Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International

Der »Islamische Staat« entstand aus den zerstörten Hoffnungen des Arabischen Frühlings

Eingereicht on 20. Dezember 2015 – 19:03

Adam Hanieh. Nach den Anschlägen in Paris am 13. November brachten viele Linke den Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) mit der zunehmenden imperialistischen Gewalt im Nahen Osten in Verbindung: Krieg und Imperialismus einerseits sowie der wachsende dschihadistische Terrorismus andererseits würden sich wechselseitig verstärken. Diese Analyse greift zu kurz. Wer den IS als zwangsläufige Folge des Imperialismus beschreibt, lässt den Kontext außer Acht, der den rasanten Aufstieg dieser Organisation ermöglichte. Warum nahm die Antwort auf die westliche Aggression und die katastrophale Situation in Syrien, Irak und anderswo in der Region genau diese ideologische und politische Form an? Wie lässt sich die Unterstützung erklären, die der IS sowohl in der arabischen Welt als auch in Europa erfährt? Die Ursache für den Aufstieg des IS muss im Verlauf der arabischen Aufstände von 2011 und 2012 gesehen werden. Die Hoffnungen, die in diesen Aufständen zum Ausdruck kamen, wurden mit massiver Repression niedergeschlagen. Die Lücke füllten islamistische Gruppen, die in dem Maß erstarkten, in dem die Revolten und die demokratischen Hoffnungen, die sie verkörperten, zerbrachen.

Der Aufstieg des IS kann nicht einfach aus der Ideologie oder Religion heraus erklärt werden, wie dies viele westliche Kommentator_innen tun. Er hat soziale und politische Ursachen. Verschiedene Faktoren trugen zum Aufstieg des IS bei: die Ausbreitung konfessioneller Spaltungen, die verheerende Repression in Syrien und Irak sowie die Interessen regionaler und internationaler Mächte im Nahen Osten. Der IS lebte davon, dass die Hoffnungen von 2011 nicht erfüllt wurden und sich die Region stattdessen immer tiefer in diverse Krisen verstrickte, und zugleich verstärkte er die Hoffnungslosigkeit. Auch wenn die Art und Weise, wie der IS diese Krisen ideologisch rahmt, falsch ist, scheint sie für manche mit ihrer gelebten Erfahrung zusammenzupassen und dem Chaos und der Zerstörung auf der Welt Sinn zu geben.

Die Geister von 2011

Die Umbrüche, die 2010 und 2011 mit den Protesten in Tunesien und Ägypten begannen und in der Folge auf die ganze Region ausstrahlten, waren die bedeutendsten Revolten, die der Nahe Osten in den letzten fünf Jahrzehnten erlebt hat. Millionen Menschen beteiligten sich zum ersten Mal seit Generationen an massenhaften politischen Aktionen. Die repressiven, mit dem Westen verbündeten Regime wurden ernsthaft erschüttert.

Von Anfang an war klar, dass die in den Aufständen verhandelten Themen weit über den simplen Gegensatz von »Demokratie versus Diktatur« hinausgingen. Vielmehr waren die Gründe, die die Leute auf die Straße trieben, eng verknüpft mit den regionalen Ausformungen des Kapitalismus: jahrzehntelange neoliberale Umstrukturierungen, globale Krisen, autokratische Polizei- und Militärregimes, die lange von den westlichen Mächten gestützt wurden. Zwar artikulierten die Protestierenden nicht notwendigerweise diese Totalität als Quelle ihrer Wut. Doch es war klar, dass die Probleme in der arabischen Welt nicht einfach durch die Beseitigung einzelner Autokraten zu lösen sein würden.

Um eine tatsächliche Veränderung der politischen und ökonomischen Strukturen zu verhindern, schritten die Eliten rasch ein – unterstützt von den westlichen Mächten und ihren regionalen Verbündeten. Wirtschaftspolitisch änderte sich wenig: Westliche Geldgeber und internationale Finanzinstitutionen bestanden darauf, dass die neoliberalen Reformen in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Marokko und Jordanien fortgeführt wurden. Zudem wurden neue Gesetze erlassen, die Proteste, Streiks und politische Bewegungen untersagten.

Ägyptens Militärputsch im Juli 2013 markiert einen kritischen Punkt. Er stellte die alten staatlichen Strukturen wieder her und zeigte einmal mehr, wie sehr die Golfstaaten daran beteiligt waren, den revolutionären Prozess zurückzudrängen. Am meisten aber vertieften die Zerstörungen durch das Assad-Regime in Syrien – mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen – die Verzweiflung, die von der ganzen Region Besitz ergriff.

In den ersten Phasen der arabischen Aufstände mit ihren Massendemonstrationen, Streiks und kreativen Protesten waren der IS und seine Vorläufer irrelevant. Doch als sich die Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen zerschlugen, waren der IS und andere dschihadistische Gruppen ein Symptom dieser Umkehr, ein Ausdruck des augenscheinlichen Rückschritts im revolutionären Prozess und des zunehmenden Chaos.

Authentizität, Brutalität, Utopie

Islamischer Fundamentalismus wird oft definiert als der Wunsch, eine großartige Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, wie sie vermeintlich (gemäß der sunnitischen Darstellung) zu Zeiten der ersten Generationen islamischer Herrscher bestand. Der IS gibt vor, sich in seiner sozialen Praxis und den religiösen Gesetzen daran zu orientieren. Doch es wäre ein großer Fehler, den IS darauf zu reduzieren, dass er einen Zustand des siebten Jahrhunderts wiederherstellen wolle. Vielmehr verfolgt die Organisation den Aufbau eines eigenen Staates. Sie verwendet viel Energie darauf, finanzielle, rechtliche und administrative Strukturen in den Gebieten zu errichten, die sie kontrolliert. Obwohl die Grenzen dieser Gebiete permanent im Fluss sind und es unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was tatsächlich unter »Kontrolle« zu verstehen ist, verfügt der IS über eine beträchtliche territoriale Reichweite – Schätzungen zufolge herrscht er über zehn Millionen Menschen.

Als Teil dieses sehr modernistischen Projekts hat der Aufbau eines ausgeklügelten Medien- und Propagandanetzwerks höchste Priorität für die Organisation. Damit unterscheidet sie sich von anderen islamischen Regierungsformen wie in Afghanistan unter den Taliban in den 1990er und frühen 2000er Jahren, von wo uns nach wie vor Bilder von mit Fernsehgeräten geschmückten Bäumen oder »hingerichteten« Computern in Erinnerung sind.

Die hohe Priorität, die soziale Medien für den IS haben, zeigt, wie besessen von Performativität und Selbstrepräsentation die Organisation ist. Tatsächlich findet sich kaum eine andere politische oder religiöse Kraft in der Region, die die »Markenbildung« so ernst nimmt. Drei Topoi sind für die ideologische Botschaft des IS zentral. Das erste ist ein Element jeder fundamentalistischen Bewegung: religiöse Authentizität oder das Bedürfnis, fortwährend Treue zum religiösen Text zu behaupten und zu demonstrieren. Das zweite Kernelement der IS-Propaganda ist das wohlbekannte Mem der Brutalität: Enthauptungen und Exekutionen vor laufenden Kameras, mit denen es die Gruppe auf Fernseh- und Computerbildschirme in der ganzen Welt geschafft hat. Nichtsdestotrotz sind die Hauptinhalte der IS-Propaganda deutlich profaner als die Gewalt, für die die Gruppe so bekannt ist. Utopische Bilder, die zeigen sollen, welche Freuden das Leben im »Kalifat« mit sich bringt – darunter vielfältige ökonomische Aktivitäten, schöne Landschaften und ein stabiler Alltag – sind das dritte ideologische Kernelement der Gruppe.

Der IS inszeniert sich sehr bewusst als Insel der Stabilität und des Friedens in einer Region voller Chaos, Krieg und Aufruhr. Das Versprechen eines gewissen Grades an Sicherheit erklärt auch ein Stück weit die Anziehungskraft, die er auf manche Bevölkerungsschichten ausübt. Damit soll nicht gesagt werden, die IS-Herrschaft sei nicht brutal oder repressiv. Vielmehr sorgt die Schwammigkeit ihres utopischen Versprechens für etwas Hoffnung.

Saudi-Arabien, Syrien und der »Islamische Staat«

Die organisatorischen Wurzeln islamischer fundamentalistischer Bewegungen (inklusive der IS-Vorläufer) liegen in den 1960er und 1970er Jahren, als eine enge Allianz zwischen den USA und den Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabien, bestand. Die Unterstützung des Islamismus erschien den Regierenden dieser Länder als effektives Gegengewicht zu den erstarkenden linken und nationalistischen Bewegungen in der Region.

Aufgrund dieser langjährigen Instrumentalisierung des islamischen Fundamentalismus sehen manche Beobachter_innen im IS ein bloßes Werkzeug der Golfstaaten. Auf den ersten Blick mag diese Behauptung Sinn ergeben, denn es bestehen durchaus große ideologische Gemeinsamkeiten zwischen dem Saudi-Regime und dem »Islamischen Staat«. Dennoch gibt es kaum überzeugende Beweise dafür, dass der IS durch Saudi-Arabien oder andere Golfstaaten direkt finanziert oder bewaffnet würde. Vielmehr gelangten Waffen, die Saudi-Arabien und Katar an syrische Gruppen geliefert hatten, vermutlich durch Überläufer oder Gefangene in die Hände des IS.

Die zunehmende Stärke des IS hängt eng mit der harten Repression zusammen, mit der die Assad-Regierung dem syrischen Aufstand begegnete. Einige Monate nach Beginn des Aufstands entließ Assad zudem Hunderte Gefängnisinsassen (unter ihnen erfahrene Dschihadisten), von denen viele Anführer und Kämpfer in islamisch-fundamentalistischen Gruppen wurden. Ehemalige hochrangige syrische Geheimdienstagenten beschreiben dies als Versuch des Regimes, konfessionelle Zerwürfnisse anzuheizen und den Aufstand als islamistisch geprägt darzustellen. (Siehe ak 596)

Es überrascht nicht, dass sich manche der syrischen Demonstrant_innen angesichts der Fassbomben, Panzer und wahllosen Luftangriffe des Assad-Militärs den gut ausgebildeten, kampferprobten dschihadistischen Gruppen zuwandten. Zu diesen Gruppen gehörten auch die al-Nusra-Front und die Vorläufer des IS. Anders als allgemein angenommen, vermeidet der IS die direkte Konfrontation mit dem Assad-Regime weitgehend. Stattdessen fokussiert die Organisation vor allem auf die territoriale Expansion. Sie profitiert davon, dass sie die Schmuggelrouten und Grenzübergänge zwischen Irak und Syrien kontrolliert. Die militärische Beratung durch ehemalige Generäle der irakischen Baath-Partei war ein Schlüssel für ihren Erfolg. Auch deshalb konzentriert sie sich darauf, Nachschubrouten und strategisch wichtige Verbindungswege zu besetzen, Ölfelder zu sichern und zentrale Infrastrukturprojekte (vor allem Wasser- und Stromversorgungseinrichtungen) in ihre Gewalt zu bringen. Diese Strategie hat nicht nur den unfassbaren Reichtum des IS begründet. Sie hat auch den Rest des syrischen Territoriums (ob von der Regierung oder den Rebellen kontrolliert) vom IS abhängig gemacht.

Nachdem Krieg und Besatzung einen solch fruchtbaren Boden für das Erstarken des IS geliefert haben, würde ein verstärktes militärisches Eingreifen des Westens die Situation in der Region offensichtlich nur verschlimmern. In Übereinstimmung mit der »Kulturkampfstrategie« zielten die jüngsten IS-Anschläge sogar explizit auf dieses Ergebnis ab: Ausweitung der westlichen Militärinterventionen in der Region, mehr Krise, mehr Chaos.

Unterdessen haben die russischen Luftangriffe – die am Boden unterstützt werden durch die Hisbollah, iranische Truppen, irakisch-schiitische Milizen sowie die syrische Armee – vor allem zum Ziel, Assads Position zu verbessern. (Siehe ak 609) In diesem Kontext dient die Präsenz des IS dazu, Assads Behauptung zu stützen, sein Regime »bekämpfe den Terrorismus«. Entsprechend haben viele westliche Staaten mittlerweile eine Kehrtwende vollzogen und unterstützen die Assad-Regierung als vermeintlich notwendiges Übel.

Angesichts all dessen gibt es keine einfachen Antworten für die Linke. Ja, wir brauchen alternative, radikale Visionen, die sich auf demokratische Forderungen, soziale Gerechtigkeit sowie eine Ablehnung jeglicher konfessionellen Spaltung stützen. Dazu ist es aber auch notwendig, die bestehenden Kräfteverhältnisse nüchtern zu analysieren und Rechenschaft darüber abzulegen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist. Nichts an der derzeitigen Situation musste unvermeidlich so kommen. Das »Ökosystem«, in dem der IS gedeihen konnte, entstand, weil die Aufstände von 2011 niedergeschlagen wurden und damit scheiterten, die arabischen Autokratien grundlegend zu verändern.

So trostlos die Situation auch ist, gibt es dennoch Grund zur Hoffnung. Lokale Kräfte – insbesondere kurdische Bewegungen sowie syrische Oppositionskräfte – bekämpfen den IS unter ausgesprochen schwierigen Bedingungen. Mutige soziale und politische Bewegungen in Syrien, Irak, Libanon, Ägypten und anderswo fordern weiterhin die konfessionelle Logik heraus und zeigen, dass der Kampf für eine progressive Alternative weitergeht. Zudem mag der IS zwar ein utopisches Versprechen von Stabilität und Wohlstand formulieren, mit der Realität vor Ort hat dies jedoch nichts zu tun. Wir können uns sicher sein, dass der IS seine eigenen internen Revolten erleben wird, wie dies in der Vergangenheit auch bei ähnlichen Beispielen »islamischer Staaten« geschehen ist.

Quelle: www.akweb.de vom 15. Dezember 2015

Adam Hanieh lehrt an der School of Oriental and African Studies in London. Er ist Autor des Buchs »Lineages of Revolt: Issues of Contemporary Capitalism in the Middle East«.

Die Langfassung dieses Texts erschien am 3.12.2015 im Jacobin Magazine (www.jacobinmag.com). Übersetzung: Sarah Lempp

 

Tags: , ,