Napoli gegen den Lockdown
Am letzten Freitag Abend, dem 23. Oktober 2020, kam es in Napoli wegen der Androhung eines neuen Lockdowns und den Folgen der tiefen sozialen Krise, die die Arbeiter*innenklasse in Italien gerade erleidet, zu Protesten. Ein zweiter Lockdown wurde am selben Nachmittag vom regionalen Gouverneur Vincenzo De Luca in einer Liveschaltung auf Facebook in Erwägung gezogen.
An den spontanen Demonstrationen versammelten sich tausende von Menschen, die dafür die Ausgangssperre (23:00 Uhr) missachteten und nicht davor zurückschreckten, mit den Ordnungskräften in Konflikt zu geraten. Die Demonstration schaffte es nicht nur in Italien auf die Titelseiten der Zeitungen, sondern auch im Ausland. Im Zentrum der Berichterstattung standen vor allem die Gewaltszenen und das nicht sogleich identifizierbare soziale Subjekt, das sich am Freitag Nacht die Straße nahm. Bei den Protesten von Freitag handelte es sich nicht um die erste Demonstrationen seit der Aufhebung des ersten Lockdowns am 4. Mai 2020. Warum haben aber gerade sie für so viel Aufruhr gesorgt? Was steckt hinter diesen „gewalttätigen“ Massenaufständen inmitten der zweiten Welle der Corona-Krise? Und was können wir daraus lernen?
Von der gesundheitlichen zur sozialen Pandemie
Schon Anfang Juli 2020 hatte Innenministerin Luciana Lamorgese im nationalen TV ihre Sorgen bezüglich den Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Krise Italiens nach der ersten Welle der Corona-Krise zum Ausdruck gebracht: „Die Gefahr eines heißen Herbstes ist real, denn im September werden wir die Auswirkungen dieser schweren Wirtschaftskrise sehen, die die Unternehmen getroffen hat. Die Geschäfte werden schließen, die Bürger werden keine Möglichkeiten mehr haben für ihre täglichen Bedürfnisse zu sorgen. Die Regierung hat versucht, diesen Bedürfnissen und Forderungen nachzukommen, aber die Gefahr eines heißen Herbstes ist real.“ Tatsächlich bestätigen die in Napoli ausgebrochenen Proteste zumindest teilweise die Ängste von Ministerin Lamorgese, denn sie finden in einem spezifischen sozialen Kontext statt.
Die erste Welle der Corona-Krise hat die tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche Italiens und die Unfähigkeit der Regierung ans Tageslicht gebracht, auf die elementarsten gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse einzugehen. Die Besonderheit der Produktionsstruktur Italiens – hoher Bestandteil von selbständig Arbeitenden, weit verbreitete irreguläre Arbeit vor allem im Süden des Landes, niedriger Beschäftigungsgrad von Frauen und Jugendlichen – hat dazu beigetragen, dass ein Grossteil der Arbeiter*innenklasse von den sozialen Maßnahmen der Regierung ausgeschlossen blieb oder diese für sie unzureichend waren. Somit hat der während den ersten drei Monaten der Krise eingeführte Lockdown eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten verursacht. Laut Schätzungen wird die Corona-Krise im Jahr 2020 eine Million neue Arme hervorbringen. Das größte Wachstum dieser neuen Armut hat Süditalien zu verzeichnen (plus 20 Prozent in Kampanien, plus 14 Prozent in Kalabrien, plus 11 Prozent in Sizilien). Laut europäischem Statistikamt Eurostat gehört der mezzogiorno [Süditalien, Anm. d. Red.] heute zu den ärmsten Regionen Europas.
Dass die Region Kampanien ein soziales Pulverfass ist, war auch schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise bekannt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 50 Prozent und 700.000 Menschen beziehen das sogenannte Grundeinkommen (eine Art Sozialhilfe für armutsbetroffene Menschen). Kampanien steht zudem auf Platz 1 der Rangliste der irregulären Arbeit. Diese macht hier rund 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, und 7 von 10 vom Arbeitsinspektorat kontrollierten Unternehmen weisen Verstöße gegen Arbeiter*innenrechte auf. Durch die Corona-Krise verschärfen sich diese Probleme, infolgedessen wandelt sich das soziale Gefüge. Ohne garantierte Einkommen und sozialen Maßnahmen für alle, können pauperisierte Teile der Arbeiter*innenklasse oft nur auf die solidarischen Netzwerke gegenseitiger Hilfe (Stichwort „Mutualismus“) zählen.
Die zweite Welle
Es war allen klar, dass sich die Pandemie nach der ersten Welle weiter verbreiten würde und Expert*innen hatten schon früh empfohlen, sich auf eine Zunahme der Corona-Ansteckungen Ende Sommer, also auf die sogenannte zweite Welle vorzubereiten. Die Regierung hätte die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems priorisieren, die Gesundheitseinrichtungen mit dem nötigen Personal ausstatten und die Intensivstationen ausbauen müssen. Dies ist aber nicht geschehen. Die massive Zunahme der täglichen Neuansteckungen im fünfstelligen Bereich (21.273 allein am Sonntag, dem 25. Oktober) stellt die Stabilität des gesamten nationalen Gesundheitssystems in Frage. Die meisten Probleme treten vor allem in denjenigen Regionen auf, wo in den letzten Jahren massiv gespart und privatisiert wurde, was zur Schließung ganzer Krankenhäuser und Notfallstationen führte. Gesundheitspolitisch sind vor allem die Zunahme der täglich hospitalisierten Fälle (plus 719 am 25. Oktober), der Fälle in Intensivtherapie (plus 80 am 25. Oktober; insgesamt 1.208) und die Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Plätze besorgniserregend.
Kampanien gehört zu der vom Virus am stärksten betroffenen Region der zweiten Welle. Die täglichen Neuerkrankungen belaufen sich hier auf rund 2.000 Fälle. Es handelt sich um Zahlen, die während der ersten Phase nie erreicht wurden. Darum hat der regionale Gouverneur Vincenzo De Luca während seinen üblichen Facebook-Auftritten drastische Maßnahmen angekündigt: Ausgangssperre ab 23 Uhr in der ganzen Region, Beschränkung der interprovinziellen Bewegungsfreiheit, Appell an die Zentralregierung für die sofortige Einführung eines einmonatigen Lockdowns. Was aber ausblieb: Ideen und Vorschläge zur Absicherung der ökonomischen Bedürfnisse von tausenden von Arbeiter*innen, Kleinhändler*innen, Selbständigen und Prekarisierten, die mit einem Lockdown innerhalb von wenigen Monaten zum zweiten Mal ihr Einkommen oder ihre Existenzgrundlage verlieren werden. Die katholische karitative Organisation Caritas hatte noch vor einigen Tagen eine Studie zur Zunahme der Armut veröffentlich. Darin wird erklärt, dass das gemeinsame Merkmal der „neuen Armut“ die Tatsache ist, auf keine Ersparnisse zurückgreifen zu können, wenn die Betroffenen gezwungen sind, länger als drei Monate ohne Einkommen auszukommen. Die Ankündigung von De Luca war also nur der Tropfen, der in Napoli das Fass zum Überlaufen brachte: Die Wut von tausenden von Bürger*innen explodierte in der Nacht vom 23. Oktober.
Wer steckt hinter den sozialen Protesten?
Die Wut, die sich in den Protesten ausdrückt, hat dazu geführt, dass sogar ausländische Medien darüber berichtet haben. Vom Bürgermeister von Napoli, Luigi De Magistris, über Regionspräsident Vincenzo De Luca bis hin zu Exponent*innen der Zentralregierung – alle haben die Ereignisse unisono als „geplante, kriminelle Aktionen von Ultras, Camorra und Faschisten“ degradiert. Die Politiker*innen und nationalen Medien verhielten sich also nicht besser als irgendwelche Verschwörungstheoretiker*innen, die die sozialen Gründe der Proteste mittels alter und herabwürdigender Stereotypen der Menschen des Südens (Stichwort „antineapolitanischer Meridionalismus“ [1]) verschleiern und delegitimieren.
Die Zusammensetzung der Proteste war tatsächlich vielfältig und komplex. Auf die Straße gingen Kleinhändler*innen, Selbstständige und informelle Arbeiter*innen. Sie haben sich mobilisiert, weil sie zu den sozialen Gruppen gehören, die in den letzten Jahren wegen der ökonomischen Krise bereits Schulden gemacht haben, für die soziale Dienste schlecht funktionieren und die den öffentlichen Institutionen daher kaum mehr trauen. Gerade in Napoli besteht zudem eine besondere Nähe zwischen Subproletarier*innen (also denjenigen, die am Rande der Gesellschaft leben oder in kleinkriminellen Kreisen verkehren) und Kleinbürgertum (denjenigen, die eigene Produktionsmittel besitzen: Handwerker*innen, Ladenbesitzer*innen usw.). Die Grenzen zwischen diesen sozialen Kategorien sind fließend, doch das soziale Milieu bleibt konstant und die Bereitschaft zum Konflikt groß. Mit der aktuellen Krise haben diese sozialen Gruppen einen ökonomischen und sozialen Statusverlust erlebt, was angesichts des Tourismusbooms in den letzten zehn Jahren besonders hart ist.
Das Kleinbürgertum ist eine komplexe soziale Kategorie, die von der „ehrlichen“ Kleinhändlerin reicht, die nur einen bescheidenen Lohn verdient und Schwierigkeiten hat, die Familie zu ernähren, bis zum Unternehmer, der jeden Abend 15.000 Euro einkassiert und seine Angestellten ohne Vertrag arbeiten lässt. Diese Personen waren am Freitag auf der Straße. Aber es protestierten auch ihre informellen Arbeiter*innen, Menschen, die einen Familienbetrieb führen und ihre arbeitslosen Freund*innen in der Nachbarschaft, die täglich mit tausenden Schwierigkeiten konfrontiert werden.
Der Großteil dieser Menschen hatte gute Gründe, auf die Straße zu gehen. Obwohl sich alle im Klaren waren, dass die zweite Welle stark einschlagen würde, haben De Luca und die Zentralregierung nichts unternommen, um eine Vertiefung der gesundheitlichen und sozialen Krise zu vermeiden. Die Proteste sind also vor allem darum ausgebrochen, weil in diesen Monaten die Ersparnisse aufgebraucht wurden und der Hunger und die psychologische Verzweiflung stark zugenommen haben. Heute haben die Menschen nicht mehr die gleiche Bereitschaft wie noch am 9. März 2020, einen Lockdown zu akzeptieren. Breite Teile der Gesellschaft sind nicht mehr bereit, neue Einschränkungen zu tolerieren. Zumal sie auf die Ineffizienz und Unfähigkeit einer politischen Klasse zurückgehen, die unfähig ist, das gesundheitliche und soziale Desaster zu vermeiden oder adäquat anzugehen. Im März hatte die nationale Regierung noch Gelder für soziale Maßnahmen gesprochen. Nun hat sie erklärt, dass kein Geld mehr zur Verfügung steht. Und während der regionale Gouverneur De Luca noch kurz vor den Regionalwahlen Ende September Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt hatte, hat er diesmal nichts mehr anzubieten. Folglich können die Forderungen der Proteste so zusammengefasst werden: „Wenn du uns einschließt, musst du uns bezahlen“.
Weder Pest, noch Cholera
Die an den Tag gelegte Gewalt während der Proteste ist ein Ausdruck sowohl der tiefen Krise als auch der widersprüchlichen sozialen Zusammensetzung der Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben. In den letzten Krisenmonaten hat sich eine soziale Spannung aufgebaut, die sich angesichts der Drohung eines neuen Lockdowns entladen hat. Während nicht nur konservative, sondern auch einige linke Kommentator*innen die Gewalttaten verurteilen, wäre es angebrachter, die Stimmen des Protests zu hören und sich für eine tiefgreifende Restrukturierung des öffentlichen Gesundheitssystems einzusetzen, die sich auf seriöse Präventionsprogramme und auf die territoriale Verankerung stützt. Zudem bräuchte es Maßnahmen zur ökonomischen Absicherung von Arbeiter*innen und denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die am stärksten von restriktiven Corona-Regeln betroffen sind.
Die Drohung eines neuen Lockdowns zeigt, dass die Einführung präventiver Maßnahmen der Regierenden zu spät kommen. Die zahlreichen Warnungen des Gesundheitspersonals bestätigen zudem, dass wir kurz vor der einer gesundheitlichen Katastrophe stehen. Wenn es so weiter geht, sterben wir in aufgrund von COVID-19 überfüllten Krankenhäusern mit überarbeiteten Gesundheitsarbeiter*innen oder aufgrund des politisch produzierten sozialen und ökonomischen Elends. Es liegt an uns, uns dieser zynischen Wahl zwischen Pest und Cholera entgegenzustellen.
Anmerkungen:
[1] „Antineapolitanischer Meridionalismus“ bezeichnet die Vorurteile gegen die Leute des als „verwahrlost“ diffamierten Südens Italiens als kriminell, chaotisch, ungehobelt, unkultiviert und so weiter.
Die Autor*innen sind Mitglieder der linken Organisation Potere al Popolo und wohnen und kämpfen in Neapel.
Quelle: revoltmag.org… vom 12. November 2020
Tags: Arbeitswelt, Covid-19, Italien, Widerstand
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