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Als Augenzeuge beim Aufstand in Chicago

Eingereicht on 4. Juni 2020 – 11:51

Brian Bean, Mitglied des Redaktionskollektivs der Zeitschrift rampant, berichtet aus Chicago über die anhaltende Rebellion in den Vereinigten Staaten.

Die Rebellion der Arbeiterklasse gegen den anti-schwarzen Rassismus und Polizeiterror geht hier in den Vereinigten Staaten weiter. In jeder grösseren Stadt sind Aufstände ausgebrochen – das bedeutendste Ereignis dieser Art seit den urbanen Revolten der 1960er Jahre. Man kann ihn auch als den ersten COVID-19-Aufstand bezeichnen. Die ohnehin schon schwelende Explosion wurde durch die Politik der Eliten weiter angeheizt, die die Arbeiterklasse – vor allem deren farbige Sektoren – , während der Pandemie sterben lassen wollte und infolge der drohenden Depression ihr die wirtschaftliche Verwüstung aufzuhalsen. Durch die Ermordung von George Floyd in Minneapolis kam die Lage zur Explosion.

Dieser Aufstand ist ein transformativer Moment. Es ist die nächste Welle der Black-Lives-Matter-Bewegung, die 2014 und 2015 über das Land hereinbrachen – von den Demonstrationen in Ferguson, Missouri, nach der Ermordung von Mike Brown, über die Welle nationaler Proteste nach der Nichtanklage der Mörder von Brown und Eric Garner bis hin zu den Unruhen in Baltimore, Maryland, und dann die rollenden Demonstrationen in Chicago nach der Veröffentlichung eines Videobandes, das die Ermordung von Laquan McDonald zeigt. Die deklarierte post-rassische Gesellschaft, die mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten Barak Obama hochtrabend propagiert wurde, wurde durch die tägliche Realität des Polizeiterrors als Lüge entlarvt.

Die Umstände der Explosion waren diesmal andere. Einer von 2.000 Afroamerikanern ist bisher an dieser Seuche Covid-19 gestorben. In Chicago sind fast drei Viertel der Todesopfer Schwarze, die weniger als ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachen. Die Untätigkeit des Bundes liess Menschen sterben, während eine schnelle Reaktion dafür sorgte, dass die Milliardäre um mindestens 400 Milliarden Dollar reicher wurden. Als schliesslich soziale Distanzierungsmassnahmen ergriffen wurden, boten sie Schutz für eine intensivierte Polizeiarbeit: In New York City und Chicago fanden fast alle Verhaftungen und Vorladungen im Zusammenhang mit der «Bleiben zu Hause»-Kampagne in schwarzen Stadtvierteln statt, während freundliche Polizisten in Parks Masken an Weisse verteilten.

Jetzt, da sich die Präsidentschaftswahlen nähern, werden die schwarzen Amerikaner aufgefordert, ihre Hoffnungen auf den Vergewaltiger  Joe Biden zu setzen der kürzlich einem der populärsten schwarzen Radiomoderatoren Amerikas sagte, dass jeder Schwarze, der nicht für ihn stimmen wollte, «nicht schwarz» sei. Biden ist ein hoffnungsloser Pappsoldat des Status quo des amerikanischen Kapitalismus, der das schwarze Amerika der Seuche überlassen hat, sie mit anhaltenden wirtschaftlichen Entbehrungen schlägt und sie dann durch Polizisten tötet. Der Wettstreit zwischen Trump und Biden ist keine Wahl – dies hat die Hoffnungslosigkeit, die den Funken entzündet hat, nur noch verstärkt.

Während die Pandemie das schwarze Amerika tötete, baute sich die Spannung durch eine Reihe von Vorfällen rassistischer Gewalt auf. Am 13. März wurde Breonna Taylor, eine Schwarze in Kentucky, in ihrem Haus durch eine Polizeirazzia getötet, die ohne Anklopfen ins Haus eindrang. Anfang Mai erschien ein Video von der Hinrichtung der 25-jährigen Ahmaud Arbery im Februar, die von einer Gruppe weisser Ex-Cop-Bürgerwehrler getötet wurde.

Dies der Hintergrund für die Tragödie, die sich am Montag, den 25. Mai, in der Stadt abspielte, die sich an die Ermordung von Philando Castile durch die Polizei im Jahr 2016 erinnert. Nun lynchte die Polizei George Floyd. Floyd wurde zum Tode verurteilt, weil er Lebensmittel mit einem 20-Dollar-Schein gekauft hatte, der angeblich eine Fälschung gewesen sein soll. Der brutale Vorfall wurde von einem Schaulustigen auf Video festgehalten, wobei Floyd sich unter dem Knie des Beamten Derek Chauvin wand, während seine Komplizen zuschauten. Das Aussergewöhnliche war nicht die Gewalt, die Routine für die Polizei ist, sondern dass die ganze Welt sah, wie Floyd nach Luft schnappte und vor seinem Tode nach seiner Mutter rief.

Sofort füllten sich die Strassen von Minneapolis mit mächtigen Demonstrationen. Gebäude wurden in Brand gesteckt. Am Donnerstagabend vertrieben die Demonstranten die Polizei aus einem Bezirksposten, setzten ihn in Brand und eigneten sich Nahkampfausrüstung an. Während es zu Plünderungen kam, ist anzumerken, dass es sich bei den Zielen um grosse Firmenläden wie Target und eine aufgewertete, unbewohnte Eigentumswohnung handelte, die getroffen wurden, während Geschäfte mit Schildern mit der Aufschrift «Eigentum von Minderheiten» verschont wurden.

Die Tapferkeit und Entschlossenheit der Rebellion hatten eine durchschlagende Wirkung auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse. Die Minneapolis-Transitgewerkschaft gab eine Erklärung der Nicht-Zusammenarbeit bei Verhaftungen von Demonstranten heraus – dies kam einem politischen Streik gleich. Die Universität von Minnesota erklärte, sie beende ihren Vertrag mit der Polizeibehörde, um für die Sicherheit von Sportveranstaltungen zu sorgen, und die Schulbehörde von Minneapolis beschloss, den Kontakt mit der Polizeibehörde abzubrechen. In wenigen Tagen wurden Veränderungen errungen, von denen einige glauben, dass sie nur mit langen Kampagnen erreicht werden können; nun schafften dies randalierende Demonstranten, die sich weigerten, die Strassen zu verlassen. Am Tag nach der Ausräucherung des Polizeireviers wurde Chauvin unter dem Vorwurf des Mordes dritten Grades verhaftet. Diese Anklage entspricht zwar nicht den Forderungen, und die anderen beteiligten Polizisten müssen noch verhaftet werden, aber der Schritt gegen Chauvin war eine Kapitulation vor den Demonstranten.

Während sich diese Ereignisse in Minnesota abspielten, begannen in anderen Städten Solidaritätsproteste aufzublühen. In Ohio brachen Demonstranten in das Gebäude der Landeshauptstadt ein. Ein Polizeirevier in Brooklyn, New York, wurde überwältigt. Diese Verschärfung zum Ende der Woche gipfelte dann am Samstag in einem grossen Ausbruch.

In jeder grösseren Stadt gingen Zehntausende von Menschen in Wut und Trotz auf die Straße. Die Reaktion der Polizei war unverhohlene Gewalt. Mehr als 4.000 Menschen wurden im ganzen Land verhaftet. Unzählige Berichte und Videos kursierten, in denen Polizisten Demonstranten mit Knüppeln schlugen, Menschen mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen und sogar ihre Fahrzeuge in Menschenmengen fuhren. Es gibt mindestens 50 dokumentierte Angriffe auf Journalisten. Die Polizeigewalt stiess auf heftigen Widerstand, Polizeiautos wurden in Brand gesteckt, und die Rebellion überwältigte die Polizeilinien. In New York City wurden bis zu 40 Fahrzeuge in Brand gesteckt.

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Die schiere Zahl der polizeilichen Aggressionen und des mutigen Widerstands vermögen nicht das Vertrauen und die leidenschaftliche, schöne Wut der Demonstrationen einzufangen. Spuren des Aufruhrs und das Gefühl des Karnevals der Unterdrückten arbeiteten sich in Windeseile an die Oberfläche. In Chicago wurde der zentrale Geschäftsbezirk am Samstag von einem Karawanenprotest überwältigt, der die Straßen verstopfte, während bis zu 10.000 Menschen das Gebiet überfluteten. Weitgehend spontan strömte die Menge in alle Richtungen. Die Polizei reagierte heftig. Polizeiautos brannten. Das normalerweise graffitifreie Zentrum war mit den Namen der von den Bullen ermordeten Personen bedeckt, mit Slogans von Black Lives Matter, Fuck 12, ACAB [All Cops Are Bastards]. Der Hass auf die Polizei und ihre rassistische Gewalt war in aller Munde.

Der Protest bestand überwiegend aus jungen Menschen. Obwohl schwarze und braune Jugendliche eindeutig an der Spitze standen, war die Zusammensetzung vielfältig. Eine der grössten Polizeigruppen sorgte dafür, dass der Trump Tower geschützt wurde, was die Prioritäten der Machthaber der Stadt verdeutlichte. Doch die Polizei verlor die Kontrolle. Bürgermeister Lightfoot verhängte eine Ausgangssperre mit einer 30-minütigen Warnung. (Die meisten Städte im ganzen Land führten ebenfalls eine Ausgangssperre mit geringer Vorwarnung ein.) Stadtbahnen und Busse wurden stillgelegt, und in einer beispiellosen Aktion wurden die Zugbrücken über die Flüsse aufgezogen. Dadurch wurden 1.000 meist junge Menschen eingeschlossen, die von der Polizei zusammengeschlagen und verhaftet wurden.

Die Szene der Volksrebellion war im ganzen Land ähnlich. Der Samstag löste eine anhaltende Welle oder einen Protest aus. Der Effekt ist allgegenwärtig: In jeder Nachbarschaft haben Autos Schilder in den Fenstern oder auf Motorhauben aufgemalte „Black Lives Matter“ und „Justice for George Floyd“. Jede Straßenecke ist mit aufgekreideten Slogans, den Namen der Toten und wütenden Schimpfworten gegen die Polizei bedeckt.

Als die morgendliche Ausgangssperre aufgehoben wurde, erwarteten die Demonstranten die Bürgermeisterin vor ihrem Haus, und die Stadt war abgeriegelt. Die Brücken blieben aufgezogen, die Polizei errichtete Barrikaden mit grossen Sanitätsfahrzeugen, um das Stadtzentrum abzuriegeln. Der eingestellte Zugverkehr hinderte die Menschen daran, die Stadt zu betreten, und die nächtliche Ausgangssperre wurde verlängert. Die Abriegelung des Zentrums bedeutete, dass die Proteste kleiner wurden und sich auf verschiedene Teile der Stadt verteilten. In mindestens vier Stadtvierteln fanden Strassendemonstrationen statt. Im von Schwarzen bewohnten South-Side-Viertel des Hyde Park, in dem die schwarze Mehrheit lebt, kam es zu einem grossen Protest, und die Polizei griff erneut an, schickte viele ins Krankenhaus und verhaftete viele weitere. Krankenhauspersonal in nahe gelegenen Krankenhäusern berichtete, dass sie mit Fällen von «roher Gewalteinwirkung» durch die weit verbreitete Polizeigewalt überhäuft wurden.

Dieses Muster setzt sich fort. In der vergangenen Nacht (Dienstag) verdichteten sich die Proteste auf der North Side noch stärker als am Montag, und eine Massenversammlung die Besetzung der Strassen einstimmig beschloss und schliesslich die Durchgangsstraße Lakeshore Drive besetzte; sie setzte sich eine Stunde lang über die Ausgangssperre hinweg, bevor die Polizei die Demonstranten erneut zurückschlug. Alles deutet darauf hin, dass die Szenen, deren Zeuge ich in Chicago geworden bin, in Charakter und Ablauf denjenigen im ganzen Land ähneln. In einigen Fällen, wie gestern in Kentucky mit dem Mord an David McAttee, tötet die Polizei Menschen, indem sie wahllos in Menschenmengen schiesst.

Die Repression, die Polizeigewalt und der Einsatz der Nationalgarde wurden von Bürgermeistern und Gouverneuren der Demokratischen Partei durchgeführt. Viele Repräsentanten der «fortschrittlichen» Sektoren der Partei drücken zwar ihr Mitgefühl mit den Demonstranten aus, flehen aber die Menschen an, zu Hause zu bleiben und die legitime Wut als Produkt «externer Agitatoren» abzutun, die offenbar nun in jeder amerikanischen Stadt entstanden sind. Die Demokraten bieten keine Antwort oder Lösung an. Tatsächlich ist ihr Versagen und ihre Unfähigkeit, etwas gegen den Alptraum des amerikanischen Lebens zu unternehmen, mit dafür verantwortlich, dass sich nun die Massen erheben. Was wird denn von den Menschen noch erwartet, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen, die Welt zu verändern?

Die Demonstrationen waren fast ausschließlich spontan und verbreiteten sich über soziale Medien und Mundpropaganda. Die Teilnehmer sind sehr jung, sehr militant und zeigen einen unversöhnlichen Hass gegen die Polizei. Wie immer bei sozialen Eruptionen, die neue Schichten von Menschen anziehen, ist die Zielrichtung der Forderungen sehr gemischt. Während Antirassismus, die Abschaffung der Polizei und eine generelle Ablehnung des Systems grundlegend sind, gibt es bei Demonstrationen ein Sammelsurium unterschiedlicher Standpunkte. Man hört alles von Aufrufen zum Schwarzen Kapitalismus, religiösem Erwachen, Besorgnis über die PTSD der Polizei, Anprangerung der Privilegien der Weissen und sogar Anti-Abtreibungsreden. Aber Massenpolitik ist kompliziert. Trotz aller unterschiedlichen Meinungen treibt die Feindseligkeit gegenüber der Polizei den heftigen Widerstand an.

Wir werden bald vor der Frage der Organisation stehen. Viele der Gruppen und Koalitionen, die in der Vergangenheit Proteste organisiert haben, sind entweder von der Grösse der Proteste und dem Ausmass der Unterdrückung überwältigt oder nicht vorbereitet, um in einer sich rasch verändernden Situation die Führung zu übernehmen. Diese Frage wird durch verschärfte Unterdrückung sehr brennend werden. Donald Trumps kriegerische Drohungen, «Hunde» auf die «Kriminellen» zu hetzen, sind Aufrufe zu mehr Polizeigewalt und eine Ermutigung für rechtsextreme Bürgerwehrler. Darüber hinaus ist seine Behauptung, seine herbeiphantasierte «Antifa-Organisation» als terroristisch zu bezeichnen, zwar lächerlich und dunkel komisch, aber auch eine erschreckende Warnung vor der staatlichen Repression, die eingesetzt werden könnte. Erst am Montagabend drohte er damit, das Militär zu entsenden, um die Proteste niederzuschlagen, was in Wirklichkeit die Verhängung des Kriegsrechts zur Folge hätte.

Um durchzuhalten und sich tiefer zu verankern, müssen die Proteste weitergehen und sich breitere Teile der Arbeiterklasse aktivieren. Die Zukunft ist ungewiss. Dies ist jedoch ein Moment des Wandels, der zeigt, welche Art von Widerstand erforderlich ist, um die schrecklichen Bedingungen des bankrotten und heruntergekommenen Systems des rassistischen Kapitalismus in den Vereinigten Staaten in Frage zu stellen. Wir brauchen mehr Rebellion.

Quelle: redflag.au… vom 4. Juni 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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