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Ecuador: Einleitung eines neuen Zyklus des Massenwiderstandes

Eingereicht on 18. Oktober 2019 – 17:35

Mario Unda. Vor einigen Stunden [der Artikel wurde am 14. Oktober geschrieben] endete der Dialog zwischen der Regierung [Ecuadors] und der indigenen Bewegung mit der Ankündigung, dass das am 2. Oktober 2019 erlassene Dekret 883[1] nicht umgesetzt und durch ein neues Dekret ersetzt werde, das von Vertretern der indigenen Bewegung und der Regierung ausgearbeitet werde. Infolgedessen wurde der Streik abgeblasen. Somit kann eine erste, vorläufige und klare Bilanz gezogen werden.

Der Volkswiderstand kehrt zurück

Der Volkswiderstand, der jahrelang unter der Regierung von Rafael Correa verfolgt und unterdrückt wurde, ist zurück. In den ersten elf Tagen, die eher von einer Lähmung gezeichnet waren, mobilisierten sich verschiedene soziale Sektoren: zunächst Bus- und Lkw-Fahrer*innen, Ureinwohner*innen und Arbeiter*innen. Die Transportarbeiter*innen kündigten einen zweitägigen Streik an, der nach den Verhandlungen über eine Erhöhung der Fahrpreise endete. Aber das hielt die Welle sozialer Empörung nicht auf: Die indigene Bewegung und die Gewerkschaftsbewegung, die mittlerweile Aktionen gegen die Regierungspolitik vorbereiteten, traten in den Vordergrund und fachten die Solidarität von Studierenden mehrerer Universitäten an, die Gesundheitsbrigaden und Schutzunterkünfte organisierten, insbesondere für indigene Frauen und Kinder; dann wurden feministische Gruppen aktiviert und schließlich in den letzten zwei Tagen breite Schichten der städtischen Bevölkerung. Wie zuvor schon beteiligten sich die Menschen an der Vereinheitlichung des Kampfes, einige auf organisierte Weise, andere spontan. Wie jede Konvergenz von Massenkämpfen muss auch hier deren Zukunft noch definiert werden, und sie wird in naher Zukunft ein zentrales Element der Realität sein.

Konvergenzen und Fragmentierung der Volksbewegung

Die aktuelle Konvergenz weist gewisse Unterschiede zu den früheren auf, die um eine soziale Bewegung herum gruppiert waren: Studenten und Studentinnen in den 1970er Jahren, die Gewerkschaftsbewegung in den ersten Jahren des folgenden Jahrzehnts, die indigene Bewegung zwischen 1992 und 2002 oder die Explosion der städtischen Mittelschicht im Jahr 2005. Vorläufig jedoch ist die Achse der Konvergenz zwischen Lohnabhängigen und Indigen@s schwieriger und unvollständiger herausgebildet.

Eine der Auswirkungen des Angriffs des Correísmo auf die sozialen Bewegungen war die Störung der Nähe zwischen ihnen, aufgrund des Aufkommens von Verdächtigungen und des Überhandnehmens von Partikularismen. In diesen elf Tagen des Kampfes wurde eine Tendenz zur Annäherung sowie die Grenzen, denen diese ausgesetzt ist, sichtbar. Deshalb ist es der Regierung trotz ihrer Niederlage gelungen, zu manövrieren, wenn auch nur, um Zeit zu gewinnen. Ihre Taktik war stets, die Mobilisierung zu spalten, indem sie sich einzelner Forderungen annahm: Der Anstieg der Fahrpreise demobilisierte die Transportarbeiter*innen. Dann versuchte sie, die Indigen@s von den Arbeiter*innen zu trennen: Einmal hörten die Regierung und die Medien auf, sich auf die Forderungen der Gewerkschaftsbewegung zu beziehen und konzentrierten sich auf das Angebot einer Kompensation für den ländlichen Raum; zunächst kamen sie damit nicht durch, aber schließlich gelang es ihnen, die beiden zentralen Akteure in den Dialogen von der Bewegung zu trennen: Am Sonntag traf sich die Regierung mit der indigenen Bevölkerung, um über das Dekret 883 zu verhandeln, und verschob einen möglichen Dialog mit der Gewerkschaftsbewegung auf Dienstag, der sicherlich bereits ohne die Hitze der Massenmobilisierung stattfinden wird. Gleichzeitig versuchte sie, die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom Rest der Gewerkschaftsbewegung zu trennen, und erklärte sich bereit, die Maßnahmen zu überprüfen, die sie besonders betreffen: Lohnkürzungen und Urlaub.

Die Regierung hat damit ihre Bereitschaft gezeigt, Einzelteile des Pakets zu verhandeln, um die Möglichkeit der Umsetzung der zentralen Kerne des neoliberalen Modells zu erhalten: Privatisierung und Übernutzung von Arbeit und Natur. Die Zeit wird zeigen, ob sie mit Ihren Bemühungen erfolgreich sein wird oder nicht. Und die Zeit wird auch zeigen, ob es den Volksbewegungen gelingt, nach diesem intensiven Tag die notwendigen Ansätze und Verbindungen wieder aufzunehmen, damit sie den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wird. Die Schaffung eines klaren politischen Horizonts und eines Aktionsprogramms sind unerlässlich, um auf diesem Weg voranzukommen.

Eine erste Konfrontation mit den repressiven und antidemokratischen Tendenzen der Bourgeoisie

Die Regierung Moreno ist – nach anfänglichem Zögern – zum Ausdruck des neoliberalen Projektes der Monopolgruppen und des IWF geworden. Dieser Wandel erfolgte in mehreren Schritten, in denen die Regierung zunehmend den Unternehmerinteressen nachkam, ohne jedoch die geforderten Maßnahmen vollständig umzusetzen; die Unternehmer und der IWF liessen jedoch mit ihrem Druck nicht nach. Die Unterzeichnung der Absichtserklärung der Regierung mit dem IWF besiegelte deren Verpflichtung auf das neoliberale Programm, verzögerte aber die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen. Die gleiche Absichtserklärung an den IWF erläuterte den Grund dafür: Anlage 3 verweist auf die Risiken, durch die anvisierten Massnahmen soziale Proteste zu entfesseln.

Dies führte zur Herausbildung von zwei Tendenzen: die erste besteht in der schnellen Festigung des an der Macht befindlichen Blocks mit der Durchsetzung eines einzigen Diskurses, der von der Regierung und dem IWF, den Wirtschaftsverbänden und ihren organischen Intellektuellen, der US-Regierung und der Mainstream-Presse genutzt wurde und der auf eine schnelle Umsetzung von «schmerzhaften, aber notwendigen» Maßnahmen hinwies; dies führte im letzten Halbjahr zu einer intensiven Kampagne in den Medien.

Andererseits scheint es, dass der Machtblock bereits früh zu dem Schluss gekommen ist, dass sein Programm nur gewaltsam durchgesetzt werden konnte. Im Laufe der Zeit gewannen Boshaftigkeit, Starrsinn, Drohungen und Einschüchterungen in ihren Äußerungen Oberhand. Der Höhepunkt kam in diesen Tagen des Konflikts, und der offen repressive und antidemokratische Charakter der Bourgeoisie und des Neoliberalismus war klar. Es ging nicht nur darum, den Protestierenden vorzuwerfen, Vandalen, Kriminelle und Terroristen zu sein, sondern ihnen mit der Anwendung des von Rafael Correa erfundenen Strafgesetzbuches zu drohen, das für die Teilnahme an Protesten eine Freiheitsstrafe von drei Jahren vorsieht. Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín setzte eine offene Drohung mit faschistischen Konnotationen in die Welt: Er sprach von der Verwendung tödlicher Waffen gegen das mobilisierte Volk und erinnerte daran, dass das Militär auf den Krieg vorbereitet sei. Damit hat der Nationale Verband der Industriekammern Ecuadors ein Manifest in Umlauf gebracht, in dem er von der Regierung «Sofortmaßnahmen der Streitkräfte und der Nationalen Polizei zur Wiederherstellung von Ordnung und sozialem Frieden in strikter Anwendung des Ausnahmezustands» sowie «die Verfolgung der Täter, Komplizen und Anführer sowie der materiellen und geistigen Täter der begangenen Verbrechen unter dem Schutz des Umfassenden Organischen Strafgesetzbuches» fordert.

Die Regierungsaktionen gingen in die gleiche Richtung: Wenige Stunden nach Beginn der Proteste wurde für 60 Tage der Ausnahmezustand verhängt (durch ein selbstgefälliges Verfassungsgericht auf 30 reduziert), gefolgt von Militarisierung und Ausgangssperre. Es war dies nicht nur Angeberei, wie die vom Bürgerbeauftragten vorgelegten Zahlen zeigen: Zwischen dem 3. und 13. Oktober verursachte die staatliche Repression mindestens sieben Tote, 1.340 Verletzte und mehr als 1.150 Inhaftierte. Dies ist die größte Gewalt gegen den Sozialprotest der letzten 30 Jahre.

Doch weder Unterdrückung noch Bedrohung konnten die Mobilisierung stoppen. Die letzte Ausgangssperre, die die Streitkräfte am Samstag zwischen 15.00 Uhr und am Sonntag bis 15.00 Uhr festgelegt hatten, konnte nicht einmal durchgesetzt werden: Der cacerolazo [wie der Protest genannt wird], der sich in den Nachbarschaften von Quito zu wahren Volksfesten entwickelte, verhinderte tatsächlich seine Anwendung. Wir sollten jedoch feststellen, dass die Umsetzung des neoliberalen Modells auf die Anwendung der brutalsten Gewalt zurückgreifen wird. Dabei haben die an der Macht befindlichen Gruppen ihre gewalttätige und kriminelle Natur offenbart. Darüber hinaus hat diese gewalttätige Mentalität begonnen, sich in bestimmten Sektoren der Mittelschichten durchzusetzen.

Populismus und die Krise der Demokratie

Zwei weitere Themen sollten diese ersten Überlegungen abschließen. Erstens: Es scheint, dass es nicht leicht sein wird, die Herrschaft des erneuerten Neoliberalismus zu stabilisieren. Damit steht die «strukturelle Krise» des Staates, von der Agustín Cueva[2]zu seiner Zeit sprach, uns wieder einmal als unvermeidlicher Horizont gegenüber. Wenn die Krise von 25 Jahren der vorangegangenen neoliberalen Phase uns Populismus à la Correa gebracht hat, wirft uns die Krise des Populismus zurück auf den erneuerten Neoliberalismus; aber diese neue neoliberale Welle ist bereits in der Krise geboren: Die immer heftigere Gewalt der herrschenden Klassen und ihrer Regierungen ist das erste Zeichen; der soziale Widerstand ist die Antwort, die sich bereits abzeichnet. Das Ergebnis kann nicht anders sein als zerbrechliche und begrenzte Demokratien.

Der zweite: Wie uns dieser Tag des intensiven Kampfes gezeigt hat, wird auch der Aufbau des Diskurses für einen Massenwiderstand ein Konfliktfeld sein. Die Rechte wird dort konkurrieren und ihre wiederentdeckte Gewalt mit Massenmobilisierungsversuchen kombinieren. Es wird auch eine Konkurrenz zum Correísta-Populismus geben, der in diesen Tagen gezeigt hat, dass er immer noch in der Lage ist, populäre städtische Sektoren zu beeinflussen, wie sich kürzlich bei den Kommunalwahlen im März dieses Jahres gezeigt hat. Und die Volksbewegung wird auch konkurrieren, d.h. die autonomen sozialen Bewegungen, wahrscheinlich um die Arbeiter*innen und die Indigen@s, die bei den Versuchen, das neoliberale Modell umzusetzen, in den Mittelpunkt des Konflikts gestellt werden. Welche Tendenz vorherrscht, wird den Ton und die Farbe der kommenden Zeiten bestimmen.

Die Rechte und der Neoliberalismus haben die erste Schlacht verloren, aber können wir davon ausgehen, dass sie dort aufhören werden? Das ist unwahrscheinlich. Kurz nach dem Dialog beginnt der Streit über den Inhalt des neuen Dekrets, das 883 ersetzen wird: Das wird uns etwas sagen. Wird der am Dienstag angebotene Regierungsdialog mit den Arbeiter*innen erfüllt? Welches Ergebnis wird es haben? Was werden die nächsten Bewegungen für den herrschenden neoliberalen Block sein? Werden sie Moreno unterstützen oder lieber loswerden?

Wird die Volksbewegung Wege für Ansätze und Artikulationen finden und bauen oder wird sie sich innerhalb der engen Grenzen der Unternehmensinteressen verirren? Das einzig Gewisse scheint zu sein, dass ein neuer Zyklus des Volkswiderstandes gegen den Neoliberalismus begonnen hat. Er hat mit großer Kraft begonnen, aber noch viel noch härtere Arbeit steht uns bevor.

Quelle: internationalviewpoint.org… vom 18. Oktober 2019; Übersetzung Redaktion maulwuerfe.ch


Fussnoten

[1]Mit dem Dekret 883 hätten die Subventionen für Treibstoff abgeschafft werden sollen. Die dadurch ausgelöste Erhöhung der Treibstoffpreise um 123% bedeutet gerade in Ecuador, einem Land mit einem kaum existierenden öffentlichen Verkehr, schwachen Löhnen und einer relativ tiefen Urbanisierung, einen scharfen Angriff auf die materiellen Lebensbedingungen. Gleichzeitig sind Massnahmen angekündigt zu Abbaumassnahmen im öffentlichen Sektor mit Privatisierungen und Lohnsenkung.

[2] Agustín Cueva (1937-1992) war ein ecuadorianischer Soziologe und Historiker und eine führende Figur in den Debatten über die «Theorie der Abhängigkeit». In seinem Buch «El desarrollo del capitalismo en América Latina» («Die Entwicklung des Kapitalismus in Lateinamerika») bot er aus marxistischer Sicht eine Analyse des lateinamerikanischen Übergangs zum Kapitalismus im 19. Jahrhundert über den Weg der «Junker» [seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Junker adlige und nichtadelige preußische Großgrundbesitzer. Sie waren in Deutschland eine zentrale Stütze der autoritären und militaristischen Kräfte, die letztendlich in den Ersten Weltkrieg und in den Nationalsozialismus führten. Anm. Red.] an und untersuchte die soziale Formation «als Koexistenz verschiedener Produktionsweisen».


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