Irak in Flammen
Bill Van Auken. Vergangenen Freitag eröffneten irakische Sicherheitskräfte am vierten Tag in Folge das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, die sich über die von Premierminister Adel Abdul Mahdi verhängte ganztätige Ausgangssperre hinwegsetzten.
Die Zahl der Todesopfer wurde am Freitagabend mit 65 angegeben. Die tatsächliche Zahl ist zweifellos deutlich höher. Die Zahl der durch scharfe Munition, Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer Verwundeten wurde mit über 1.500 angegeben.
Schwer bewaffnete Soldaten, die irakische Elitetruppe zur Terrorismusbekämpfung und die Bereitschaftspolizei waren im Einsatz. Sie versperrten den Demonstranten den Weg auf den zentralen Tahrir-Platz in Bagdad und in die „Grüne Zone“, das stark befestigte Regierungsviertel. Dort befinden sich auch die Botschaften der USA und anderer westlicher Staaten sowie diverse militärische Sicherheitsfirmen.
Von den Dächern aus schossen Scharfschützen auf Demonstranten.
Die irakische Regierung hat das Internet im gesamten Land abgeschaltet, um zu verhindern, dass weitere Proteste organisiert werden. Es gibt auch Berichte über maskierte Todesschwadronen, die in die Häuser bekannter Aktivisten eindringen und sie ermorden.
Bisher hat sich diese Repression als kontraproduktiv erwiesen. Mit jedem staatlichen Mord wuchs die Wut der Bevölkerung auf die Regierung. Die Unruhen haben die verarmten Schiitenviertel von Sadr City erfasst, wo sich vor mehr als zehn Jahren Milizen amerikanischen Truppen entgegenstellten. Berichten zufolge haben die Massen dort Behörden sowie Büros regierungstreuer schiitischer Parteien in Brand gesetzt.
Die Proteste, auf denen Arbeitsplätze, bessere Lebensbedingungen und ein Ende der Korruption gefordert werden, sind die größten im Irak, seit Washington vor mehr als 16 Jahren einen Krieg begann, um die Regierung von Saddam Hussein zu stürzen.
Die meisten Opfer der durch die USA ausgebildeten Sicherheitskräfte sind arbeitslose Jugendliche und junge Arbeiter, deren gesamtes Leben geprägt wurde durch den verbrecherischen Angriffskrieg der USA, die anschließenden acht Jahre der Besetzung und die Bruderkriege zwischen verschiedenen religiösen Gruppen, die Washington im Zuge seiner Strategie des „teile und herrsche“ angestiftet hat.
Der US-Krieg führte zur systematischen Zerstörung der ganzen Gesellschaft. Die Zahl der Iraker, die durch den Krieg ums Leben kamen, wird auf weit über eine Million geschätzt. Das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem, das einst zu den fortschrittlichsten im Nahen Osten gehörte, wurde ebenso wie der Großteil der Infrastruktur des Landes zerstört.
Washington startete die Invasion 2003 auf der Grundlage von Lügen über „Massenvernichtungswaffen“. Die US-Regierung verfolgte den Plan, sich durch die militärische Eroberung des Irak die Kontrolle über die riesigen Rohstoffquellen des Nahen Ostens zu sichern und damit den Niedergang der globalen Hegemonie des US-Imperialismus zu kompensieren.
Doch ebenso wie die Regimewechsel-Kriege in Libyen und Syrien mündete auch der Irak-Krieg in ein Debakel. Drei Jahre nach dem weitgehenden Abzug der US-Truppen entsandte die Obama-Regierung weitere 5.000 Soldaten, um den sogenannten „Krieg gegen den IS“ zu führen, bei dem die überwiegend sunnitischen Städte der Provinz Anbar sowie Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, in Schutt und Asche gelegt wurden.
Obwohl die US-Regierung Billionen Dollar ausgegeben und das Leben von 4.500 Soldaten geopfert hat – hinzu kommen Zehntausenden von Verwundeten – ist es ihr nicht gelungen, ein auch nur annähernd stabiles US-Marionettenregime in Bagdad zu etablieren.
Der derzeitige Premierminister Abdul Mahdi ist typisch für die bankrotten bürgerlichen Politiker, die auf dieser Grundlage in Machtpositionen gelangten. Ursprünglich Baathist, wurde er zunächst ein führendes Mitglied der irakischen Kommunistischen Partei und bekannte sich anschließend im Exil zur islamistischen Ideologie des iranischen Ayatollah Khomeini. Schließlich trat er als „Finanzminister“ in die 2004 von den Amerikanern eingesetzte Marionettenregierung ein.
Der Versuch, den Irak gestützt auf eine Politik der Religionszugehörigkeit zu regieren, lief darauf hinaus, dass solche Leute das Land hemmungslos ausplünderten. Sie haben es versäumt, für Arbeitsplätze, eine grundlegende Versorgung mit Wasser und Strom und den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur des Landes zu sorgen.
In der gleichen Rede, in der er die Ausgangssperre rund um die Uhr ankündigte, betonte Premierminister Abdul Mahdi, dass die Forderungen der jungen Demonstranten nicht durch „Zauberei“ erfüllt werden könnten.
Die Demonstranten wissen jedoch, dass der Irak, der über die fünftgrößten Rohölvorkommen der Welt verfügt, jeden Monat mehr als 6 Milliarden Dollar aus dem Ölverkauf einnimmt, deren Löwenanteil in die Taschen ausländischer Kapitalisten und einer kleinen irakischen Finanzelite sowie korrupter Politiker und ihrer Handlanger fließt. Es hat nichts mit „Zauberei“ zu tun, wenn man versteht, dass dieser riesige Reichtum in den Händen der irakischen Arbeiterklasse genutzt werden könnte, um die dringenden sozialen Bedürfnisse Dutzender Millionen Menschen zu erfüllen.
Die Proteste haben das Regime auch deshalb bis ins Mark erschüttert, weil sie vorwiegend von der schiitischen Mehrheitsbevölkerung des Landes ausgehen, die als Basis der herrschenden Parteien gilt. Im Irak wie auch anderswo im Nahen Osten zeigt sich das Wiederaufleben des Klassenkampfes gegen die Spaltung und Unterdrückung, durch die sich der Imperialismus und die nationalen regierenden Cliquen die Herrschaft über die Region gesichert haben.
Dieser soziale Ausbruch ist Teil einer breiteren Bewegung. Er reiht sich ein in die Proteste gegen General al-Sisis polizeistaatliche Diktatur in Ägypten, die Massendemonstrationen gegen brutale Sparmaßnahmen im Libanon und den seit mehr als einen Monat andauernden Streik von 146.000 Lehrern gegen Regierung in Jordanien.
Diese Kämpfe zeigen einmal mehr den politischen Bankrott der nationalen Bourgeoisie, nicht nur im Irak, sondern in der gesamten arabischen Welt. Von den baathistischen Regimen Saddam Husseins und Baschar al-Assads bis hin zu US-Marionetten wie Abdul Mahdi und al-Sisi hat sich diese Klasse als organisch unfähig erwiesen, auch nur eine der demokratischen und sozialen Forderungen der arabischen Massen zu erfüllen oder eine echte Unabhängigkeit vom Imperialismus herzustellen.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefahr eines weiteren imperialistischen Kriegs der USA, diesmal gegen den Iran, ist es bemerkenswert, dass sowohl Washington als auch Teheran mit unverhohlener Ablehnung auf die Unruhen im Irak reagieren.
Iranische Regierungsvertreter unterstellten, dass die Massenproteste das Werk von „Eindringlingen“ seien, die von den USA, Israel und Saudi-Arabien unterstützt würden. Offensichtlich befürchten die bürgerlich-klerikalen Herrscher der Islamischen Republik, dass der Aufstand im Irak der Funke sein könnte, der die Massenproteste der iranischen Arbeiterklasse wieder anfacht, die 2017-2018 gegen Arbeitslosigkeit, den sinkenden Lebensstandard und massiven Sozialabbau ausbrachen.
Das US-Außenministerium seinerseits hat eine Pro-Forma-Erklärung abgegeben, in der es im Abstrakten das Recht auf Protest bekräftigt, gleichzeitig jedoch die „Gewalt“ – der Demonstranten, nicht der Sicherheitskräfte – bedauert und zur „Besonnenheit“ aufruft. In den etablierten Medien der USA werden die Massenproteste und die blutige Repression des irakischen Regimes weitgehend ignoriert.
Man kann sich leicht vorstellen, wie die „Menschenrechtsimperialisten“ im Gegensatz dazu auf die Erschießung zahlreicher Demonstranten reagiert hätten, wenn es sich um den Iran, Venezuela, Russland oder irgendein anderes Land gehandelt hätte, in dem Washington einen Regimewechsel anstrebt. Im Falle des Irak hat der US-Imperialismus jedoch panische Angst, dass seine Kriegsziele durch die revolutionäre Intervention der Massen durchkreuzt werden könnten.
Die Ereignisse im Irak haben eine immense internationale Bedeutung, wenn man bedenkt, dass es weder innerhalb noch außerhalb der USA eine Massenbewegung gegen den Krieg gibt. Das Fehlen einer solchen Bewegung ist auf die Rolle der Pseudolinken zurückzuführen. Diese politischen Tendenzen, die aus den bürgerlichen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre hervorgingen, sind weit nach rechts gerückt. Sie widerspiegeln die gesellschaftlichen Interessen privilegierter Teile der oberen Mittelschicht, die sich zum Teil immer noch auf den Sozialismus berufen, während sie in Wirklichkeit auf zynische Weise im Namen der „Menschenrechte“ imperialistische Interventionen und Schlächtereien rechtfertigen.
Der Massenaufstand im Irak – einem Land, das als potenzielles Schlachtfeld für einen US-Krieg gegen den Iran gilt – weist auf den einzigen Weg hin, einen neuen, noch schlimmeren Krieg im Nahen Osten und damit die Gefahr eines Weltbrands zu verhindern.
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus im Irak, im gesamten Nahen Osten, in den Vereinigten Staaten und international bildet die Grundlage für das Entstehen einer neuen Massen-Antikriegsbewegung. Diese Bewegung muss mit dem Programm des sozialistischen Internationalismus ausgestattet werden, um Arbeiter auf der ganzen Welt für das Ziel zu vereinen, die Quelle von Krieg, sozialer Ungleichheit und Diktatur zu beseitigen: das kapitalistische System.
Quelle: wsws.org… vom 7. Oktober 2019
Tags: Afghanistan, Arabische Revolutionen, Europa, Imperialismus, Irak, Iran, Syrien, USA
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