsverfahren, also aus einem mit Lohnprozenten angespartem Guthaben, das mit dem Umwandlungssatz multipliziert die jährliche Rente bestimmt. Durch den Koordinationsabzug, dem nicht versicherten Teil des Einkommens (2019: 24’885 Franken), werden in der zweiten Säule niedrigere Löhne sowie Teilzeitstellen überproportional weniger versichert. Da Frauen tendenziell weniger verdienen und öfter Teilzeit arbeiten, entsteht in der 2. Säule der grösste Teil des Rentenunterschieds. Hier trifft eine formale Gleichbehandlung auf eine strukturelle Ungleichheit und verstärkt diese dadurch.

Die staatliche Vorsorge (AHV) hingegen basiert auf dem Umlageverfahren. Dabei werden eingezahlte Beiträge unmittelbar zur Finanzierung der Renten an die Leistungsbezüger*innen aufgewendet. Dieses Verfahren bietet mehr Möglichkeiten für Anpassungen. So werden für die Höhe der Leistungen von Ehepaaren die Einkommen von Ehepaaren gesplittet, also aufgeteilt, und je zur Hälfte beiden angerechnet. Seit 2009 werden zudem Erziehungs- und Betreuungsgutschriften einkalkuliert. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die unbezahlte Hausarbeit zu einem gewissen Grad berücksichtigt – entsprechend tiefer ist der Rentenunterschied in der ersten Säule.

Ansätze für eine wirklich soziale Altersvorsorge

Ansätze wie die oben erwähnten Betreuungsgutschriften lindern die Symptome. Eine nachhaltige Lösung sollte jedoch bei der Aufwertung und Neuverteilung der sozialen Reproduktionsarbeit ansetzten, oder, was noch sinnvoller wäre, diese in den öffentlichen Dienst zu integrieren. Dies kann jedoch nicht einfach ein Ideal sein, wonach sich die Wirklichkeit zu richten hat, sondern muss Gegenstand eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sein. Inwiefern die geschlechtliche Arbeitsteilung reproduziert wird, hängt von sozialen Kämpfen ab.

Die Quelle der Vorsorge ist die gesellschaftliche Produktion. Es ist eine Frage der Stärke und Organisation der Arbeiter*innen, wie dieses Gesamtprodukt der Arbeit aufgeteilt wird – welcher Teil also Profit und welcher Arbeitslohn ist. Deshalb ist das Vorsorgeniveau der Frauen Teil eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs und damit stark abhängig von Familienmodellen, Arbeitsbedingungen und dem Lohnniveau der Frauen. Es kann deshalb nicht isoliert betrachtet und als ein individuelles Problem angegangen werden, sondern ist Teil der sozialen Auseinandersetzung zwischen den Lohnabhängigen und den Besitzenden. Um hier wirklich Fortschritte zu erzielen, braucht es kollektive Aktionsformen, mit entsprechender politischer Organisation. Um das Kräfteverhältnis in Richtung der Lohnabhängigen zu verschieben und damit Voraussetzungen für eine soziale, nicht-diskriminierende Altersvorsorge zu schaffen, braucht es eine starke feministische Bewegung, die sich solidarisch und kämpferisch für die Bedürfnisse der arbeitenden Frauen einsetzt.

Erschien in der 1. Mai Nummer der antikap, der Zeitung der Bewegung für den Sozialismus


[1] Fluder, Salzgeber, Das Rentengefälle zwischen Frauen und Männern, erschienen in Soziale Sicherheit, 2016

[2] ebenda

[3] Fluder, Salzgeber, von Gunten, Kessler, Fankhauser, Gender Pension Gap in der Schweiz, Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Altersrenten, Schlussbericht, 2015

[4] Guggisberg, Häni, Armut im Alter, Bundesamt für Statistik, 2014

[5] Serap Saritas Oran, Pensions and Social Reproduction, in Social Reproduction Theory, 2017

[6] ebenda

[7] The Feminine Mystique ist ein Buch von Betty Friedan, das 1963 publiziert wurde und das mit der Entwicklung der «Zweiten Welle des Feminismus» in den USA in Zusammenhang gebracht wird. [Anmerkung Redaktion maulwuerfe.ch]

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