Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie, International

Thesen zum „Leninismus“

Eingereicht on 2. Juni 2020 – 11:24

„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue[] Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Karl Marx)

„Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ (Karl Marx)

Zur geschichtlichen Vergangenheit, die nicht sterben kann

Die Literatur über Lenin, ‚Leninismus‘ und ‚Realsozialismus‘ ist so umfangreich, dass sie vermutlich niemand überblicken kann. Mich hat die Auseinandersetzung über den ‚polit-ökonomischen Charakter‘ nicht-kapitalistischer Gesellschaften (ein Ausdruck, den ich von Rudolf Bahro übernommen habe) seit ich politisch aktiv bin, immer sehr stark beschäftigt. Auch in der Zeit als ich mich durchaus im ‚orthodoxen‘ Sinne als ‚Trotzkist‘ verstanden hatte, hatte ich starke Zweifel am Konzept der ‚deformierten oder degenerierten Arbeiterstaaten‘. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, wie eine ‚Arbeiterklasse‘ ökonomisch ‚herrschen‘ kann, aber politisch expropriiert sein soll. Gewiss, es gibt die Analogie zum Bonapartismus und für den Kapitalismus mag ein bonapartistischer Staat auch Sinn machen; aber ein ‚proletarischer Bonapartismus‘ scheint mir mit der marxistischen Theorie unvereinbar zu sein (da sie ja die ‚Selbstbefreiung der Arbeiterklasse‘ anstrebt. Aber eine politisch expropriierte Klasse ist zu gar keiner Handlung mehr fähig. Und ein Staat kann sich nicht [historisch] an deren Stelle setzen. Das würde die gesamte Geschichtsauffassung des Marxismus über den Haufen werfen).

So kam ich denn über viele Umwege darauf, den ‚Realsozialismus‘ als historische Neuentstehung einer ‚asiatischen Produktionsweise‘ (APW) anzusehen (natürlich als modifizierte Form), die aber den Klassengegensatz nicht aufhebt, auch wenn sich die herrschende Klasse ‚Kommunistische Partei‘ nennt. (Ich grenze mich aber auch von ‚Staatskapitalismus‘-Theorien ab, da die Eigentumsverhältnisse meines Erachtens nicht kapitalistische waren).

Aber nicht um den ‚Realsozialismus‘ soll es in diesen Thesen gehen, sondern im Wesentlichen um die ‚leninstische‘ Konzeption der Partei und die damit verbundenen Probleme und Schwierigkeiten.

Aber warum ein Text über ein so historisches Thema wie den ‚Leninismus‘ zum jetzigen Zeitpunkt? Gewiss, das Thema ist nicht gerade aktuell zu nennen in einem journalistischen Sinne. Aber die Auseinandersetzungen über die Partei- bzw. Organisationsfrage und die historischen Folgen der russischen Revolution für die linke und Arbeiterbewegung hängen seit fast 100 Jahren wie ein Damoklesschwert und ein dunkler Schatten über ihre Kämpfe und Debatten. Was in ihren Auswirkungen nur als ‚fatal‘ bezeichnet werden kann. Ansonsten kann ich als ‚Entschuldigung‘ 😉 für diesen Text nur noch meine persönliche ‚Betroffenheit‘ anführen. Ob diese Betroffenheit auch zu einer übertriebenen Subjektivität bei der Behandlung und Herangehensweise an das Thema geführt haben mag, – diese Frage zu beantworten, muss ich dem geneigten und kritischen Leser überlassen.

Ich habe selbstverständlich nicht den Anspruch, diesen Gordischen Knoten durchschlagen zu können (jeder, der mich ein bisschen kennt, weiss, dass ich normalerweise historische Fragestellungen meide wie der Teufel das Weihwasser). Aber es wäre zu wünschen, dass er wenigstens einen kleinen Beitrag zu einer notwendigen Aufarbeitung leisten sollte.

Ich verdanke die Anregung für diesen Artikel einem Text der ‚gruppe eiszeit‘, die im komoprolet erschienen ist (September 2009) (auf den ich auch eher zufällig gestossen bin). Der kosmoprolet steht in der Tradition des ‚Linkskommunismus‘, der sich im Wesentlichen in der Auseinandersetzung mit dem ‚Leninismus‘ (oder müsste es genauer heissen: einer Lesart von ihm?) herausgebildet hatte. Trotz meiner Sozialisation am Rande ‚trotzkistischer‘ Kleinstgruppen (die natürlich pro-leninistisch waren und sind) hatte ich aber immer auch eine starke Sympathie für die linken ‚anti-Leninisten‘: angefangen von Rosa Luxemburg bis zu den ‚Rätekommunisten‘ wie Pannekoek und Gorter. (Die italienischen ‚Linkskommunisten‘ in der Tradition von Amadeo Bordiga sind mir hingegen so gut wie nicht bekannt).

So hoffe ich, dass ich dem selbstgestellten Thema zumindest halbwegs gerecht werden kann, – wenn auch keineswegs erschöpfend. Aber diesem Anspruch kann vermutlich niemand gerecht werden, – es sei denn, man hätte den Luxus, sich 30 Jahre in den Lesesaal des britischen Museums zu setzen (und selbst dann ist das keineswegs sicher 😉 ).

Das prekäre Verhältnis von Klasse und organisatorisch-politischem Ausdruck 

Marx hat mitnichten die Klassen entdeckt, wie viele denken. Er hat die ökonomische Funktionsweise der spezifisch kapitalistischen Ausbeutung entdeckt (na ja, analysiert muss es wohl besser heissen. Amerika gab es ja auch schon vor Columbus 😉 ).

Auch die Arbeiterbewegung gab es schon vor Marx. Man könnte sogar sagen, wenn die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nicht schon entfaltet vorgelegen hätten, dann hätte Marx sein Hauptwerk ‚das Kapital‘ gar nicht schreiben können. Das ändert aber nichts daran, dass sein Autor ein ‚Genie‚ gewesen sein muss.[1]

Aber auch wenn Marx die ökonomischen ‚Funktionsgesetze‘ des Kapitalismus aufgedeckt hat, eine Theorie der Vermittlung von Politik und (Klassen)Gesellschaft hat er nicht geliefert (das wäre auch vlt. ein bissl viel verlangt 😉 ).

An dieser Stelle kommt nun Lenin ins Spiel. Obgleich Lenin selbst nie den Anspruch hatte, über Marx hinauszugehen, hat er mit seinem ‚Parteikonzept‘ doch den ‚Marxismus‘ transzendiert[2].

Aber bevor auf das Parteikonzept eingegangen werden kann, soll noch der Begriff ‚Arbeiterklasse‘ problematisiert werden. Hier müssen jetzt leider auch historische und philosophische Fragen erörtert werden, und da ich weder ‚Philosoph‘ und schon gar nicht ‚Historiker‘ bin, kann ich eventuell auftretende Fehler nicht ausschliessen. Ich bitte den geneigten Leser dies zu berücksichtigen.

Sofern man bei Marx von einer ‚Geschichtsphilosophie‘ sprechen kann, ist diese im Wesentlichen durch Hegel geprägt. Nur, dass Marx nicht an den ‚Weltgeist‘ ‚glaubte‘, sondern an die materiellen Triebkräfte der Geschichte[3]. Zumindest in seinen Frühschriften sieht Marx im ‚Proletariat‘ die Negation aller bisherigen Antinomien der Gesellschaften (und damit die Möglichkeit ihrer potentiellen ‚Synthese‘ im ‚Kommunismus‘). Dabei schwebte bei Marx nicht die real existierende Klasse, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft empirisch auftritt und erscheint vor, sondern in ihrer gesellschaftlichen Lage befände sich objektiv das Interesse einer ‚Aufhebung‘ aller gesellschaftlichen Widersprüche.

Dabei ist mit ‚objektiv‘ gemeint, dass dieses ‚Interesse‘ unabhängig vom (realen) Bewusstsein existiert. Hier wird es jetzt hakelig. Interesse setzt ja implizit ein Bewusstsein voraus (inter esse [lat.] = dazwischen sein). Ein ‚Interesse‘, was aber im Bewusstsein nicht vorhanden ist, kann auch nicht vertreten werden. Dabei halte ich es nicht für anrüchig, aus der objektiven Lage ein (subjektives) Interesse herzuleiten (ansonsten wäre der gesamte ‚Marxismus‘ hinfällig). Aber es stellt sich zumindest die fundamentale Frage: wie lässt sich der Zwiespalt von Lage (Sein) und Bewusstsein überbrücken? (Das Bürgertum hat dieses Problem allerdings weniger).

Während Marx noch dazu neigte, aus der Entwicklung des Kapitalismus selbst auch eine fortschreitende organisierende Kraft der Arbeiterbewegung abzuleiten (wenn man es so nennen will: eine frühe Variante des ‚Ökonomismus‘), war Lenin da schon realistischer. Er sah die unterschiedlichen Fraktionierungen in der Arbeiterbewegung und wusste, dass nur die programmatische Übereinstimmung (oder doch zumindest: Annäherung) zu einer (politischen) Handlungsfähigkeit führen kann. Es ist zwar zu vermuten, dass Lenin selbst nicht wusste (oder besser: ahnen konnte), welche Folgen die Spaltung von Bolschewiki und Menschewiki (in der russischen Sozialdemokratie) hervorbringen würde, aber nichtsdestotrotz hat er damit die Arbeiterbewegung auf eine neue (theoretische) Grundlage gestellt.

Lenin als früher ‚Postmoderner‘

Lenin wollte den Marxismus für die ‚praktische Politik‘ nutzbar machen. Im Grunde liegt aber hier schon (a priori) ein konzeptionelles Ur-Missverständnis vor. Lenin war in einem gewissen Sinne ein früher Post-Moderner, da er eine Trennung von Ökonomie und Bewusstsein[2] vornahm (wie stark diese Trennung von Lenin wirklich gemeint war, kann ich nicht beantworten[4]. Ich bin kein Lenin-Exeget und Experte dafür. Aber zumindest in ‚Was tun‘ ist diese Trennung glasklar nachvollziehbar mit dem berühmt-berüchtigten Diktum, dass das Klassenbewusstsein nur ‚von aussen‘ an die Klasse herangetragen werden kann und muss. Dabei stammt dieser Gedanke noch nicht einmal ursprünglich von Lenin, sondern von einem gewissen Karl Kautsky, dem eigentlichen ‚Lehrer‘ von Lenin. Die Begründung für dieses ‚von aussen‘, dass der Marxismus eine ‚Wissenschaft‘ sei und daher nur von einer Minderheit der Arbeiter verstanden werden kann, ist dabei gar nicht mal so einfach von der Hand zu weisen. Aber man wird das unangenehme Bauchgefühl einfach nicht los, dass darin auch eine gehörige Portion ‚Elitismus‘ steckt. Und der Schritt von der ‚Elite‘ zur ‚(Partei)Bürokratie‘ ist dann gar nicht mal so weit entfernt).

Durch diese ‚Trennung‘ konnte Lenin zwar den Fokus auf die programmatischen Unterschiede in der Arbeiterbewegung legen, ‚übersah‘ aber das Problem, dass eine ‚reine Programmatik‘ nicht die Frage löst, wie eine Vermittlung zu den ‚breiten Massen‘ hergestellt werden kann. Die ‚metaphysische‘ Ineinssetzung von Partei und Klasse[6] ist nicht nur in logischer Hinsicht unzureichend , sie hat sich auch historisch als äusserst verhängnisvoll erwiesen (wobei ich nicht darüber spekulieren möchte, wieviel ‚Leninismus‘ im ‚Stalinismus‘ steckt; wenn ich auch nicht verhehle, dass dieser Gedankengang einen gewissen Reiz ausüben kann).

Der Gedanke, dass eine Klassenbestimmung noch lange nicht eine bestimmte Politik hervorbringt, wird sicher das bleibende Verdienst vom ‚Leninismus‘ sein. Denn dadurch öffnet sich das Feld der theoretischen und programmatischen Kritik innerhalb der Arbeiterbewegung (und der ‚linken‘).

(Wenn allerdings die ‚linken‘ so abgekoppelt von einer realen Klassenbewgung sind, wie in der heutigen Zeit, dann stellen sich die innerlinken Differenzen manchmal wie Stürme im Wasserglas dar. Aber — WAS TUN? 😉 )

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (Marx/Engels)

Das ‚jakobinische‘ Erbe im Bolschewismus

Aber was das ‚Vermittlungsproblem‘ (zwischen Theorie und sozialer Bewegung) betrifft, da fällt Lenin (weit) hinter Marx zurück und landet bei der (bürgerlichen) Aufklärung (das Ideal des leninistischen ‚Aufklärers‘ ist der ‚Volkstribun‘). Man muss allerdings Lenin zugutehalten, dass er seine politische Theorie vor dem Hintergrund der konkreten russischen Verhältnisse entwickelt hat.[7] Der verhängnisvolle ‚Fehler‘ (der natürlich mit den Machtverschiebungen innerhalb der III. Internationale zusammenhängt) war der, dass man sie nicht für andere Länder hätte verallgemeinern dürfen.[8]

Solange das ‚Proletariat‘ aufgeklärt werden muss, solange kann es nicht selbstbestimmt handeln (jedenfalls nicht als ‚Ganzes‘). Und solange es Politik (als Stellvertretung) gibt, solange gibt es auch noch gesellschaftliche Gegensätze, deren Ursache die Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und die Trennung von Hand- und Kopfarbeit ist. Und die (Avantgarde)Partei spielt dabei die Rolle des materiellen Trägers einer künftigen ‚Philosophenrepublik‘, die an die Stelle des kritischen Prozesses der ‚bestimmten Negation‚ (gesellschaftlicher Verhältnisse) auf eine ‚Volkspädagogik‘ setzt (daher wird auch gern der Begriff ‚Erziehungsdiktatur‘ verwendet, der aber in Bezug auf Lenin sicher eine polemische Übertreibung ist. Stalin wäre da allerdings ein anderes Kaliber[6]).

Dabei sollte eine kritische Marx-Lektüre doch zumindest eine Erkenntnis zeitigen: der ‚Kommunismus‘ kann nicht die Verlängerung der (bürgerlichen) Aufklärung sein, sondern muss ihre dialektische Aufhebung sein.

Der Sozialismus (wenn er denn mehr sein will als eine [notwendigerweise: fragile] ‚Übergangsgesellschaft‘) kann auch kein verallgemeinerter ‚Staatskonzern‘ sein (es sei daran erinnert, dass Lenin ein Verteidiger des Taylor-Systems war. Keine noch so grosse ökonomische Not könnte einen solchen Standpunkt als ‚proletarisch‘ rechtfertigen. Aber das war auch Lenin sicher bewusst; man muss es vermutlich als schieren Akt der Verzweiflung ansehen. Aber ab welchen Zeitpunkt würde sich die Frage nach einer Exit-Strategie stellen?), sondern muss die (Selbst)entfaltung der ‚proletarischen‘ Kreativität und Selbstbstimmung befördern. Und er muss auch völlig neue (humanere) Produktionstechnologien und (kooperative) Produktionsverfahren hervorbringen. Er kann nicht einfach die kapitalistische Technologie ‚übernehmen‘ und fortführen (schon aus ökologischen Erwägungen, aber nicht nur). In der Technologie ist ihr Klassencharakter quasi eingeschrieben. Auch diesen Aspekt scheint Lenin entweder gar nicht gesehen oder zumindest unterschätzt zu haben. Auch der Hinweis auf den unterentwickelten Charakter Russlands scheint mir dafür keine Rechtfertigung zu sein; zumal, wenn man auch noch den Anspruch erhebt, eine internationale Strategie zu verfolgen. Wie er ja von den Epigonen Lenins (später) erhoben wurde (inwieweit Trotzki dazu zählt, wäre eine gänzlich eigene Debatte, die ich hier nicht behandle). Dass die Verhältnisse in Deutschland, England und Frankreich völlig anders gelagert waren als in Russland muss doch für jeden einigermassen klar denkenden politischen Beobachter völlig evident gewesen sein. Dementsprechend müssen politische Taktiken auch an die konkreten Bedingungen (vor Ort) angepasst werden, und können nicht einfach aus einem völlig anderen Kontext ‚importiert‘ werden (bestenfalls: modifiziert).

Die Aufhebung des Gegensatzes von ‚Avantgarde‘ und ‚Basis‘ kann allenfalls realistischerweise nur der allerletzte Entwicklungsschritt sein, – falls er denn überhaupt möglich ist.[9]

Die leninsche Köchin, die mal so nebenher die Regierungsgeschäfte übernehmen kann, dürfte jedenfalls eine Utopie bleiben, – wenn auch – das sei zugestanden – eine durchaus sympathische.

Hingegen hatten andere Köche sehr scharfe (Staats)Speisen angerichtet, die uns Nachgeborenen noch immer schwer im Magen liegen. Und ob die Nachgeborenen mit den Umständen der damaligen Zeiten Nachsicht haben werden, ist auch noch lange nicht ausgemacht. Die Zukunft bleibt … ungewiss, aber die Barbarei scheint näher zu liegen als die Möglichkeiten des ‚Fortschritts‘. Und es ist die Verantwortung der ‚linken‘, in diesen sehr schwierigen Verhältnissen trotzdem zu versuchen, das Beste daraus zu machen.

„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Beürfnissen.“[10]

Endnoten

[1] In dem Film der junge Marx gibt es eine Szene, wo sich Engels und Marx bei Ruge in Paris treffen und Engels bezeichnet Marx als den grössten materialistischen Denker unserer Zeit. Und Marx lobt Engels Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England als ‚kolossal‘. Ungeachtet dessen, ob das historisch auch so war, kann man anhand dieser Szene emotional nachvollziehen, dass die Beiden sich intellektuell erkannt haben müssen.

[2] „Der entscheidende, das marxistische Denken umwälzende Gedanke in Was tun? ist“ demgegenüber, „daß sich eine Politik nie einfach aus der Klassenbestimmung ergibt, sondern daß – umgekehrt – ein und dieselbe Klassenbestimmung mit verschiedenen, ja einander entgegengesetzten Politiken artikuliert sein kann. Dieser Gedanke bricht radikal mit der Vorstellung, wie wir sie auch bei Marx und Engels in manchen Formulierungen gefunden haben, daß sich der Zusammenhalt und die Organisierung der Arbeiter mehr oder minder aus der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus selbst ergeben würde. So ist Schluß mit jeder Illusion über ein letztliches Zusammenfallen von Partei und Klasse durch die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Partei und ihre Politik werden erst zu einem Gegenstand von Theorie.“ (Wieland Elfferding, Klassenpartei und Hegemonie. Zur impliziten Parteientheorie des Marxismus, in: ders. / Michael Jäger / Thomas Scheffler, Marxismus und Theorie der Parteien) 

[3] Aus diesem Umstand wird auch der Gegensatz von Materialismus und Idealismus postuliert. Man muss allerdings Marx (und durchaus auch Engels) zugute halten, dass sie lange nicht so vulgär gedacht haben wie ihre späteren Epigonen.

„Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus, Spiritualismus und Materialismus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren Gegensatz und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verlieren; (man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Losung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte.“ (ökonomisch-philosophische manuskripte). Oder einfacher ausgedrückt: das Sein bestimmt das Bewusstsein – aber umgekehrt stimmt es auch. 😉

[4] „Weil Lenin die marxsche Theorie zwar nicht als vollkommen vom ökonomischen Prozess entkoppelt, aber doch als vornehmlich der geistigen Tradition entstammend versteht, ist sie nicht mehr theoretischer Ausdruck der materiellen Entwicklungen und der proletarischen Bewegung, sondern das Produkt eines genialen Denkers. Unter diesen Voraussetzungen kann Lenin dann auch von einer „sozialistischen Ideologie“ sprechen, welche der bürgerlichen Ideologie gegenüberstehe, statt von dem Gegensatz zwischen der Einsicht in die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Erscheinungsformen an der Oberfläche.“[5] (gruppe eiszeit, kosmoprolet)

[5] „Es ist gerade ein wesentliches Moment der bürgerlichen Gesellschaft, dass an ihrer Oberfläche die tatsächlichen Verhältnisse mystifiziert erscheinen. Marx hat dies im Kapital – insbesondere im Fetischkapitel – grundlegend dargestellt. Darin ist die Wirkungsmacht bürgerlicher Ideologie erklärt. Kommunistische Theorie und Praxis ist keine Gegenideologie und auch keine reine Kritik der Gedanken, sondern der Versuch, nach Ansätzen zu suchen, um die praktische Selbstaufklärung und schließlich Selbstaufhebung der Klasse zu befördern.“ (gruppe einzeit, kosmoprolet)

[6] Trotzki bezeichnete diese Ineinssetzung in einer frühen Polemik gegen Lenin („unsere politischen Aufgaben“) als ‚Substitutionismus‘. Er hatte damit die Möglichkeit einer ‚bürokratischen Usurpation‘ der Revolution geistig antizipiert zu einer Zeit, als die Revolution bestenfalls nächtliche Fieberwahnträume einiger weniger war.

„Aber diese komplizierte Aufgabe [der Revolution] kann nicht dadurch gelöst werden. indem man über das Proletariat ein paar gut ausgesuchte Leute stellt…oder eine Person, die mit der Macht zu liquidieren und zu degradieren ausgerüstet ist.“ (zit. nach Isaac Deutscher, Trotzki I, S. 98).

Isaac Deutscher schreibt dazu:

„Und doch zeigte das Zerrbild [Lenin als Usurpator] getreulich die Zukunft, wenn auch der russische Robespierre nicht so sehr Lenin glich als seinem Nachfolger, der damals ein noch unbekannter kaukasicher Sozialdemokrat war [Stalin]. […] Ferner nehmen wir den Koflikt der beiden Seelen im Bolschewismus wahr, den Konflikt zwischen Jakobinern und Marxisten, den weder Lenin noch der Bolschewismus noch Trotzki selbst in sich überwinden konnten.“ (Deutscher, ebenda, S. 100)

Aber was ist der Jakobinismus anderes als eine bürgerliche Auffassung von der Revolution, deren Kern die Überschätzung der Rolle des Staates ist (‚Etatismus‘)?

„Schon allein die Fragestellung „Diktatur der Partei oder Diktatur der Massen“ (…) zeugt von einer unglaublichen Begriffsverwirrung (…) jedermann weiß, dass die Massen sich in Klassen teilen; dass die Klassen gewöhnlich und in den meisten Fällen, wenigstens in den modernen zivilisierten Ländern, von den politischen Parteien geführt werden; dass die politischen Parteien in der Regel von mehr oder minder stabilen Gruppen der autoritativsten, einflussreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvollsten Posten gestellten Personen geleitet werden, die man Führer nennt. [so dass], das ganze Gerede ob „von oben“ oder „von unten“ ob Diktatur der Führer oder Diktatur der Massen usw. als lächerlicher, kindischer Unsinn erscheinen muss“ (Lenin; Der „Linke Radikalismus“ , die Kinderkrankheit im Kommunismus) – Zitiert nach gruppe eiszeit.

An diesem Zitat erkennt man, dass Lenin im Grunde die Frage nach einer möglichen Problemstellung (Macht- bzw. Herrschaftsverhältnis) in der Unterteilung von ‚Basis‘ und ‚Führung‘ völlig negiert; um nicht zu sagen: verleugnet. Basis und Führung sind ‚eins‘. Und damit Basta! Dass er damit eigentlich auch Taktiken gegen andere ‚Arbeiterparteien‘ für unmöglich erklärt, muss er beim Schreiben wohl ‚übersehen‘ oder verdrängt haben. – Man muss allerdings Lenin zugutehalten, dass er die Diskurs-Theorie eines Foucault noch nicht kennen konnte. Hingegen hat Rosa Luxemburg innerhalb der deutschen Sozialdemokratie schön sehr früh auf die Tendenzen zu bürokratischem Spiessbürgertum hingewiesen – auch schon vor 1914.

[7] „Das Bild des zu erziehenden Menschen ist, wie alle Schlüsse Lenins, auf die materiellen Bedingungen zurückzuführen, unter denen er seine theoretischen Bemühungen anstellte. In Bezug auf Russland muss wie bereits beschrieben davon ausgegangen werden, dass eine nachholende Akkumulation für die Zwecke der Bolschewiki schlicht notwendig war, dass also die Bolschewiki erledigten, was anderswo von der aufstrebenden Bourgeoisie bewerkstelligt wurde. Lenin war sich dieser Notwendigkeit bewusst, er spricht auch an mehreren Stellen davon. Allerdings bezieht sich seine ganze Theorie der Revolution auf diese Bedingungen.“ (gruppe eiszeit, kosmoprolet)

[8] „Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt! Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden.“ (Rosa Luxemburg)

[9] Hierachien scheinen mir gesellschaftlich unvermeidlich zu sein. Es wird immer Leute mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten geben. Dass sie zu einem Machtmissbrauch führen können, muss allerdings (institutionell? wenn doch der Staat im Kommunismus ‚abgestorben‘ sein soll?) eingedämmt werden.

[10] „In der Kritik des Gothaer Programms (1875) deutet Karl Marx an, wie das Verhältnis von Arbeit und Zuteilung in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft aussehen könnte: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ wären dann die Produktivkräfte so weit entwickelt und die Arbeit hätte sich so gewandelt, dass es nicht mehr notwendig sei, eine Relation zwischen Arbeitseinsatz und Zuteilungsquantität und -qualität geltend zu machen. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ würde die Auflösung eines Zusammenhangs zwischen Arbeit und Zuteilung bedeuten. Für die Entnahme aus dem Güterfonds ist dann nicht maßgebend, was und wie viel jemand arbeitet, sondern was sie / er für ein gutes Leben benötigt – und das kann je nach ihren / seinen Bedürfnissen sehr unterschiedlich ausfallen.“ (Bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft)

„Die Wirtschaft der Zukunft funktioniert ein bisschen anders. Sehen Sie, im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld. Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten, um uns selbst zu verbessern – und den Rest der Menschheit.“ (Jean-Luc Picard)

Quelle: systemcrash.com… vom 2. Juni 2020

Tags: , , , , ,