Durchschlagende memes – Was wir von den Gilets Jaunes lernen können
Adrian Wohlleben und Paul Torino. Der Moment der Gilets jaunes („Gelbwesten“) hat den Konsens der Politik und des gesellschaftlichen Lebens in Frankreich gebrochen. Seit November haben Hunderttausende Desillusionierte immer wieder Ausschreitungen in den Innenstädten angezettelt, Autobahnen und Ölraffinerien blockiert, Mautstationen und Kreisverkehre im ganzen Land besetzt und sich Schlachten mit der Polizei geliefert. Während sich die erste Phase der Bewegung mit Slogans gegen die von Macron und seinem Team von Technokraten initiierte Benzinsteuer richtete, weigerten sich die Gilets jaunes, nach Hause zu gehen, auch nachdem die Steuer unter einem Kopfsteinpflasterhagel aufgehoben wurde. Linke, Kommentator*innen und Politiker haben die Grundabsicht der Bewegung nicht verstanden, während die Politisierten – von den Anarchistinnen über die Gewerkschafter bis hin zu den Neonazis – entweder versuchen, die Bewegung zu lenken oder sie völlig ablehnen. Die Gilets jaunes haben einen Prozess angestoßen, den zwar niemand versteht, den aber auch niemand ignorieren kann. Was auch immer das Ergebnis der gegenwärtigen Sequenz von Kämpfen sein wird, es ist klar, dass die Gilets jaunes die Regeln der Politik und der sozialen Bewegungen, wie wir sie kennen, gebrochen haben. Wir halten es daher für sinnvoll, einige Lehren aus dieser komplexen und unvollendeten Sequenz zu ziehen, in der Hoffnung, dass wir in Zukunft unter ähnlichen Umständen – die sicher eintreten werden – besser handeln können.
Radikale Aktionen, nicht radikale Akteure
It is not the insurrection that many love to dream about, it is not an act of sedition, it is not the seizure of a territory. It is something else. Some new thing whose word hasn’t been invented yet.
– Liaisons, “Encore”
Wenn wir darauf bestehen, die heutigen sozialen Brüche mit den Kategorien des 20. Jahrhunderts zu interpretieren, können wir sicher sein, sie falsch zu lesen. Es ist kein Zufall, dass viele auf der Linken das Phänomen der Gilets jaunes in Frankreich zunächst als faschistisch oder naiv populistisch interpretiert haben (und deswegen einer radikalen „Korrektur“ bedürfend), während andere vorschnell die Übel eines jeglichen „klassenübergreifenden“ Bündnisses angeprangert haben. Die gegenwärtige politische Rationalität kann radikale Aktionen nicht verstehen, sondern nur radikale Akteure. Die Wahrheit des Handelns liegt, so sagt man uns, in der Identität und den Motivationen ihrer Protagonisten, die allein die wahren Objekte der sozialen Untersuchung darstellen. Eine Bewegung könnte sich auf tausend verschiedene Arten ausdrücken, aber sie wird erst dann wirklich verständlich und gültig werden, wenn sie durch einen aus diesen beiden Faktoren gebildeten, legitimierenden Vektor betrachtet werden kann. Aus welcher Position in der Gesellschaftsordnung ist die Aktion entstanden? Welche Schnittmenge in der Matrix der Unterdrückung stellen die Teilnehmer dar? Es wird davon ausgegangen, dass die Antwort die kollektiven sozialen Interessen der Bewegung offenbart; an diesem Punkt kann man dann entscheiden, ob man sie „unterstützt“ oder „ablehnt“, so als ginge man in einem Supermarkt der Ideologien einkaufen.[1] Wie entstand dieser Impuls, ein Subjekt hinter allem Handeln zu suchen? Woher kommt er?
Dass wir es gewohnt sind, konkrete Handlungen verschwinden zu lassen und nur die „soziale“ Beziehung zwischen den Akteuren zu sehen, liegt daran, dass wir eine Vorstellung von Politik geerbt haben, in der der Diskurs, die Vermittlung von Informationen, den idealen politischen Akt bildet. Wenn gemeinsames Handeln einfach eine andere Weise ist, miteinander oder mit Dritten zu sprechen, wenn der Aufstand einfach ein anderer Modus ist, Forderungen zu stellen, wenn Krieg einfach nur Politik mit anderen Mitteln ist, dann hält uns der permanente Zwang zum Interpretieren von Handlungen verständlicherweise in Atem. Damit eine Person die Aussage einer anderen interpretieren kann, muss ein gemeinsamer symbolischer Bedeutungszusammenhang zwischen uns entstehen, und es ist unsere jeweilige institutionelle Erziehung, die dies ermöglicht.
Zeitgenössische Politik versteht unter Handeln lediglich ein Gespräch zwischen verschiedenen Interessengemeinschaften und Bevölkerungsgruppen einer Gesellschaft. Genau aus diesem Grund neigt radikale Aktivität – sobald sie in einer relativ anonymen Weise auftritt, der es an einer gleichbleibenden Urheberin mangelt und die sich hartnäckig weigert, auf unsere kompositorischen („Wer bist du?“) und projektiven Fragen („Warum tust du das?”) zu antworten – dazu, für politische Analystinnen und Aktivisten gleichermaßen unkenntlich zu sein.
Es ist genau diese Ansicht, die die Gilets jaunes Woche um Woche zerstören. Was sich heute in Frankreich herausbildet ist eine radikale Form des kollektiven Handelns, die sich nicht auf eine kohärente Ideologie oder Motivation, auf Teilnehmerkreise oder bestimmte Regionen stützt. Vor allem aber geht sie nicht auf Grundlage eines Dialoges mit ihrem Feind vor. Es ist die Logik dieser neuen Art der praktischen Zusammensetzung, die wir verstehen müssen.
Durchschlagende Memes
„Whoever has a song written about them never lives long.“
– W.B. Yeats, Mythologies
Wie kam es zu einem Bruch wie dem der Gilets jaunes? In einer Zeit, in der die Benennung und Identifizierung von Gruppen und Menschen zur hegemonialen Praxis von Aktivist*innen wie Polizisten geworden ist, ist es (für alle Seiten) wichtig festzustellen, wie eine gestaltlose und radikal instabile Bewegung sich für mehr als zwei Monate in die Straßen entladen konnte.
Ferguson und Standing Rock wurden einer ständigen „Benennung“ unterzogen, von innen wie von außen. In beiden Fällen trug die Fähigkeit, die „legitimen Anspruchsberechtigten“ der Bewegung zu benennen, auf direktem Wege dazu bei, diese zu zerstören. Dass jede einzelne Gruppe dieser Bewegungen von sich behauptete, im Namen der „Gemeinschaft“ zu handeln, hatte einen Sinn: Denn wer das normative Zentrum einer Bevölkerung bildet, bildet auch das natürliche repräsentative Ideal. Für Demokraten und Reformer ist die Einführung des Rechts, für die Bewegung zu sprechen, eine Voraussetzung politischer Macht. Sobald das Subjekt einer Bewegung ausreichend beschrieben und definiert ist, beginnt der Moment zwangsläufig, zu schrumpfen und auszutrocknen: Anführer werden zum Verhandeln aufgerufen, Militante werden unterdrückt, und eine große Anzahl aktiver Teilnehmer*innen wird auf einfache „Anhänger“ eines nicht mehr wirklich gemeinsamen Kampfes reduziert. Sobald sich Bewegungen um charismatische Individuen und Großmäuler zusammenzuschließen beginnen, ist es nur selbstverständlich, dass die Ärmsten und Kämpferischsten – und für gewöhnlich am stärksten rassistisch Marginalisierten – (z.B. Joshua Williams, Red Fawn) den Großteil der Repressionen abbekommen. Es ist also sinnfällig, dass von Ferguson und Standing Rock bis Bordeaux und Toulouse die kompromisslosesten und entschlossensten Aktionen heute nicht von den politischen Cliquen und Aktivisten-Netzwerken ausgehen. Die Kluft zwischen den Ideologen und den eigentlichen Revolutionären wird immer größer. Da ihre Vorstellungen von der Natur und der Bedeutung des Kampfes immer asymmetrischer werden, werden sie einander immer unverständlicher.
Die Gilets jaunes sind keine traditionelle soziale Bewegung. Das Paradigma der sozialen Bewegung bezieht sich auf einen Prozess, bei dem sich Gruppen um eine bestimmte Erfahrung mit gesellschaftlichen Institutionen (oder um eine bestimmte Erfahrung von Unterdrückung, wie im Falle der Neuen Linken) organisieren, die Interessen ihrer jeweiligen Gruppen fördern und sich dabei mit anderen institutionellen Segmenten verbinden. Von den „Arbeiter-Studierenden-Aktionskomitees“ im Mai 1968 bis hin zu der gescheiterten Allianz zwischen französischen Eisenbahnarbeitern und Akademikerinnen genau 50 Jahre später übt dieses trotzkistische Organisationsmodell weiterhin einen starken Einfluss auf die Vorstellung von der Eskalation eines Konflikts aus.[2] Da jede konstituierende Gruppe durch ihr institutionelles Bewusstsein politisiert worden zu sein scheint, wird die Zusammensetzung vorgestellt, als fände sie Segment um Segment statt, durch eine „Konvergenz der Kämpfe“, die letztlich in einen Generalstreik münden soll. Doch der gegenwärtige Augenblick hat wenig bis gar keine Verbreitung von kleinen oder partiellen Subjektivitäten, keine „Queer Gilets jaunes“, „Studierende Gilets jaunes“ oder „Arbeiter Gilets jaunes“ hervorgebracht. Kaum jemand besteht auf bestimmten sozio-institutionellen Eigenschaften und traditionellen Kampfformen unter Ausschluss der jeweils anderen. Während noch niemand sagen kann, wohin sie führen wird, haben die Gilets jaunes gezeigt, dass es möglich ist, eine praktische Sequenz von Aufständen zu schaffen, an denen jede*r ohne sich einreihen zu müssen teilnehmen kann, ohne die besonderen Interessen marginalisierter Gruppen in den Vordergrund zu stellen oder sich nach einer weißen, patriarchalischen, kleinbürgerlichen oder anderweitig hegemonialen Leidensgrammatik zu richten. Das ist die Herausforderung, vor die uns die gegenwärtige Bewegung stellt, und die Revolutionäre überall durchdenken müssen.
An sich betrachtet bringt das Anziehen einer Warnweste weder eine vereinheitlichende Ideologie, ein Prinzip oder eine Forderung noch eine bestimmte Subjektposition oder Identität mit sich. Es funktioniert wie das, was wir ein „Meme mit Kraft“ nennen könnten. Ein Meme ändert nicht unbedingt den Inhalt eines Kampfes. In Frankreich zum Beispiel resultieren die katalysierenden Faktoren aus einem sehr vertrauten gesellschaftlichen Druck: steigende Lebenshaltungskosten, sinkende soziale Mobilität, Kürzungen in der öffentlichen Ausgaben, eine triumphierende neoliberale Regierung, die den arbeitenden Armen ins Gesicht spuckt, usw. Was das Meme der Gilets jaunes bietet, ist eine plastische Form, in der dieser Inhalt die Kraft einer Intervention annehmen kann. In jedem politischen Kampf gibt es eine minimale Formalisierung; insofern stellt das Meme erneut die grundlegende Frage der Partei und bietet die minimale Grundlage für die Organisation einer Bruchkraft im 21. Jahrhundert. Die Fließfähigkeit des Memes ermöglicht es, sich einer Demo, einer Blockade oder der Besetzung eines Kreisverkehrs anzuschließen, ohne sich in ein „gemeinsames Interesse“ oder die legitimierenden „Überzeugungen“ einer Bewegung einfügen zu müssen. Anstatt sie zu lösen, verschiebt es die Frage nach einer gemeinsamen Leidensgrammatik auf einen späteren Zeitpunkt.[3] In der Zwischenzeit hat es jedoch die Macht, die Stilllegungen, die unsere gesellschaftliche Trennung in der Metropole definieren, außer Kraft zu setzen. Unterschiedliche Erfahrungen oder Ideologien werden weder beseitigt noch gelöst, aber ihre Lösung ist nicht länger Voraussetzung für den Umgang mit anderen. Das Meme erlaubt es allen, auf der Grundlage ihrer jeweiligen Erfahrungen mit den „Eliten“ (ein bewusst unterkonstruierter Feind) zu handeln – wie ein Stapel Tarotkarten, in dem das Publikum den persönlichen Inhalt ausfüllt. Jeder von uns ist eingeladen, gegen den Feind vorzugehen, ohne zu warten oder um Erlaubnis zu bitten, und zwar aus eigenen Gründen. Menschenmassen sind in der Lage, zusammenzuarbeiten und nebeneinander zu agieren, ihre gesellschaftliche Wut und Frustration auszudrücken, ohne auf konventionelle Gemeinschafts- und Organisationsmodelle zurückzugreifen, um die Distanzen innerhalb und zwischen gesellschaftlichen Gruppen (politischen Parteien, direktdemokratischen Versammlungen, Gangs, usw.) zu vermitteln. Trotz seiner scheinbar monochromatischen Homogenität ermöglicht das Meme daher tatsächlich die radikalste Bejahung der Singularität. Es gibt keine andere Form der gesellschaftlichen Zusammensetzung, die uns direkter ermutigt, auf die Angemessenheit unserer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen und auf unsere Auffassung von Situation zu reagieren.
Die Gilets jaunes sind keine „Koalition“ verschiedener, aber bereits bestehender politischer Gruppen. Das Konzept der Koalition gehört nach wie vor zum Horizont der „Konvergenz der Kämpfe“. Aber bisher produzieren die Gilets jaunes weit mehr als sie repräsentieren. Wenn sie weiterhin die Initiative behalten, wenn ihr produktives und erfinderisches Vermögen nicht der Logik von Forderungen und Verhandlungen untergeordnet wird, wenn sie nicht beginnen, ihre irruptiven Interventionen im Namen einer stabilen Bevölkerung oder einer Interessengruppe durchzuführen, könnte es gerade ihnen gelingen, den depressiven Zyklus der Revolutionen des 20. Jahrhunderts zu beenden, in dem eine Regierung im schnellen Wechsel durch eine andere ersetzt wird.
Niemand weiß im Voraus, was die kompositorischen Grenzen eines Memes sind; seine Kohärenz drückt sich a posteriori, Woche für Woche, Stück für Stück, aus. Was die „Gilets jaunes“ bedeuten werden, wird von ihren konkreten Auswirkungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten abhängen. Aus dieser Offenheit resultiert ihre besondere Stärke, da sie von jedem aufgenommen und in praktisch jede Richtung bewegt werden kann. Nachdem sie sich von jeglichem inhärenten Bezug auf ein stabiles „Subjekt“ befreit hat, öffnet sie sich auf einen grenzenlosen Horizont des Experimentierens. Wie bei jedem Meme hängt sein Kurs von seiner Fähigkeit ab, sich zu erweitern und neu zu erfinden, zu schwingen und sich mit neuen Inhalten und Ausdrucksmodi zu kombinieren. Die Reinheit steht hier mit der Stärke in umgekehrter Korrelation. Das Meme ist nicht der Universalität der Idee nachempfunden, sondern der unbegrenzten Bewegung des Simulakrums, denn seine Vitalität nimmt zu, indem es sich vermehrt, verwandelt und viral verbreitet. In dem Moment, in dem es nicht mehr in der Lage ist, Hindernisse zu überwinden und den Prozess der Verwandlung fortzusetzen, in dem es gezwungen ist, seine Grenzen zu überwachen, Anspruchsberechtigte von Betrügern, authentische Mitglieder von „gewalttätigen Agitatoren“ zu trennen, verliert es seinen kreativen und experimentellen Rand und versandet.
Der Cortège de tête
Das Phänomen des cortège de tête („Demospitze“) während der Bewegung gegen das Loi travail 2016 markierte den ersten Moment in der jüngeren französischen Geschichte, in dem es einer sozialen Bewegung gelang, ein Meme neben und in sich selbst zu produzieren. Da er die ersten Reihen besetzt, gibt der cortège de tête den Rhythmus, das Tempo und die Slogans der großen Demos vor. Für gewöhnlich eifersüchtig bewacht von Gewerkschaften und anderen Organisationen, deren Anführer ihn als Bühne zur Selbstdarstellung hinter pseudo-unitarischen Bannern betrachten, wurde der Raum 2016 von Graffitisprüherinnen, YouTubern, Studierenden und allen möglichen anderen Jugendlichen eingenommen, die ihm die Erscheinung eines Splittermarsches verliehen. Diese Geste des „Ergreifens der Spitzenposition“ selbst wurde schnell zu einem Meme und bald bei jeder großen Demo in dieser einige Monate währenden Sequenz von Kämpfen wiederholt. Aufgrund seiner wilden Energie und aggressiven Haltung gegenüber der Polizei provozierte der cortège de tête andauernd Zusammenstöße, was dazu führte, dass sich mit jeder Demo mehr Menschen anschlossen und eine noch bessere materielle Vorbereitung möglich wurde. Der cortège funktionierte wie „ein Aggregationspunkt, physisch wie politisch. Nach und nach magnetisierte er den Wunsch nach Revolte, die Wut, die Masse der widerspenstigen Körper, der Verwundeten, der Ungehorsamen, und der Unregierbaren.“[4] Natürlich kann es, wie der Name schon sagt, keinen cortège de tête geben, ohne dass die Gewerkschaftsprozessionen hinterhermarschieren, eine Tatsache, die dafür sorgte, dass die Ansteckungskraft im Wesentlichen in der raum-zeitlichen Logik der traditionellen sozialen Bewegung gefangen blieb. Trotz dieser Einschränkung, und ähnlich wie bei den Gilets jaunes, ermöglichte das cortège de tête-Meme die Schaffung eines Raumes, in dem eine neue Weise der Mischung von Menschen entstehen konnte, die ebenfalls dazu neigte, alle früheren institutionellen Rollen und Identitäten auszusetzen. Wie damals ein Musiker schrieb:
Die Einzigartigkeit des cortège de tête liegt in seinem generischen Charakter, der sich der Erfassung durch jegliche Identität entzieht. In ihm begegnen Menschen einander, die sich im Rahmen des normalen Laufs der Dinge nie treffen würden, deren zugewiesene Positionen radikal unvereinbar erscheinen. Was könnte für die Macht beunruhigender sein, als das praktische Zusammenweben eben jener Körper zu beobachten, deren Trennung voneinander ihre Hauptbeschäftigung ist? […] Wenn das Revolutionärwerden irgendetwas bedeutet, dann ist es genau diese Annahme des clinamen, diese Selbstaufgabe, diese kompromisslose Auseinandersetzung mit dem Möglichen, das durch die Situation eröffnet wird […] Der cortège de tête verkörpert die neutrale und anonyme Vereinigung, das Irgendwerwerden dieser ganzen menschlichen Vielfalt, deren spezifische Ursprünge lokal und punktuell ausgesetzt sind.[5]
Zumindest was Metropolen wie Paris betrifft (die Blockaden im Westen stehen auf einem anderen Blatt), wurden die Macht und die Grenzen der Sequenz 2016 durch die Fähigkeit bestimmt, der Logik einer „Konvergenz der Kämpfe“ zu entkommen, und es war eine memetische Kompositionsmethode, die diese Fluchtlinie ermöglichte. Das anonyme Werden des cortège de tête beschränkte sich jedoch auf die Form des riots, dessen Dauer wiederum vollständig an den von den Gewerkschaftsfunktionären vorgegebenen Rhythmus gebunden war. Ohne einen Gewerkschaftsumzug gab es auch keine Spitzenposition, die man an sich reißen konnte. Trotz seiner enormen Stärke war es die unverwechselbare Form des cortège-Memes, die seine Ausdehnungs- und Wandlungsfähigkeit begrenzte und ihn schließlich erdrückte.
Memes erfordern weniger Interpretation als Improvisation. Die Haltung oder Neigung, die anzunehmen sie uns herausfordern, ist nicht die des Gelehrten. Es ist die des Visionärs, der auf der Suche nach wiederholbaren Gesten ist – jenen kreativen Handlungen, die eine neue Sequenz experimenteller Wiederholung in sich tragen.[6]
Entsetzung und Ort
Eine kommunistische Revolution ist nicht die Summe seiner riots, Aufstände oder Schlachten. Sie ist nichts anderes als der Prozess, bei dem es Millionen von Menschen gelingt, ihre tägliche Existenz nach nicht-wirtschaftlichen Vorstellungen davon, wie Glück oder das gute Leben aussehen kann und sollte, neu zu organisieren. Während die radikalen Bewegungen, Besetzungen und Aufstände der letzten zehn Jahre es unzähligen Menschen ermöglicht haben, die Intelligenz und Erhabenheit kollektiver Selbstorganisation ohne Vermittlung durch Geld aus erster Hand zu erfahren, sind solche „kommunistischen Maßnahmen“ letztlich nur von historischer Bedeutung, wenn sie unumkehrbar werden. Ohne die Schaffung einer zuversichtlichen, dauerhaften, gemeinsamen Sensibilität fallen die Stillstellungen dieser Welt immer wieder in alte Muster zurück.
Autonome und kommunistische Formen und Praktiken müssen einen Weg finden, sich zu verbreiten und zu bestehen – aber wie? Das ist eine Frage, die sich alle, die schonmal die Macht und Erhabenheit eines Aufstands erlebt haben, zweifellos gestellt haben – in dem Moment, in dem sie zu den Videospielen, Social-Media-Profilen und dem „Business-Casual“ zurückkehren müssen, die den Raum des privaten Lebens einschließen. Die Ordnung des riots wird flankiert von der Unordnung des normalen Lebens. Wie können wir den Sprung von der Stillstellung der Zeit hin zu ihrer Reorganisation schaffen und dauerhafte Formen anarchischer Kollektivität erzeugen? Ist es möglich (wie z.B. Joshua Clover nahezulegen scheint), dass der riot über seine Form hinausgeht, dass eine „kaskadierende Serie“ von riots aus eigener Kraft „ihre eigenen Existenzen erhalten und gleichzeitig andere Kämpfe hervorbringen kann, um ihre Chance gegen die sich ausbreitende Unordnung zu ergreifen“?[7] Können riots gemeinsam reproduktive Formen der Selbstorganisation hervorrufen? Oder ist es notwendig, dass neben ihnen eine andere, ganz eigene Kampfdynamik entsteht?
Was die Aktion betrifft, so gibt es in der Bewegung der Gilets jaunes nicht zwei gegensätzliche Tendenzen: eine, die in den Städten randaliert, und eine andere, die Kreisverkehre blockiert und Gemeinschaftskantinen baut. Während beide zweifellos stattfinden, ist es entscheidend zu verstehen, wie diese beiden Dynamiken zusammenhängen, denn darin liegt die Erklärung sowohl für die Originalität als auch für die Beharrlichkeit der Bewegung. Die riots in den Städten sind in einem parallelen Prozess eng miteinander verbunden, welcher die Erfahrung von Politik selbst neu verortet hat. Es ist die Konstitution kollektiver Orte, die den entsetzenden/revolutionären Kern der Bewegung bildet und die den Gegensatz zwischen riot und Alltag überwindet. Ein Pariser Brief an das Liaisons-Kollektiv stellte kürzlich fest, dass „das Vorrecht der Gilets jaunes darin besteht, sich dort zu organisieren, wo sie leben, auf regionaler Ebene und nicht im Hinblick auf eine klar umrissene politische Identität. Es ist also kein Zufall, dass, in einer bestimmten Region, gerade der Kreisverkehr die minimale Verbindungseinheit ist“.[8] Wie die Verfasser uns erinnern, rufen kleine Kreisverkehre im ländlichen Frankreich eine andere Assoziation wach als die zentralen Plätze der größeren Städte, die 2016 der locus classicus der Bürger-Versammlungen der Nuit debout waren und die bisher von den Gilets jaunes eben nicht besetzt wurden. Für uns deutet diese Beobachtung auf einen größeren ethisch-politischen Einsatz hin: In dem Paradigma der Entsetzung, das die kommende Politik definiert, wird der Ort die Position ersetzen. Die Notwendigkeit, neue Orte oder „lebendige Orte“ zu schaffen und zu verteidigen, wird die zentrale Bedeutung von „sozialen“ Differenzierungen wie Identitäten und symbolischen Positionen innerhalb einer Matrix der Unterdrückung in den Hintergrund treten lassen. Was bedeutet es, einen „Ort“ zu etablieren, und wie haben die Gilets jaunes die Schaffung von Orten mit den riots und Blockaden verknüpft, die für die gegenwärtigen Kämpfe so bestimmend geworden sind?
Kreisverkehre
Indem sie die Kreisverkehre auf eine Weise besetzen, die es den Teilnehmenden ermöglicht, dort zu leben – ungefähr 200 Hütten und Gebäude wurden auf den Kreisverkehren errichtet, in denen gegessen, geteilt und sich verschworen wird –, schaffen die Gilets jaunes einen lebendigen Ort inmitten der toten Räume der spätkapitalistischen Zirkulation. Eine ähnlich unwahrscheinliche Leistung ließ sich kürzlich auch in Chico, Kalifornien, beobachten, wo Klimaflüchtlinge nach den Waldbränden Anfang des Jahres ein Lager auf einem Wal-Mart-Parkplatz aufbauten. Ob bewusst oder nicht, haben sie etwas von der Geste der ZAD und der No-TAV-Bewegungen, der Zapatistas in Chiapas und der Kurden in Rojava geerbt. Es waren diese letztgenannten Kämpfe, die die strategische Wirksamkeit der Nutzung des „Ortes“ als Angriffselement, der Umwandlung des lebendigen Bewohnens eines intensiv besiedelten Territoriums in ein Mittel zur Delegitimierung der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung am deutlichsten unter Beweis gestellt haben.
Gleichzeitig ist das Manöver der Gilets jaunes anders gelagert. Anstatt dass viele Menschen aus ganz Europa in zwei oder drei „zones à défendre“ zusammenkommen – wobei Vinci & Co die Initiative behalten und den Standort der Politik festlegen – bleiben die Gilets jaunes-Kreisverkehre dem Alltag nahe. Diese Nähe zum Alltag ist der Schlüssel zum revolutionären Potenzial der Bewegung: Je näher die Blockaden an der Heimat der Teilnehmenden liegen, desto eher können diese Orte auf Millionen andere Weisen persönlich und wichtig werden. Und die Tatsache, dass es sich um einen Kreisverkehr handelt, der besetzt ist – und nicht um einen Wald oder ein Tal – entzieht diesen Bewegungen den präfigurativen und utopischen Inhalt. Dies mag auf den ersten Blick wie eine Schwäche erscheinen, kann sich aber als Stärke erweisen.
Wie jede, die schonmal die ZAD besucht hat und in die Stadt zurückgekehrt ist, bestätigen kann, verschwindet das Gefühl der Macht, das sich in der polizeifreien Zone einstellt, sobald man diese wieder verlässt. Die ZAD ist ein lebender Ausnahmezustand gegenüber der Welt um sie herum (wenn auch ein realer, und nicht eine juristische Fiktion). Im Gegensatz dazu ermöglicht es die Besetzung des Kreisverkehrs in der Nähe des Wohnortes, dass das kollektive Vertrauen, die taktische Intelligenz und die gemeinsame politische Sensibilität, die die Gilets jaunes aufbauen, auch auf die Netzwerke, Verpflichtungen, Freundschaften und Bindungen des gesellschaftlichen Lebens in diesen Gebieten wirken und diese durchziehen. Was in den action camps utopische Gefühle waren, sickert durch die Kreiselblockaden in den Alltagsraum, anstatt sich davon fernzuhalten. Ebenso wenig bewahrt der Kreisverkehr eine extraterrestrische Existenz neben dem normalen Leben – wie es bei den „radikalen“ Räumen Berlins der Fall ist.
Die Heftigkeit der Samstagsriots lässt sich nur durch die Affinitäten erklären, die man in den Kreisverkehren findet. Allen Berichten zufolge besteht die Menge mit jedem weiteren Samstag zunehmend aus gut organisierten Kleingruppen, die bereit sind, taktisch und intelligent zusammenzuarbeiten. Da sich selten jemand lange genug in Paris, Bordeaux oder Toulouse aufhält, um soziale Bindungen zu knüpfen, liegt es nahe, dass es eben die im Alltag entstandenen Bindungen, die jetzt durch die Kreisverkehre „gefiltert“ werden, sind, die bei den „Actes“ jedes Wochenende in die Offensive gehen. Der Gegensatz liegt nicht, wie bisweilen nahegelegt wurde, zwischen der strategischen Front der Samstagsriots und der der Kreisverkehre. Der Kreisverkehr ist die Membran, der Berührungspunkt zwischen dem riot und dem täglichen Leben, die ihre jeweils eigenen, unverwechselbaren Rhythmen und Texturen haben.
Es ist diese Kombination aus einem memetischen Kompositionsmodus und einem entsetzenden oder ortsschaffenden Modus des Zusammenlebens, die die beispiellose Heftigkeit und Langlebigkeit der Bewegung erklärt.
Ekstatischer Populismus
Haben wir es mit einer „populistischen“ Bewegung zu tun? Sind die Gilets jaunes ein populistisches Symbol geworden?
Die Idee des „Volkes“ (Lat.: populus / popularis) hatte schon immer zwei Bedeutungen. Auf der einen Seite brauchen westliche Staaten die Spektralfigur des „Volkes“ aus einem präzisen juristischen Grund, nämlich um die Quelle ihrer Autorität außerhalb ihrer selbst so zu positionieren, dass diese Quelle nie tatsächlich erscheint. Das Volk in diesem rechtlichen Sinne ist das, worin sich das Gesetz selbst voraussetzt – eine reine Fiktion, die nur auf dem Papier oder im Munde der Politiker existiert. Andererseits hat der Begriff immer auch die Armen, die Benachteiligten, die „normalen Menschen“ gemeint. Es ist ein wechselnder Platzhalter, analog zu dem, was jahrhundertelang als „Plebs“ bezeichnet wurde.[9] Die beiden Bedeutungen des Begriffs haben außer dem Namen nichts gemeinsam. Noch wichtiger ist, wie Marcello Tarí uns erinnert, dass sie sich in der Praxis tatsächlich gegenseitig ausschließen: „So wie es Aufstand als Ideologie nur dann gibt, wenn es keinen Aufstand gibt, so gibt es Populismus nur, wenn die Menschen abwesend sind“.[10] Wenn die Menschen wirklich auf der Straße sind, kann die Regierung nicht regieren, und die neumodischen parlamentarischen Populismen von Syriza in Griechenland bis Podemos in Spanien erschienen genau in dem Moment, als die riots und Platzbesetzungen der Jahre 2011-12 besiegt waren. Die Gilets jaunes sind nicht das „Volk“, in dessen Namen das Gesetz spricht. Wenn überhaupt, dann ist die Warnweste die Uniform des Ex-Bürgers, das Symbol eines negativen oder ekstatischen Populismus, der aus dem Gesetz, das sich in seinem Namen legitimiert, herausgetreten ist. Es ist nicht zu bestreiten, dass der grundlegende Antagonist in diesem Kampf die „Eliten in der Regierung“ bleiben, für die der Sprechchor Macron, Démission!, eine Forderung nach Entthronung, sinnbildlich ist. Doch es wäre viel zu früh zu behaupten, dass, hinter den Tränengasschwaden, die jede Woche die Städte füllen, ein neues konstitutives Subjekt erkennbar wird. Das Einzige, was wir sicher sehen, ist eine Menge von Individuen und kleinen Gruppen, die sich an fast völlig unvermittelten Handlungen beteiligen, um einen rapport de force mit der Regierung aufzubauen, dessen Ergebnis noch niemand vorhersagen kann.
Es ist wichtig, diese ballistische Neigung der Gilets jaunes, ihre Vorliebe für Kräftebeziehungen und direkte Konfrontation zu betonen, da sich so die Verschiebung in der Funktion des Sprechens innerhalb der Bewegung erklären lässt. Die Dinge lägen in der Tat anders, wenn die Gilets jaunes nun auch die Plätze der Städte besetzten und sich in der Sorte direktdemokratischer Vollversammlungen engagieren würden, die die Nuit Debout-Bewegung 2016 und die Bewegung der Berufstätigen davor definiert hatten. Während die Forderung nach einem „Bürgerreferendum“ nach wie vor aus verschiedenen Teilen der Bewegung kommt, haben sich die Gilets jaunes größtenteils und auf bewundernswerte Weise geweigert, ihre praktische Initiative gegen politische Repräsentation einzutauschen, und sich dem Staat weniger als Gesprächspartner denn als kinetischem und physischem Gegner entgegengestellt. Kundgebungen und öffentliche Versammlungen haben im Kampf bisher keine große Rolle gespielt. Während Versammlungen und Sprechergremien verschiedene Kreisverkehre zusammenbringen, behalten sie den Charakter lokaler, strategischer, situativer Momente logistischer Selbstorganisation und Koordination. Sobald sich irgendwer als Repräsentant der Bewegung zu inszenieren versucht oder für sich die Legitimität beansprucht, für die gesamte Bewegung zu sprechen, stößt er auf taube Ohren. Niemand kann die Stimme der Bewegung in überzeugender Weise übernehmen, am wenigsten diejenigen, die das behaupten. Der akephale Charakter des taktischen Repertoires der Giletes jaunes – riot, Blockaden, die Aneignung von Mautstellen, Kreiselbesetzungen usw. – hat zu einer radikalen Schwächung der Macht der „offiziellen“ politischen Rede beigetragen. Und genau das hat – zumindest fürs Erste – dafür gesorgt, dass der besondere Populismus ekstatisch und plebejisch bleibt; dass die Des-Identifikation sowohl mit den Ordnungskräften als auch mit der einsamen Atomisierung, die der Bewegung vorausgeht, sich gegen die Versuchungen der Repräsentation und der Assimilation durchsetzt; und dass dort, wo gesprochen wird, dies in erster Linie dazu dient, unser Engagement zur Verteidigung jener Orte des kollektiven Lebens – gesammelt während der Bewegung, von Kreisverkehr zu Kreisverkehr – zu erneuern und auszuweiten: dies ist eine Redeweise, die sich qualitativ vom Verkündungs-Universum der Politiker unterscheidet. Es ist absehbar, dass, in genau dem Moment, in dem sie sich auf die Rolle einer konstituierenden Kraft in dem in Frankreich allzu bekannten großen Spiel der Demokratie reduzieren lässt (und in dem eine „Sechste Republik“ die derzeitige Dummheit ersetzen würde), die Bewegung zerschlagen wird und alle ihre revolutionären Bestrebungen zunichte gemacht werden.
Plündern als antifaschistische Massnahme
Eine der wichtigsten Neuerungen der Bewegung der Gilets jaunes liegt in der beispiellosen Diskrepanz zwischen dem schnellen Wachstum der kollektiven Macht einerseits und dem Fehlen eines positiven Horizonts andererseits. Selten haben wir ein so ausgeprägtes Vermögen, alles zum Erliegen zu bringen, zusammengehen sehen mit einer ähnlichen Unbestimmtheit was Forderung, Identität, ideologische Konsistenz oder Programm angeht. Der „offizielle“ Antagonismus hat sich fast ausschließlich auf ein Machtzentrum konzentriert, nämlich die Macron-Regierung. Ideologisch ist das sicher verdächtig, da es lediglich ein „Mismanagement“ der kapitalistischen Klassenbeziehung, eine Verwechslung von Ursache und Wirkung nahegelegt. Trotzdem, auch wenn es als Machtanalyse philosophisch und kritisch unzureichend ist, hat es praktisch einem breiten Querschnitt von Menschen ermöglicht, gemeinsame Ziele zu erkennen, so dass die Polarisierung so allgemein wie möglich bleibt. Gerade die ideologische Unbestimmtheit der Situation, unterstützt durch die Unterkonstruktion des Feindes durch die Bewegung, hat es ermöglicht, dass sich der Bruch ausdehnt und intensiviert.
Dies wirft eine ernste Frage auf: was hat verhindert, dass die Bewegung einer faschistischen Tendenz erliegt? Sicherlich hat die bewährte antifaschistische Taktik von Angriff und Verjagung organisierter Rechtsextremer aus den Demos es diesen erschwert, einen überproportionalen Einfluss zu erlangen. Wir glauben jedoch, dass vor allem der weit verbreitete Vandalismus den Einfluss der Nationalisten eingeschränkt hat. Die Gilets jaunes haben uns gelehrt, wie wichtig es ist, aktiv an Bewegungen teilzunehmen, die nicht von einer erkennbaren linken Grammatik ausgehen, und stattdessen daran zu arbeiten, die Zerstörung von Eigentum in ihnen zu legitimieren.
Der Maidan ist ein gutes Beispiel. Da der Nationalismus (der demokratische wie der faschistische) eine Technik zur Bildung von Allianzen zwischen Reichen und Armen „im Namen des Volkes“ darstellt, ist es wichtig zu betonen, dass die Zerstörung von Unternehmenseigentum in der EuroMaidan-Bewegung in Kiew als inakzeptabel galt und daher selten passierte. Im Gegensatz zu zivilen Unruhen in anderen europäischen Ländern wie Griechenland, Spanien, Italien, Portugal und Frankreich, wo bei lebhaften Demonstrationen regelmäßig Schaufenster angegriffen werden, stellt ein Artikel in der Kyiv Post vom 20. Januar 2014 fest, dass „in zwei Monaten der Konfrontation in der Innenstadt von Kiew kein einziges Schaufenster kaputt gegangen ist. Zugegeben, die ukrainischen Demonstranten scheuen sich nicht, Zäune auseinanderzunehmen oder Pflastersteine herauszureißen, aber dieser Vandalismus dient auch dem größeren Plan“.[11]
Liberalismus und Faschismus üben den Schulterschluss, wenn es darum geht, die kapitalistische Produktion zu verteidigen. Sie sind sich lediglich uneins darüber, wer in welchem Umfang an ihren gesetzmäßigen Institutionen teilnehmen darf. Diese Gruppen haben große Schwierigkeiten damit, die Zerstörung von Eigentum ideologisch zu dulden. Wo sie es tolerieren, muss diese Zerstörung ethnisiert werden. Nationalisten können ihre eigenen Angriffe auf Anlagen und Objekte nur auf ethno-nationalistische und politische Weise erklären. Die 2017 in einer Synagoge in der Innenstadt von Chicago eingeschlagenen Scheiben waren ein persönlicher und rassistischer Angriff auf die Mitglieder der Gemeinde. Was sie nicht akzeptieren können, sind allgemeine Angriffe auf Privateigentum, eine Gewalt, die eindeutig den Markt angreift: antikapitalistische Gewalt. Es ist eine Sache, eine Gewerkschaftshalle oder ein Regierungsbüro anzugreifen, es ist eine ganz andere, ganze Einkaufsviertel zu zerstören. Dies in amerikanischen Bewegungen einzuführen, wo Sachschäden und Vandalismus als unbesonnen und strategisch sinnlos angesehen werden, ist vielleicht die schwierigste Aufgabe.
Schluss: Eine Wette
In den kommenden Jahren könnten Kämpfe um ein Gefühl des Ekels anstatt um eine gemeinsame Leidenserfahrung entstehen. Aus unserer Sicht könnte heute nichts besser sein. Die charakteristische menschliche Erfahrung in den amerikanischen Vororten und im Hinterland ist eine ganz andere als die der Großstadtfabriken, auf denen die Arbeiterbewegung aufbaute. Die heutige vorstädtische und ländliche Ausbreitung führt zu extremer Entfremdung, Isolation und Einsamkeit. Die amerikanische Gesellschaft ist durch immer komplexere Differenzierungslinien getrennt: Klasse, Beruf, Rasse, Geschlecht, Sexualität, Alter, Religion, Gewicht, Politik, Subkultur, Ernährung, Gesundheitsprofil, astrologische Identität, usw. Sicherlich werden weiterhin Kämpfe auf der Grundlage von Alterität und politischer Differenz entstehen, aber wir glauben nicht, dass es sich hierbei um Freiheitskämpfe handeln wird. Es ist an diesem Punkt wahrscheinlicher, dass Freiheitskämpfe aus einem Wirbel wie den Gilets jaunes entstehen werden, in dem verschiedene Praktiken in einen gemeinsamen Artikulationsbereich einfließen, als aus den fortgesetzten Zusammenstößen rivalisierender politischer Gruppen oder den Kämpfen marginalisierter Gruppen, um ihre Interessen innerhalb des zunehmend hohlen „Zentrums“ der normativen Gesellschaft zu vertreten. Sicherlich wird das Gegenteil immer schwieriger vorstellbar: dass sich ein breiter Querschnitt der USA unter einer einzigen Identität und einem einzigen Banner vereinen würde.
Ein Kampf dieser Art könnte so aussehen:
Wütende und entrechtete Menschen beginnen, in die Innenstädte oder in logistische Bereiche (wie Flughäfen und Häfen) einzufallen. Ihre wütende Invasion spricht in einer bestimmten, parallelen Weise Menschen an, die in marginalisierten oder einkommensschwachen Vierteln entweder innerhalb der Stadt oder an ihren Rändern leben (Graffiti-Crews, Rednecks, LKW-Fahrer*innen, Drogendealer, Sexarbeiter*innen, ehemalige Gefangene, Rentner*innen). Ethische Extremisten verschiedener ideologischer oder subkultureller Überzeugungen agieren nebeneinander auf der Straße, nur vereint durch ihre mangelnde Bereitschaft, die gegen das System gerichtete Wut des jeweils anderen zu kontrollieren (mit allen Vor- und Nachteilen: Anarchist*innen, Neonazis, Fußball-Hooligans, Gang-Mitglieder). Die verschiedenen sozialen Gruppen bilden nie ein größeres Ganzes, sondern bewegen sich einfach nebeneinander her, stoßen gelegentlich zusammen, kehren aber Woche für Woche zurück, um die Hochglanz-Fassaden der Städte zu zerstören und Polizei- und Regierungsgebäude anzugreifen. Diejenigen, die es nicht in die städtischen Zentren schaffen, blockieren die Straßen und die arterielle Infrastruktur, von denen diese abhängen, von außen. Diese heterogene Allianz aus ‚randos‘ aus dem nahen und fernen Hinterland und urbanen ethischen Extremisten repolarisiert die politische Situation von oben und unten, nicht von links und rechts. Politiker, linke Organisationen, Gewerkschaften und NGOs distanzieren sich zunächst vom verwirrenden Getümmel und verurteilen die Gewalt. Die Menge achtet nicht auf sie, denn sie hat nichts mit ihnen zu tun. Linke Organisationen, die erkennen, dass sie in den Hintergrund gedrängt wurden, haben keine andere Wahl, als einzuknicken und den Menschenmassen aus einer Nachhutposition hinterherzurennen, wobei sie auf alle möglichen Arten versuchen, sie zu kooptieren, zu managen und schließlich zu befrieden. Studenten und mittlere Manager aller Bevölkerungsgruppen versuchen, die Randalierer rassistisch, sexistisch, geographisch, nach Klassen – auf jeder Identitätsachse, die ihnen einfällt – in Verruf zu bringen und zu spalten, um im Chaos Fuß zu fassen. Gleichzeitig wird die Polizei ihre üblichen groben Fehler begehen, die (zunächst) den Antagonismus erweitern und den Kampf ausweiten, was die Regierung zwingt, die Nationalgarde einzusetzen. Wenn sie an diesem Punkt ankommen, werden sich die Kämpfe entweder zerstreuen, oder es gelingt ihnen, die Streitkräfte zu brechen und eine weit verbreitete gesellschaftliche Abtrünnigkeit zu schaffen…
Revolutionäre sollten vorbereitet sein, denn die Situation wird wahrscheinlich noch verwirrender. Es erscheint uns unwahrscheinlich, dass das Land in einen Bürgerkrieg zwischen Antifaschisten, Neonazis und der extremen Mitte stürzen wird. Ebenfalls ist es unmöglich, sich einen neuen politischen Konsens zwischen Demokraten und Republikanern vorzustellen, der auf irgendeine Weise den Ängsten und Tumulten unserer Zeit angemessen ist. Wenn etwas wie die Gilets jaunes in die USA kommt, könnt ihr sicher sein, dass es noch verwirrender und unheimlicher wird, noch gewalttätiger und unbequemer. Wir wetten jedoch, dass die kommenden Bewegungen nicht ohne ihren eigenen Charme, ihre eigenen Innovationen, ihre eigene Schönheit sein werden.
Postscriptum: Sechs Notizen für zukünftige Kämpfe
- Um eine unregierbare Idee von gemeinsamem Glück zu verbreiten, ist es zunächst notwendig, unregierbar zu werden.
- Memes mit Kraft / durchschlagende Memes ermöglichen es Menschen, sich selbst zu authorisieren, so dass sie direkt auf ihr Leiden reagieren können. Auf diese Weise untergraben sie die Verwaltung unserer Bewegungen durch die interne und externe Polizei.
- Memes, die die Situation von oben nach unten polarisieren und die Feindseligkeit auf ein Ziel in der Mitte konzentrieren, lassen den größtmöglichen Antagonismus entstehen. So machen sie es den Reformern schwer, den Aufstand zu verhindern, und eröffnen die Möglichkeit des Kommunismus auf eine echte und praktische Weise.
- Schließt „Konservative“ nicht ideologisch von der Bewegung aus, sondern popularisiert Gesten, die ihre Ideologie nicht unterstützen kann. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, die Zerstörung von Eigentum gegen die Superreichen zu legitimieren. Zeigen, nicht sagen.
- Obwohl der Einsatz von Graffiti und anderer Botschaften notwendig sein könnte, um dem Einfluss rechter Slogans frühzeitig entgegenzuwirken, lasst nicht zu, dass eine Gruppe oder Tendenz das Meme hegemonisiert, bevor der Staat die Kontrolle komplett verloren hat.
5.1. Graffiti sollte nur auf zwei Arten verwendet werden: einerseits, um die Feindseligkeit gegenüber dem gemeinsamen Feind auszudrücken und, andererseits, um das taktische Repertoire, das ihr sehen wollt, sowie die Heldentaten der Bewegung als Ganzes zu feiern. Sprecht nicht im Namen eines „Subjekts“ und schließt keine Teile der Bewegung aus.
- Wenn die Macht des Aufstands, soziale Identitäten und Prädikate auszusetzen, nicht neben sich selbst territoriale Orte erzeugen kann, in denen er sich ausdehnen, fortbestehen und in die Dauerhaftigkeit des Alltags übergehen kann, wird er zu einem grausamen Festival.
Quelle: the-hydra.world… vom 6. Mai 2019
[1]Tatsache ist, dass, selbst wenn unsere sozialen Identitäten unsere politischen Positionen irgendwie mechanisch programmieren würden (was sie nicht tun), dies uns heute nicht helfen würde. Die großen Figuren „militanter Subjektivität“ können nicht so einfach aus dem Nichts wiederbelebt werden. Wie unsere marxistischen Freunde uns immer wieder in Erinnerung rufen, schrumpft die industrielle Gewinnmarge, die die materielle „Basis“ für das politische Bewusstsein der Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferte, seit den 1970er Jahren kontinuierlich und treibt damit die Arbeiterbewegung in die Defensive. Das Ergebnis ist eine seit vier Jahrzehnten andauernde depressive Spirale, wobei die große Mehrheit der Arbeitskämpfe im Westen so gut wie ausschließlich defensiv geworden ist und trotzdem immer weiter verliert. In der Zwischenzeit hat sich die revolutionäre Vorstellungskraft des Westens erschöpft und ist gezwungen, sich von anderen Grundsätzen ausgehend neu zu erfinden.
[2] Zu diesem Punkt siehe Fredy Perlmans klassischen Artikel „Worker-Student Action Committees, May 1968“, hier verfügbar: https://theanarchistlibrary.org/library/roger-gregoire-fredy-perlman-worker-student-action-committees-france-may-68. „In den Ex-Universitäten wurde die Trennung zwischen „Studentinnen“ und „Arbeitern“ in der Praxis, in der täglichen Praxis der Bewohner, aufgehoben; es gab keine speziellen „Studentenaufgaben“ und „Arbeiteraufgaben“. Die Aktion ging jedoch über das Bewusstsein hinaus. Indem sie zu den „Arbeitern“ gingen, sahen die Menschen die Arbeiterinnen als einen spezialisierten Sektor der Gesellschaft, sie akzeptierten die Arbeitsteilung“ (Hervorh. d. Verf.).
[3] Diese Frage lautet: Können Menschen, deren Leben von unvergleichbaren Gewaltformen geprägt sind, die gleiche Welt, die gleiche Sprache, eine gemeinsame Vision von Freiheit erfahren? Das Meme löst diese Inkommensurabilität weder auf, noch unterdrückt es sie – es gibt keine Abkürzung zu einem existentiellen Gemeinwesen. Vielmehr löst es diese Unterschiede von jedem Erfordernis der Einheit, indem es unsere vergleichende Gewohnheit – d.h. eine Form des Leidens durch Abwägung gegen eine andere zu legitimieren – ausschaltet. Die gelbe Weste öffnet das Feld der Politik: Plötzlich ist das Zentrum überall, und jede*r kann aus eigenen Gründen angreifen und sich organisieren, egal ob sich die Gründe miteinander vereinbaren lassen oder nicht.
[4] Mauvaise Troupe, „Cortège de Tête“, in Riots and Militant Occupations. Smashing a System, Building a World. A Critical Introduction, Alissa Starodub und Andrew Robinson (Hrsg,), London, 2018.
[5] Anonym, „The Unassignable Riot“, in War on the Streets. Tactical Lessons from the Global Civil War, Ill Will Editions, 2016, S.61-62. Zuerst veröffentlicht in Lundi matin, Juni 2016.
[6] Als z.B. Mitte Dezember die Gilets jaunes hauptsächlich auf Mautstationen, Kreisverkehre und die samstäglichen riots ausgerichtet waren, begannen einige kleinere Städte damit, „Brotkrümel-Demos“ zu organisieren, bei denen mit Brotkrümeln die Wege zu Häusern lokaler Politiker markiert wurden. Bei ihrer Ankunft zerstörten die Teilnehmer*innen Eigentum oder bedrohten die Amtsträger, manchmal schossen sie sogar mit Pistolen in die Luft – unnötig zu erwähnen, dass das eine Seltenheit in Frankreich ist. Dies war eine wiederholbare Geste, die in der Lage war, das taktische Repertoire des Kampfes strategisch zu erweitern und eine neue Form des Kampfes in den Alltag zu tragen. Für eine hilfreiche Diskussion über Wiederholbarkeit und Improvisation auf der Ebene von Straßenkämpfen siehe (Anonym), „Yes, And…“, in War on the Streets. Tactical Lessons from the Global Civil War, Ill Will Editions, 2016. Hier verfügbar: http://ill-will-editions.tumblr.com/post/154103163849/war-in-the-streets-tactical-lessons-from-the.
[7] Joshua Clover, Riot, Strike, Riot, Verso Books, 2016, S. 187.
[8] Liaisons, „Encore. A Second Letter from Paris,“ The New Inquiry, 04. Januar 2019. Hier verfügbar: https://thenewinquiry.com/encore/.
[9] Siehe Alèssi Dell’Umbria, “Full Metal Yellow Jacket”, Ill Will Editions, 2019. Zuerst veröffentlicht in Lundi matin, 22. Januar 2019. Hier verfügbar: http://ill-will-editions.tumblr.com/post/182503015824/full-metal-yellow-jacket-al%C3%A8ssi-dellumbria.
[10] Marcello Tarí, Non esiste la rivoluzione infelice, Rom, 2016).
[11] Ivan Verstyuk, „No looting or anarchy in this EuroMaidan revolution“, Kyiv Post, 20.01.2014. Hier verfügbar: https://www.kyivpost.com/article/opinion/op-ed/no-looting-or-anarchy-in-this-euromaidan-revolution-335296.html.
Tags: Frankreich, Postmodernismus, Strategie
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