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Corona. Die autoritäre Versuchung

Eingereicht on 19. März 2020 – 10:03

Mark Heywood, Südafrika. Gut, dass Corona in China ausbrach, weil es dort effektiv eingedämmt werden konnte? Ein Einspruch.

Paradoxerweise haben die Technologiesprünge der letzten 20 Jahre in Verbindung mit der fatalen Deregulierung und der Unterversorgung der öffentlichen Gesundheitssysteme einen fruchtbaren Boden für das Entstehen und die rasche Verbreitung tödlicher neuer Krankheitserreger geschaffen: Die Massenverstädterung, der Luftverkehr, die globale Erderwärmung und die ökologische Schwächung stellen eine giftige Brühe dar.

Soweit wir wissen, ist COVID-19 noch nicht in Südafrika angekommen. Während wir also die Entwicklung der Reaktion in China und anderen hauptsächlich entwickelten Ländern beobachten, können wir uns darüber verständigen, wie wir auf diese und andere übertragbare Krankheiten so reagieren können, dass Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit, öffentliche Gesundheit und Menschenrechte gewährleisten bleiben bzw. werden.

Fangen wir mit den Menschenrechten an. Die Verletzung von Menschenrechten zieht sich wie ein roter Faden durch die Ätiologie (Ursachenforschung von Krankheiten), die Übertragungsdeterminanten, die Anfälligkeit, die Prävention und die Behandlungsstrategien bei COVID-19. Die Menschenrechte haben insofern mit der Entstehung von neuen Erregertypen zu tun, weil Staaten es versäumen, die Rechte auf das zu schützen, was zum Beispiel Artikel 24 unserer Verfassung als „eine Umwelt, die ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden nicht schadet“ bezeichnet. Umweltverschmutzung und -zerstörung schaffen einen Nährboden für neue Krankheiten.

Vor Arbeitsbeginn in einer chinesichen Fabrik: Desinfizieren und Fieber messen. (Foto: Noel Celis / AFP)

Krankheit und Demokratie

Während der Recherche zu diesem Artikel hörte ich, wie eine Reihe von Wissenschaftler*innen die Kühnheit der chinesischen Reaktion lobte. Diese Perspektive spiegelt jedoch ein tiefes Missverständnis über den Zusammenhang zwischen Krankheit und Demokratie wider – und auch über das, was in China geschieht. Die Tatsache, dass dort in jüngster Zeit mehrere Virusausbrüche (Vogelgrippe H5N1 und SARS) ihren Anfang genommen haben, steht in direktem Zusammenhang mit der massiven Verstädterung, der Umweltzerstörung und den schwachen, manchmal nicht vorhandenen Systemen der öffentlichen Gesundheit, des Umweltschutzes oder der Lebensmittelregulierung. Ebenso hat die rasche Ausbreitung der jeweiligen Erreger damit zu tun, dass China ein autoritärer Einparteienstaat ist, in dem es keine Rede-, Medien- und Protestfreiheit gibt.

Wie wir inzwischen wissen, wurde der Arzt Dr. Li Wenliang, der als erster versuchte öffentlich Alarm zu schlagen, von den Behörden bestraft. Sein Tod, ausgelöst durch das Virus am 7. Februar 2020, soll enorme Anteilnahme, aber auch Wut ausgelöst haben. Seitdem haben weitere Medienberichte dokumentiert, dass Millionen von Menschen in Städten wie Wuhan unter staatlichem Zwang gestanden haben – in einem Ausmaß, das kaum zu verbergen ist. Die New York Times berichtete zum Beispiel, wie Vizepremier Sun Chunlan bei seinem Besuch in Wuhan sagte, die Stadt sei mit „Kriegsbedingungen“ konfrontiert, und warnte davor: „Es darf keine Deserteure geben, sonst werden sie für immer an die Säule der historischen Schande genagelt.“ Laut Xiao Qiang, Gründer und Chefredakteur der China Digital Times, trägt die „Kontrollmacht“ Chinas die „die Hauptverantwortung für die Coronavirus-Epidemie, die über dieses Land und die Welt hinwegfegt“. Um es klar zu sagen: Dies ist keine Stigmatisierung des chinesischen Volkes. Die Verantwortung trägt die chinesische Regierung auferlegt – Südafrikas größtem Handelspartner, einem Freund des ANC und einem Land, dessen Menschenrechtsverletzungen wir opportunistisch verschweigen. Nebenbei: Man fragt sich, wo Südafrika heute stünde, wäre die Welt damals so mit dem Apartheidssystem umgegangen.

Die Lehren aus HIV wurden vergessen

Dabei scheinen die Regierungen in aller Welt sämtliche Lehren aus der jüngsten Pandemie der Welt zu vergessen: HIV. Ein Virus, das – laut UNAids – immer noch 770.000 Todesfälle pro Jahr verursacht, derzeit über 37 Millionen Menschen betrifft (eine Zahl, die jährlich um 1,5 Millionen zunimmt) und weiterhin tiefgreifende Auswirkungen auf die öffentlichen Gesundheitssysteme und die Wirtschaft hat. Leider scheint selbst die WHO diese Lehren vergessen zu haben. Ihr „Situation Report25“ vom 14. Februar 2020 nennt sechs „strategische Ziele der WHO für die Reaktion“ auf COVID-19. Der Schutz der Menschenrechte gehört nicht dazu. Auch ein Bericht des Global Preparedness Monitoring Board, ein von der WHO und der Weltbank gemeinsam einberufenes Gremium, erwähnte die Menschenrechte in seinen sieben Maßnahmen, die die Verantwortlichen ergreifen müssten, nicht. Hätten die Machthabenden doch nur ihre Hausaufgaben gemacht und ihre Lektionen gelernt.

Erinnern wir deshalb daran, was Aktivist*innen den Regierungen und der WHO in Bezug auf HIV beigebracht haben: Die Achtung der Menschenrechte ist nicht nur zum Schutz von Infizierten notwendig. Sie dient auch der Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Klimas, das gefährdete Menschen dazu ermutigt, sich um Diagnose und Pflege zu bemühen, anstatt Gesundheitseinrichtungen zu meiden, weil sie Angst vor Stigmatisierung und Bestrafung haben. Infolge der Empörung über die Menschenrechtsverletzungen an Menschen, die mit HIV leben, und dank eines breiten Aktivismus hat UNAids Pionierarbeit für einen menschenrechtlichen Ansatz bei der HIV-Prävention und -Behandlung geleistet, der viele Millionen Menschenleben gerettet hat. Heute könnte die HIV-Übertragung theoretisch eliminiert werden und niemand müsste an einer Aids-Erkrankung sterben. Der einzige Grund dafür, dass dies nicht geschieht, ist ein Mangel an politischem Willen und sinkenden Finanzmitteln – was angesichts der Ressourcen, die plötzlich für COVID-19 freigegeben werden, umso bemerkenswerter ist.

Südafrikas Antwort

Während wir beim Schutz der Menschenrechte von Menschen, die mit HIV leben, weltweit führend wurden, sind wir mit unseren Reaktionen auf die XDR- und MDR-Tuberkulose (TB) gescheitert. Die Regierung setzte darauf, Menschen in „Isolationskrankenhäuser“ einzusperren und dabei eine Vielzahl von Rechten zu verletzen. Wie vorhergesagt, trug dies nicht dazu bei, die Übertragung von MDR/XDR-Tuberkulose zu reduzieren. Angesichts einer Panik, die COVID-19 auslösen könnte, sollten wir diese Fehler nicht wiederholen. Was wir jetzt brauchen, sind genaue Informationen über Risiko, Übertragung und Behandlung des Erregers – während wir gleichzeitig ungenaue oder falsche Informationen und Stigmatisierungen, die durch die Angst verbreitet werden, bekämpfen müssen. Mittelfristig ist COVID-19 (wie auch immer es aussehen mag) ein Argument für die Stärkung der primären Gesundheitssysteme, für Investitionen in die Infektionskontrolle und für eine Ausstattung, die der ordnungsgemäß budgetiert ist und auch über die erforderlichen Fachkräfte verfügt. Momentan scheitern wir an jedem dieser Punkte.

Politik und Krankheit

COVID-19 verlangt von uns, dass wir unsere Seele ebenso wie unseren Körper untersuchen. Irgendwann einmal wird man sich hoffentlich darüber wundern, wie wenig Empörung die drastischen Quarantänemaßnahmen, die Durchsuchungen, Einschüchterungen und Massenüberwachungen in China hervorgerufen haben und wie wenig Solidarität es mit den Millionen von betroffenen Menschen gegeben hat. Das scheint auf eine neue psychische Krankheit hinzuweisen: der weltweite Verlust von Mensch-zu-Mensch-Empathie und Solidarität. Paradoxerweise scheint der leichte Zugang zu und die Fülle an Informationen über Frontlinien grober Menschenrechtsverletzungen – sei es in Idlib oder in Wuhan – die Menschen daran gewöhnt zu haben, dass Menschenrechte grob verletzt werden. Das Grauen hat sich normalisiert. Donald Trump und Wladimir Putin müssen das dystopische Spektakel in China mit Neid erfüllen: Könnten sie doch auch nur so leicht künstliche Intelligenz einsetzen, ganze Städte lahmlegen, Drohnen zur Überwachung der Bevölkerung aussenden. Die Dystopie ist eingetroffen.

In dieser Hinsicht ist COVID-19 eine Anklage gegen den gegenwärtigen Zustand der Gesundheit, der Menschenrechte und der Ungleichheit gleichermaßen. Zwar könnte es China diesmal noch gelingen, die Schwäche seiner Gesundheitssysteme durch Zwangsmaßnahmen „erfolgreich“ auszugleichen. Aber anderswo in der Welt wird der Preis dafür zu zahlen sein, dass die öffentlichen Gesundheitssysteme derart ausgehöhlt worden sind, dass die Erklärung von Alma-Ata zur primären Gesundheitsversorgung ignoriert wird, dass es überall an Personal mangelt … Die Reaktion auf COVID-19 zeigt, dass in der späten neoliberalen Ordnung alle Krankheiten zwar gleich, einige Krankheiten jedoch gleicher sind.

Der Virus in der First Class

Dies beweist einmal mehr, dass es nicht eine Krankheitsbedrohung an sich ist, die Ressourcen und medizinische Mobilisierung mobilisiert. Es geschieht bei einer Krankheit, die die globale Wirtschaft und die Einnahmequellen der Elite bedroht. Viren in Flugzeugen oder auf Kreuzfahrtschiffen, die die Schlagadern des Welthandels überqueren und aus der ersten Klasse nicht mehr herauszuhalten sind, sind etwas anderes als ein Virus, das durch marginalisierte und verletzliche Bevölkerungsgruppen oder die Slums der Armen läuft. Um dieses Virus einzudämmen, geben Regierungen schnell Milliarden für die Abriegelung von Städten, die Einschränkung des Luftverkehrs und der Reisemöglichkeiten sowie die Quarantäne von Bürger*innen aus.

COVID-19 und andere Krankheitsbedrohungen gehen alle auf eine Ökonomie der Ungleichheit zurück, auf die anhaltende Periode der Sparmaßnahmen, in der die Gesundheitssysteme grundlegend ausgehöhlt wurden. Auch allgemeine Sanitäranlagen, Maßnahmen, dank derer Anfang des 20. Jahrhunderts sich die durchschnittliche Lebenserwartung stark erhöht hat, sind längst erodiert. Die COVID-19-Krise ist ein weiteres Argument dafür, dass die Verwirklichung sozioökonomischer Rechte sichergestellt werden muss: Rechte wie das Recht eines jeden Menschen „auf den höchsten erreichbaren Standard körperlicher und geistiger Gesundheit“. Wie auch immer es ausgehen mag: COVID-19 sollte ein Weckruf für die globale Menschenrechtsgemeinschaft sein.

Mark Heywood ist Menschenrechtsaktivist und leitete viele Jahre die südafrikanische medico-Partnerorganisation section27, die sich für das Recht auf Gesundheit und die Verbesserung des Gesundheitswesens einsetzt.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. Februar 2020 im südafrikanischen Daily Maverick.

Quelle:  medico.de… vom 19. März 2020

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