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Interview – Globale Wirtschaft am Rande des Abgrunds

Eingereicht on 26. Juni 2020 – 10:54

Die Socialist Review sprach mit dem marxistischen Ökonomen Michael Roberts über die wachsende Verschuldung, die lange Rezession und die Zukunftsaussichten des Kapitalismus im Gefolge der Coronavirus-Pandemie.

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Unternehmen und Staaten haben sich massiv verschuldet. Was sind die Auswirkungen dieser Entwicklung?

Schon vor der globalen Pandemie war die Verschuldung auf dem höchsten Stand der Nachkriegszeit. Dabei handelte es sich nicht nur um die Verschuldung des öffentlichen Sektors, die nach der Rettung der Banken und anderer Sektoren während der großen Rezession 2008-09 aufgebaut wurde.

Dazu gehörte auch eine enorme Anhäufung von Unternehmensschulden, da die Unternehmen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften Kredite zu sehr niedrigen Zinssätzen aufnahmen, die von den Zentralbanken ermöglicht wurden.

Sie horteten dieses Geld, zahlten zusätzliche Dividenden aus oder kauften ihre eigenen Aktien zurück, um die Aktienkurse anzukurbeln. Und auch die Unternehmen in den aufstrebenden Volkswirtschaften erhöhten ihre Verschuldung, da sie sich massiv in Dollar zu niedrigen Zinssätzen verschuldeten, um in Immobilien und andere unproduktive Sektoren zu investieren oder – wie dies häufiger geschah – zu spekulieren.

Jetzt mit der Pandemie wird die Verschuldung sowohl des öffentlichen als auch des Unternehmenssektors weiter in die Höhe schnellen. Die Zentralbanken bieten den Unternehmen Kredite an, um die Corona-Sperrmassnahmen zu überstehen. Doch obwohl ein Teil dieser Kredite in Form von Zuschüssen gewährt wird, die nicht zurückgezahlt werden müssen, und die meisten Kredite eine «tilgungsfreie Zeit» haben, bevor die Rückzahlung beginnt, werden viele Unternehmen nur minimale Erholung bei Umsatz und Profit verzeichnen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Tausende von Unternehmen schließlich mit diesen Krediten in Verzug geraten und damit einige Banken in Gefahr bringen werden.

Noch schlimmer wird die Situation in den aufstrebenden Volkswirtschaften sein, aus denen Kapital in Rekordhöhe abfließt und die Schuldenrückzahlungen meist in Dollar erfolgen werden, da die lokale Währung zusammengebrochen ist. Daher werden die Umsätze und Gewinne auf Dollar-Basis sehr niedrig sein. Viele aufstrebende Volkswirtschaften sind vom Welthandel mit Rohstoffen wie Öl, Mineralien und Lebensmitteln abhängig, und die Preise für diese Rohstoffe sind stark gefallen.

Wann immer kapitalistische Volkswirtschaften ihre Rentabilität nicht aufrechterhalten können, sind sie anfällig für einen Zusammenbruch, und mit ihnen der Finanzsektor. Eine Schuldenkrise kann nur dann vermieden werden, wenn die Volkswirtschaften schnell wieder in die Gewinnzone zurückkehren, während die Regierungen und Zentralbanken weiterhin noch mehr Kreditgelder in die Banken und Unternehmen pumpen, um ihnen mit Rettungspaketen zu helfen und so weiter. Wenn Wachstum und Gewinne nicht rasch zurückkehren, ist eine neue Finanzkrise sehr wahrscheinlich.

Viele sprechen von einem Ende der Dominanz der USA im Weltgeschehen und auf den Weltmärkten. Stimmst du dem zu?

Die USA sind nach wie vor die Hegemonialmacht in der Welt und die führende imperialistische Macht. Aber sie haben in den Bereichen Produktion, Technologie und Handel relativ an Boden verloren. Nur ihre Dominanz in den Bereichen Finanzen und Militär könnte sie an der Spitze halten. Aber sie bleiben mächtige Faktoren.

Die USA haben zwar Anteile im Handel und in der verarbeitenden Industrie verloren, aber der Welthandel und die Kapitalströme werden nach wie vor hauptsächlich (zu zwei Dritteln) in Dollar abgewickelt. Die US-Währung ist also nach wie vor die internationale Reservewährung, was ihr weiterhin den Spitzenplatz sichert.

Die große Frage in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist, ob eine aufstrebende Macht mit den USA konkurrieren oder sie überholen kann. Der einzige Kandidat ist China. Doch obwohl es heute die größte Volkswirtschaft und die führende Industrienation der Welt ist und seinen Einfluss in den Bereichen Technologie und Investitionen weltweit ausbaut, ist das Land noch immer nicht in der Lage, die Vorherrschaft der USA zu bedrohen.

Deshalb versuchen die US-Führung jetzt, China zu erwürgen, bevor dieses ihnen zuvorkommt. Dies ist ein wichtiges Rezept für einen großen Konflikt (kalt oder heiß?) im nächsten Jahrzehnt.

Wie wird diese drohende Krise im Vergleich zu früheren Krisen aussehen?

In wirtschaftlicher Hinsicht drängt die Covid-19-Krise selbst die große Rezession in den Hintergrund. Das globale BIP wird in den nächsten zwei Jahren wahrscheinlich um etwa 10 Prozent zurückgehen, wobei viele Schwellenländer in eine tiefe Depression fallen werden, ganz zu schweigen von den schwächeren fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Globalisierung und Handel kehrten sich bereits vor der Pandemie infolge der langen Depression seit 2009 um, aber die protektionistische Dynamik wird sich nun beschleunigen; dadurch werden weitere Gewinne für die kapitalistischen Volkswirtschaften geschmälert.

Die Narbenbildung in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften deutet auf ein neues Jahrzehnt mit niedrigem Wachstum, Produktivität, Investitionen, schrumpfendem Realeinkommen für die meisten Lohnabhängigen und diesmal mit höherer Arbeitslosigkeit hin.

Was sagen uns Covid-19 und diese Krise über den Kapitalismus als System?

Die lange Depression seit 2009 und jetzt dieser pandemische Einbruch zeigen, dass es für den Kapitalismus immer schwieriger wird, sich nach jedem Einbruch zu erholen.

Der Grund dafür ist, dass die Rentabilität des Kapitals als langfristige Tendenz gesunken ist und sich jetzt in den meisten führenden kapitalistischen Volkswirtschaften auf einem historischen Tiefstand befindet. Das klingt seltsam, wenn man von den riesigen Profiten von Unternehmen wie Apple, Google, Netflix, Facebook und so weiter hört, aber sie sind die Ausnahme. Im Durchschnitt kämpft ein großer Teil der Unternehmen darum, über Wasser zu bleiben, und nun wird dieser Einbruch viele von ihnen mit sich reißen.

Der Kapitalismus erweist sich als unfähig, für bessere Arbeitsplätze, Einkommen und Lebensbedingungen zu sorgen. Die Ungleichheit von Einkommen und Wohlstand hat sich seit Beginn des industriellen Kapitalismus noch nie dermassen verschlechtert.

Weltweit leben immer noch drei Milliarden Menschen in Armut, und die globale Erwärmung beschleunigt sich immer schneller in Richtung Katastrophe. In der Tat dürften diejenigen, die jetzt erwachsen werden, die geringste Verbesserung in ihrem Leben erfahren wie noch keine Generation in den letzten 70 Jahren.

Quelle: socialistreview.uk… vom 26. Juni 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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