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Es geht um mehr als um Katalonien

Eingereicht on 23. Oktober 2017 – 8:42

Rüdiger Rauls. Puigdemont hat den Mund zu voll genommen und nun zieht Madrid ihm und seinen Gesinnungsgenossen die Daumenschrauben an. Er steht damit in einer Reihe mit Trump, den Brexitiers und vermutlich auch Macron. Sie alle glauben, dass der Wille allein die entscheidende Größe in der Politik ist. Darin äußert sich eine mittlerweile besonders im Westen weit verbreitete Allmachtsphantasie. Die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihren unterschiedlichen Interessen und den sich ständig verändernden Kräfteverhältnissen zwischen den Interessengruppen spielt in dieser Sichtweise kaum eine Rolle.

Aber die Welt und die Wirklichkeit sind anders, und das bekommt Puigdemont nun genau so zu spüren, wie Trump es seit Monaten schon feststellen muss. Auch letzterer hat bis jetzt immer noch nicht begriffen, dass seine großmäuligen Ankündigungen aus dem Wahlkampf zwar Begeisterung hervorriefen bei den US-Bürgern, die im Treibsand der gesellschaftlichen Veränderung den Boden unter den Füßen verlieren, aber umsetzen konnte er von all dem noch nichts.

Selbst das unbedeutende Nord-Korea lässt ihn als zahnlosen Tiger dastehen, dem außer seinem Gebrüll nichts zu Gebote steht, was tatsächlich gestaltenden Einfluss auf die Wirklichkeit hätte. Im Gegenteil: Aus „Make America great again“ wird zunehmend ein Amerika, das überall auf der Welt an Einfluss und Ansehen verliert. Besonders rasant ist diese Entwicklung im Nahen Osten, wo alle diplomatischen und militärischen Initiativen Trumps nur eines bewirkten, den steigenden Einfluss des Iran und Russlands, den er doch eigentlich hatte eindämmen wollen.

Ähnlich erging es auch den Betreibern des Brexit, die doch mit ihrer Bewegung Glanz und Größe Großbritanniens wieder herstellen wollten, indem sie ihren Anhängern vorgaukelten, dass der Niedergang des Landes einzig der EU und Brüssel geschuldet ist. Der Austritt aus dem gemeinsamen Markt wurde als das Allheilmittel schlechthin gepriesen und diejenigen, die endlich aus den eigenen prekären Lebensverhältnisse herauskommen wollten, glaubten den Propheten nur zu gerne.

Die Wirklichkeit, dass die britische Industrie nicht mehr konkurrenzfähig ist auf den Weltmärkten, wollte von diesen Heilsverkündern keiner sehen, vielleicht fehlte ihnen auch einfach nur das Instrumentarium, solche Wahrheiten zu erkennen. Aber seit dem Austrittsbeschluss ist das Pfund gegenüber dem Euro um ca 30% gefallen, was gerade deren Portemonnaie plündert, die sich eine Verbesserung ihrer Lebenslage von den Versprechungen der Messiasse erhofft hatten. Die Brexitiers um Farrage waren jedoch im Gegensatz zu Trump so schlau gewesen, schnell nach ihrem Erfolg zurückzugetreten, um nicht für das Debakel der Umsetzung des von ihnen bewirkten Austritts verantwortlich zu sein.

Nun also versuchte Puigdemont sich die Welt so zu schaffen, wie sie ihm gefällt. Auch er war wie Obama einer derjenigen, die, vermutlich in guter Absicht, die Menschen blind für die Wirklichkeit machten und besoffen durch die Illusionen und Hoffnungen, die sie verbreiteten. Was hatte denn Puigdemont geglaubt, wie die Zentralregierung darauf reagieren werde, wenn die wirtschaftlich stärkste Region des Landes nun ihren Wohlstand alleine verfrühstücken will? Welche Regierung der Welt lässt das eigene Land wirtschaftlich den Bach runtergehen, nur um dem Demokratieverständnis einer Region nachzugeben? Haben Puigdemont und seine Gesinnungsgenossen in der Geschichte Beispiele für soviel Uneigennützigkeit eines Staates gefunden, worauf sie ihre Erfolgsversprechen hätten stützen können?

Hatte er allen Ernstes geglaubt, dass die EU und andere Staaten der Welt, sich mit Spanien, einem der größten Märkte Europas, überwerfen werden und Kataloniens Selbständigkeit anerkennen werden? War er politisch so naiv, die Bedrohungen nicht zu erkennen, die andere Staaten, bei denen ähnliche Tendenzen der Loslösung aus dem Staatsverband erkennbar waren, in einer Unabhängigkeitserklärung Kataloniens sehen mussten? Nun gerät er zwischen die Mühlsteine seiner enttäuschten und verärgerten Anhängerschaft, denen er schwer erfüllbare Hoffnungen gemacht hatte, und der Zentralregierung, die nun die Gunst der Stunde zu nutzen scheint, um mit voller Wucht der katalonischen Eigenständigkeit den Garaus zu machen.

Denn im Gegensatz zu Puigdemont handelt es sich bei Rajoy um einen Realpolitiker und keinen Fantasten. Er scheint in der Lage zu sein, die Möglichkeiten, d.h. auch die Chancen einer politischen Situation für die Umsetzung der eigenen Interessen zu erkennen. Nie schien die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens mehr geschwächt zu sein als jetzt nach der offenkundigen Hilflosigkeit ihrer Führung.

Obama, mit seinem „Yes, we can“, das die Welt in Verzückung versetzt hatte, aber keine seiner Versprechungen einlösen konnte, weder die Schließung von Guantanamo noch die Beendigung der Kriege in Nah-Ost und Afghanistan, ebenso Trump mit seiner genau gegenteiligen politischen Stoßrichtung, vermutlich auch Macron und nun zuletzt Puigdemont stehen für ein Politikverständnis, das sich immer mehr an der Wirklichkeit selbst abnutzt. Sie scheiterten an ihrer Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. Und vermutlich wollen sie selbst angesichts des Scheiterns ihrer Illusionen nicht wahr haben, dass die Wirklichkeit anders ist, als sie es sich in ihren Vorstellungen ausgemalt hatten. Sie glaubten, dass der gute oder starke Wille alleine genügt, um die Welt in ihrem Sinne zu verändern.

Sie schaffen Ideale und nähren Hoffnungen anstatt das Erkennen der Wirklichkeit zu fördern und die Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben. Die Puigdemonts sind die verwirrten Opfer der politischen und wirtschaftlichen Glaubenssätze und Dogmen, die bisher die Grundlagen darstellten für die Erklärung der Welt. Diese aber stoßen mit fortschreitender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung immer mehr an ihre Grenzen.

Das ist im gesellschaftlichen Bereich die Vorstellung, dass die demokratische Ordnung der westlichen Gesellschaften Ausdruck des Volkswillens ist und dieser Volkswille das gesellschaftliche Leben und politische Handeln bestimmt. Im wirtschaftlichen Bereich bestimmen immer noch alte Dogmen wie Geldmenge als Ursache für die Inflation oder zur Schuldentragfähigkeit der Staaten sowie der heilsamen Wirkung der Geldpolitik das Denken. Aber all diese gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Glaubenssätze geraten immer mehr in Widerspruch zur wirklichen Entwicklung (siehe dazu Rüdiger Rauls: Wie funktioniert Geld?).

Im Katalonien-Konflikt wird die Doppeldeutigkeit des westlichen Demokratiebegriffs offenbar. Beide Seiten, sowohl die katalonischen Separatisten um Puigdemont als auch die Zentralregierung unter Rajoy bemühen das demokratische Prinzip für sich für die Rechtmäßigkeit ihrer Absichten und als Rechtfertigung für das eigene Handeln. Diese Zwiespältigkeit beschreibt die FAZ vom 7.10.2017 in ihrem Beitrag: Erste Tränen in der Revolution des Lächelns. „Beide Politiker berufen sich auf die Demokratie: Puigdemont auf das Recht der Katalanen, über ihre eigenen Geschicke zu bestimmen, Rajoy auf die Verfassung des Zentralstaates, die auf demokratischem Wege zustande gekommen ist.“

Was aber ist angesichts dieser unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten des Demokratie-Begriffs dann noch als demokratisch zu verstehen? Diese Doppeldeutigkeit hat sich bisher verdeckt durch die jüngere Geschichte der westlichen Demokratien hingezogen. Nun, anhand des Katalonien-Konflikts ist sie in ihrer Beliebigkeit offensichtlich geworden. Denn je nach politischem Interesse betonten die herrschenden Kreise des Westens den Demokratie-Begriff unterschiedlich, nämlich entsprechend ihren Interessen und nicht nach allgemein gültigen Regeln.

Im Falle Jugoslawiens betonte man das demokratische Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das man den Katalanen aber aktuell verweigert. Unter dieser Überschrift förderte man den Zerfall Jugoslawiens und später dann auch noch die Abspaltung des Kosovo von Serbien. Das war im Interesse des Westens, um einerseits den Sozialismus in Europa nach dem Zerfall des Ostblocks noch weiter zurück zu drängen. Andererseits konnten die kleinen Staaten, die sich aus dem Zusammenbruch des jugoslawischen Staates ergeben hatten, nach und nach in den Markt der EU aufgenommen werden. Der Markt der EU und der Geltungsbereich des Euro wuchsen dadurch auf Kosten der Integrität, ja sogar der Existenz eines anderen Staates.

Ähnliches geschah beim Untergang der UdSSR. Auch hier wurde die Herauslösung einzelner Republiken und deren Anbindung an den Westen gefördert unter Bezug auf das Selbststimmungsrecht der Völker als einem Teil eben dieser Demokratie-Auslegung, der man sich damals nicht zuletzt auch zum eigenen Nutzen bediente.

Im eigenen Interessenbereich des Westens kommt aber im Konfliktfalle die andere Auslegung des Demokratie-Begriffes zur Anwendung. Hier muss der Staat als Rechts-Staat geschützt werden, der „auf demokratischem Wege zustande gekommen ist“. Hier also steht die Staatsräson, das Interesse am Bestand des Staates, über dem Interesse seiner Völker nach nationaler Selbständigkeit. Die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens würde im eigenen Herrschaftsbereich einer Entwicklung Vorschub leisten, die auch in anderen europäischen Staaten als Blaupause für separatistische Bewegungen angesehen werden könnte. Was in Jugoslawien und in der Sowjetunion begrüßt wurde, darf in Europa nicht sein.

Die FAZ als das Leitmedium der Kapitalismus-Befürworter und -Anhänger erkennt die politische Brisanz, in die der Westen zunehmend gerät durch diese unterschiedliche Auslegung und Anwendung des Demokratiebegriffs. Dem Vergleich der westlichen Vorgehensweise im Katalonien-Konflikt und den Konflikten um Jugoslawien und die UdSSR widmet sich ihr Kommentar unter dem Titel „Rechtsstaat Spanien“ vom 2.10.2017. Aber die Vordenker der Zeitung sind nicht in der Lage, den Widerspruch aufzulösen und die Kritik zu entkräften. In ihrer Hilflosigkeit verfallen sie in das Muster aller, die erkennen müssen, dass ihre herkömmlichen Erklärungen nicht mehr in der Lage sind, die Wirklichkeit verständlich zu machen. Sie retten sich aus der Erklärungsnot ins Dogma:

„Die Sowjetunion und Jugoslawien waren Diktaturen, Spanien dagegen ist ein demokratischer Rechtsstaat“. Wenn also die Wirklichkeit immer mehr in Widerspruch gerät zur eigenen Sicht der Wirklichkeit und das eigene Handeln immer mehr den selbst erklärten Prinzipien widerspricht, dann hilft immer noch unbewiesene Behauptung. Da muss nichts erklärt werden, da muss nur geglaubt werden. Und deshalb ist und bleibt die Erde eine Scheibe, ist der Westen demokratisch und ist demokratisch, was der Westen dazu erklärt. Basta!

Quelle: ruedigerraulsblog… vom 23. Oktober 2017

 

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