Revolution in Chile – Das Ende des neoliberalen Märchens!
Robert Kohl Parra. Seitdem der sozialistische Präsident Salvador Allende 1973 durch einen Militärputsch gestürzt wurde und die Militärs unter General Augusto Pinochet die Macht an sich gerissen haben, ist Chile ein Musterland desNeoliberalismus. Mit Hilfe von Milton Friedman und seinen Chicago Boys reformierte Chile sein ökonomisches System. Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge, Nahverkehr, Straßen, Wälder, Strände, Kupfer, Gas und Wasser wurden privatisiert. Das Ergebnis sehen wir heute.
Das Land hat das schlechteste Bildungssystem der OSZE und eines der Teuersten der ganzen Welt, selbst der Besuch der Mittelstufe kostet in jedem Fall einen Betrag. Studenten protestieren seit Anfang des Jahrtausends, denn ein Universitätsabschluss verschuldet dich meistens bis in den Tod. Der Chilene musste vor den Protesten im Normalfall 45 Stunden arbeiten und steht zusammen mit den Überstunden in den Top 10 der Länder mit der meisten Arbeitszeit weltweit. Der Mindestlohn liegt bei 400 US-Dollar bei gleichzeitigen Lebenshaltungskosten eines westeuropäischen Staates. Das Rentensystem AFP wirft durchschnittlich etwa 200 US-Dollar an Rentner ab. Ob im Nahverkehr, bei der Wasserversorgung oder bei der Gesundheit, überall verdient die Elite, die seit dem 19. Jahrhundert etwa 20 Familien umfasst, mit.
Vor einigen Tagen kündigte nun die rechte Regierung von Sebastián Pinera eine Erhöhung des Preises für die U-Bahn und der Buslinien der Stadt Santiago de Chile von 800 auf 830 Pesos an. Begründet wurde diese Erhöhung mit den erhöhten Preisen für Benzin und Diesel. Eine Fars, der Angriff auf die saudischen Ölförderungsanlagen ließ die Preise zeitweise steigen, doch sie fielen ebenso schnell wieder. Für einen durchschnittlichen Chilenen, der für den Mindestlohn oder etwas mehr arbeiten muss, ist die Erhöhung eine wahre Belastung, denn ein Monatsticket gibt es nicht.
Doch die prekäre ökonomische Situation der Chilenen ist nicht der einzige Auslöser des Protestes. Die Arroganz und Ignoranz der politischen Führer gegenüber dem Leben des durchschnittlichen Chilenen ist sicherlich auch ein Auslöser. Das gesamte Jahr über haben Minister und andere hochrangige Politiker die Bevölkerung durch verschiedenste Aussagen verhöhnt. Zum Beispiel wurde der Preis für die Metro nur in der Hauptverkehrszeit ab 8:00 Uhr morgens erhöht, also sah sich der Verkehrsminister genötigt die Menschen dazu aufzurufen eben früher aufzustehen. Auf die 3% Erhöhung des Metro-Preises sagte ein weiterer Minister die Menschen sollen sich doch lieber Blumen kaufen, weil deren Preis ja um 3,6% im letzten Monat gefallen sind. Das letzte Beispiel möchte ich mit der Aussage eines Staatssekretärs beenden, der auf den Unmut der Chilenen wegen der langen Wartezeiten in den Ärztezentren (teilweise muss man um 4:00 Uhr morgen auftauchen um gegen Mittag behandelt zu werden) antwortete: „Die Patienten möchten früher in die Ärztezentren gehen, weil einige dort nicht nur zum Arzt wollen, sondern es auch ein soziales Element besitzt, soziales Zusammenkommen.“ – Ich komme darauf zurück.
Nach der Ankündigung der Regierung machte sich Unmut breit. Die linke Opposition von Frente Amplio, kommunistische Partei und Sozialisten protestierte und in den sozialen Netzwerken kursierten Bilder und Videos gegen die Ankündigung. Die Kritiker mahnten an, dass dies für viele Menschen ein sozialer Einschnitt war und manche kritisierten sogar das neoliberale System, an dem die Privaten Betreiber verdienen. Es sah aber so aus als ob es nur eine weitere Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Menschen sei, die ohne Folgen blieb.
Den ersten Schritt des Protestes gingen Schüler der Mittelstufe, die sich über die sozialen Netzwerke organisierten (hauptsächlich Instagram und Facebook) und die wegen der erhöhten Preise massenhaft die Absperrungen zur Metro stürmten und so die Fahrpreise nicht bezahlten. Aus einem Video, das die Schüler zeigte, wurde eine Bewegung, die sich in den ersten Tagen nach der Ankündigung, an verschiedenen Stationen traf, um die Fahrpreise zu umgehen. Die Regierung reagierte auf die Tausenden Menschen mit der Schließung ganzer Stationen, stark bewaffneter Polizei, die erbarmungslos vorging und später sogar mit der Schließung der Metro. In den ärmeren Stadtteilen wie dem Zentrum und Puente Alto machten Menschen durch das Zerstören der Ticketautomaten und sogar das Anzünden der Züge ihren Unmut Raum. Die Regierung reagierte mit weiterer Repression. Mit jedem Tag wuchsen die Proteste und bald standen Einhunderttausend in Santiago auf der Straße, nicht nur gegen die Fahrpreiserhöhung, sondern auch gegen massive Polizeigewalt und gegen die ganze Regierung.
Bald darauf schickte Piñera gegen die in den meisten Fällen friedlichen Demonstranten zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur das Militär auf die Straße indem er den Ausnahmezustand ausrief und sagte bei seiner Ansprache: „Wir befinden uns im Krieg.“ Der General, der für verschiedene Viertel eine Ausgangssperre verhängte, ist nebenbei wie viele hohe Posten im Staat durch Pinochet-Kader besetzt, hier der Sohn eines hohen Tiers im ehemaligen Geheimdienst. Mittlerweile gibt es die ersten Toten Demonstranten, Dutzende Verletzte und mehrere Hundert Festgenommene und Verschwundene Personen, darunter Journalisten von TeleSur und ehemalige Anführer der Studentenbewegung. Die Toten Demonstranten, die Militärs und die Repression wecken bei vielen Menschen die Erinnerung an die Diktatur.
Der Protest organisiert sich über die sozialen Netzwerke. Über WhatsApp kursieren Videos der Polizeigewalt, über Instagram Protestaufrufe und über Facebook Memes, die sich über die Regierung lustig machen. Währenddessen schweigen jedoch die meisten Medien in Chile zur Polizeigewalt und inszenieren stattdessen die Demonstranten als schuldige der Eskalation. Vor dem Fernsehsender „Mega“ demonstrierten einige Tausend Menschen am 22.10. sogar gegen dessen einseitige Berichterstattung.
Zur selben Zeit als die Regierung das Militär auf die Straße schickt, breiten sich die Proteste landesweit aus. Millionen Menschen beteiligen sich am Streik, den die Hafen-und Minenarbeiter ausriefen, und die Forderungen nach einem Rücktritt des Präsidenten, einem Ende des Neoliberalismus in Chile, einer neue Verfassung (die alte stammt noch aus Zeiten der Militärdiktatur) und einem Ende der Unterdrückung werden immer lauter. Die Regierung hat die Erhöhung der Fahrpreise längst zurückgenommen, aber der Protest flacht nicht ab. Als TeleSur einen Demonstranten fragte: „Wie habt ihr diese Demo organisiert?“, antwortete er: „Das haben wir während der Wartezeit beim Arzt organisiert.“
Nicht nur breite Teile der Bevölkerung streiken und demonstrieren, auch der größte Teil der chilenischen Musiker, Schauspieler und sonstiger Künstler unterstützen die Proteste durch kostenlose Konzerte, verbreiten der Aufrufen durch die sozialen Medien und durch Aktionen.
Am 23.10. hat die Regierung eine soziale Agenda vorgestellt, die weder sehr viel verändert noch wie erhofft den Protest stoppt. Exemplarisch kann man das Beispiel der Rente sehen. Die Reform sieht vor dem privaten Rentensystem mehr staatliche Zuschüsse zu geben, das erhöht zwar minimal die Rente für die Chilenen, das System ändert die Reform aber nicht. Der Präsident hat sogar seine Rhetorik vollkommen geändert und setzt nun aus Selbstkritik und Entschuldigungen, doch es gingen in ganz Chile so viele Menschen wie noch nie auf die Straße. Mehr als eine Million Menschen allein in Santiago am 25.10.
Auch der vorgenommene Kabinettwechsel, bei dem der Präsident sogar seinen Cousin und unbeliebtesten Minister Chadwick entließ, hat die Gemüter der Chilenen nicht beruhigt. 30 Jahre des Verrats der Politik hat die Menschen nicht mehr an Versprechungen glauben lassen. Mit dem Eintreffen der UN-Beobachter sollte die Normalität zurückkehren und auch die Militärs von der Straße verschwinden, aber die Demo vor dem Präsidentenpalast wurde gestern brutal niedergeschlagen. So auch am Sonntag der Marsch auf den Kongress in Valparaiso.
Die Bewegung nimmt an Fahrt auf und es gibt keinen Grund zu glauben, dass sich das ändern wird. Am 30.10. wurde ein weiterer Generalstreik angekündigt, die Bewegung gibt nun die Parole heraus: „Es ist noch nichts gewonnen!“ oder „Wenn wir jetzt aufgeben sind die Opfer umsonst.“ – Etwa 80 Tote, 200 Verschwundene, 1000 Verletzte, 3000 Festgenommene zählt das INDH. Auch die Mapuche (Indigene aus dem Süden Chiles) haben nun gemeinsam den Kampf für ein besseres Chile angekündigt.
Ohne den Rücktritt des Präsidenten, ohne eine neue Verfassung, ohne das Ende des neoliberalen Systems und ohne ein Ende der Repression wird das chilenische Volk nicht aufhören zu kämpfen. Die chilenische Revolution hat erst angefangen.
Quelle: diefreiheitsliebe.de… vom 30. Oktober 2019
Tags: Arbeiterbewegung, Chile, Faschismus, Neoliberalismus, Neue Rechte, Repression, Widerstand
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