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Zu aktuellen Interpretationen der Linksregierungen in Lateinamerika

Eingereicht on 4. März 2021 – 10:52

Helge Buttkereit. Von der Krise der Linksregierungen ist in den vergangenen Jahren viel zu hören. Der Putsch gegen die Regierung von Evo Morales war 2019 der vorläufige Höhepunkt, der durch die Wahl von Luis Arce vorerst überwunden scheint. Die Herausforderungen bleiben. Das gilt insbesondere für Venezuela, dem wichtigsten und wohl auch entscheidenden Land unter linker Regierung. Hier stehen sich die politischen Lager weiterhin unversöhnlich gegenüber. Dabei verschärfen sich neben der politischen auch die soziale und die wirtschaftliche Krise. In Ecuador wiederum sind viele der Errungenschaften der „Bürgerrevolution“ unter der Führung von Rafael Correa rückgängig gemacht worden. Sie war, wie alle anderen Veränderungsprozesse, in sich widersprüchlich und wie es nach der Wahl weitergeht, ist offen. Kurzum ist der linken Wende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts jetzt zu Beginn des dritten eine Ernüchterung gewichen.

Die Krise hat viele Gründe. Dabei treten innere wie äußere Widersprüche vermehrt hervor. Der Verfall der Rohstoffpreise ist ebenso ein Grund für die Probleme wie Fehler der Regierungen, ihrer politischen Organisationen und der Organisierung. Und schließlich gilt es auch, einen Blick auf die Basis der Bewegung selbst zu werfen. Was wollte sie, was will sie und wer steht warum immer noch hinter den Regierungen?

Einige der aufgeworfenen Fragen werden auch in zwei aktuellen Büchern behandelt, die sich mit der Situation in Lateinamerika befassen. An beiden Büchern übe ich im Folgenden sehr grundsätzliche Kritik. Sie eignen sich aber in jedem Fall, um die eigene Position und Kritik zu schärfen.

Die Rede ist von Klaus Meschkats jüngst erschienenen „Flugschrift“ zu den „Krisen progressiver Regime“ sowie dem bereits 2016 auf Spanisch, 2019 dann auch auf deutsch publizierten Buch „Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern?“. Decio Machado und Raúl Zibechi ziehen darin eine „Bilanz“ der Linksregierungen.1

Das Verhältnis von Partei und Staat

Klaus Meschkat vertritt die These, dass das Erbe des Marxismus-Leninismus, der lange Arm der Komintern bei der lateinamerikanischen Linken sichtbar werde. Insbesondere in der Partei des Chavismus, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) mit ihrem Avantgarde-Verständnis und dem Umgang mit parteiinterner Opposition (Meschkat, S. 14), sowie in den Schriften von Álvaro García Linera wirke dieses Erbe. Machado und Zibechi ihrerseits analysieren unter anderem hehre Ziele der Linksregierungen und ihr Scheitern beispielsweise in Bolivien und Brasilien. Darüber hinaus sind sie davon überzeugt, dass die Welt nicht verändert werden kann, wenn eine Bewegung die Macht im Staat übernimmt. Denn, so argumentieren sie, durch die Verbindung von Partei und Staat entstehe zwangsläufig eine neue herrschende Klasse, die die Gesellschaft unterwerfe (Machadi/Zibechi, S. 83). An dieser Stelle treffen sich ihre und Meschkats Überlegungen.

Machado und Zibechi argumentieren, dass Veränderungen im Sinne der unteren Klassen nicht über die Übernahme der Staatsmacht erreicht werden könnten. „Die repräsentative Demokratie ist geschaffen worden, um die Interessen großer Vermögensbesitzer zu schützen und um die Zentralität des Staates gegenüber der Gesellschaft zu garantieren.“ (S. 16) Der Titel der deutschen Ausgabe des Buches von Machadi und Zibechi ist nicht von ungefähr an John Holloways „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“2 angelehnt, sie beziehen sich an vielen Stellen dezidiert auf die Zapatisten im Süden Mexikos, die auch wichtige Inspirationsquelle Holloways sind. Schließlich stellen die beiden Autoren die These auf, dass die Vorstellung, „eine ganze Gesellschaft zu regieren und einen Wandel durchzusetzen, der alle einschließt, [möglicherweise] eine totalitäre Haltung voraus[setzt].“ Millionen Menschen regieren zu wollen, sei ein Widerspruch zum Geist der Emanzipation (Machadi/Zibechi, S. 87).

Konsequenterweise gehen die beiden Autoren davon aus, dass der Kapitalismus nicht überwunden werden kann. Er müsse zusammenbrechen (S. 86). Volksmacht ist für sie von Gewalt geprägt: „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen und stützt sich auf das organisierte und bewaffnete Volk.“ (S. 21) Wenn in Venezuela versucht werde, eine Gegenmacht auf anderem Wege zu institutionalisieren, ist dies also nach ihrer Vorstellung nicht möglich. Da sie gleichzeitig die Machtübernahme ablehnen, eine organisierte wirkliche Selbstregierung des ganzen Volkes sich auf Basis des Gesagten nicht vorstellen können, bleibt letztlich die Kapitulation vor der Übermacht der Verhältnisse.

Wenn auch vieles kritisch gegen die tradierten marxistisch-leninistischen Revolutionsvorstellungen eingewendet werden kann, eine Kapitulation kommt aus ihrer Sicht nicht in Frage. Vielmehr gehen sie von der Übernahme der Macht in Form eines Putsches aus. Nach der Revolution, die für die Marxisten-Leninisten nicht ohne Gewalt zu denken ist, übernimmt die Avantgardepartei die Macht und setzt die notwendigen Veränderungen zur Überwindung des Kapitalismus durch – notfalls auch mit Gewalt und Unterdrückung. Das Modell für diese Form der Politik ist die Sowjetunion. Dort war die Übernahme der Staatsmacht und die Verstaatlichung der Produktionsmittel unerlässliche Basis für die Herrschaft der Bolschewiki.

Dabei schufen sie allerdings keine wirklich neue Gesellschaft, in der nach und nach der Staat absterben sollte, wie Lenin es 1917 noch in „Staat und Revolution“ beschrieben hatte. Vielmehr können wir heute auf Basis der vielfältigen Analysen und einer fundamentalen Kritik der Oktoberrevolution und ihrer Folgen davon sprechen, dass nach der Revolution die Despotie wiederkehrte, die nur scheinbar überwunden war. Diese hatte mit einer „freien Assoziation der Produzenten“ (Marx) nichts zu tun. Dabei ist die ökonomische Grundlage dieser Tradition die „asiatische Produktionsweise“, mit der Karl Marx eine Produktionsweise bestimmt hat, die vor der antiken, dann feudalen und schließlich kapitalistischen Produktionsweise existierte. Anderswo bestand sie parallel neben diesen fort. Unter anderem in Russland. Grundstruktur dieser Produktionsweise ist die Existenz von Dorfgemeinden, die weitgehend autark nebeneinander existieren und auf dem Gemeinbesitz an Boden beruhen und einem despotischen Staat, der die Mehrarbeit abschöpft.3

Es ist hier nicht der Platz, diese Kritik des Realsozialismus‘ weiter auszuführen. Sie steht in der Tradition des westlichen Marxismus und von Analysen wie sie unter anderem Rudi Dutschke und Günter Berkhahn geleistet haben.4 Dabei strahlte der despotische Charakter der Organisationsform des Staatssozialismus weit über die Sowjetunion aus, wurde er doch über die Kommunistische Internationale in die Welt hinein verbreitet. Das „Vaterland der Werktätigen“ war das Modell für die internationale „kommunistischen“ (in Wirklichkeit bolschewistischen) Parteien und sein langer Arm wirkte auch nach Lateinamerika. Dies beschreibt Klaus Meschkat, ohne dabei jedoch seine Kritik am Marxismus-Leninismus zu konkretisieren. Dadurch bleibt seine Analyse der Entwicklung in Lateinamerika blass und dringt nicht zum Kern des Problems vor.

Chavismus als Wiederkehr des Bolschewismus?

Meschkat nachvollzieht in seiner knapp 100-seitigen Flugschrift die Wirkung der bolschewistischen Theorie und Praxis für Lateinamerika, wo wie überall auf der Welt in der „kommunistischen Bewegung“ die Sowjetunion als die Zentrale der Weltrevolution verstanden wurde (Meschkat, S. 44) – übrigens auch von Dissidenten. Eigenständige politische Bewegungen, die sich auf die konkrete eigene Geschichte bezogen, wurden immer wieder unterdrückt.

Erst mit der kubanischen Revolution entstand ein neuer Fixpunkt. Das Land näherte sich zwar in den 1970er Jahren auch aus ökonomischen Gründen immer mehr dem Ostblock an, behielt aber zumindest in Teilen eine eigenständige Linie bei (Meschkat, S. 47). Bis heute beziehen sich die Linksregierungen und ihre Vertreter auf Kuba – in Meschkats Augen ist dessen uneingeschränkte Verteidigung (wie auch früher der Sowjetunion und heute Venezuelas) eines der Probleme der Linken in Lateinamerika (Meschkat, S. 74).

In seiner knappen Darstellung der Geschichte der bolivarischen Revolution legt Meschkat schließlich den Fokus auf vermeidliche Parallelen zu den konstatierten Fehlentwicklungen in der Sowjetunion. Dass Hugo Chávez beispielsweise die erste Rede, in der er den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ offensiv vertrat – 2005 beim Weltsozialforum in Porto Allegre – Konsequenzen aus dem Scheitern des Realsozialismus zog und diese immer wieder thematisierte, kommt nicht zur Sprache. Dass sein Versuch, parallele Strukturen zur Staatsmacht zu schaffen, dabei die Menschen zur Selbstorganisation zu ermächtigen und einen „kommunalen Staat“ zu schaffen, als konkrete Alternativen zur despotischen Praxis des Ostblocks verstanden werden können, wird bei Meschkat ebenfalls nicht in den größeren Zusammenhang gestellt.

Dabei bezieht er sich sehr wohl auf die kommunalen Räte in Venezuela, die Consejos Communales. Er beschreibt sie als parallele Staatlichkeit, die heute nicht mehr sind als „Empfänger von staatlichen Subsidien für Projekte, die sie im lokalen Bereich demokratisch verwalten dürfen“ (Meschkat, S. 63). Dieser Bewertung kann ich folgen. Keinesfalls jedoch der von Machado und Zibechi, die in der kommunalen Organisation die neoliberalen Maximen der Weltbank sehen, die Dezentralisierung fördert und fordert (Machado/Zibechi, S. 21).

Denn was bei oberflächlicher Betrachtung gleich aussehen mag, ist noch lange nicht gleich. Übrigens ist die Demokratie, die es in Venezuela auf allen Ebenen immer noch gibt, ein weiterer Beleg für den Unterschied zum Marxismus-Leninismus in seiner konkreten historischen Gestalt. Dabei sollen die mannigfaltigen Probleme die durch die Praxis sowohl von Regierung als auch der radikalen Opposition stetig zutage treten, nicht unter den Tisch gekehrt werden.

Ein kurzer Blick nach Bolivien. Die Verteidigung der Ausbeutung der Gasreserven durch Álvaro García Linera kann man kritisieren. Seine Begründung, dass der Extraktivismus nötig sei, um ihn zu überwinden, wäre mit Blick auf die Stellung Boliviens auf dem Weltmarkt zu diskutieren. Darin eine Parallele zu Stalins Staatsdoktrin in den 1930er Jahren zu sehen (Meschkat, S. 76), verkennt an dieser Stelle den mörderischen Charakter des Stalinismus. Denn damals wollte Stalin die Gewalt des Staates auf die Spitze treiben, um diesen angeblich zu überwinden. Das Wesen des Stalinismus als historisch konkrete Form der Staatssklaverei trat in den Moskauer Prozessen und der massenhaften Ermordung von (vermeintlichen) Oppositionellen am deutlichsten zu Tage. Mit dem heutigen Bolivien hat das bei aller Kritik an der ehemaligen Regierung von Morales/García Linera nicht viel zu tun.

Politik und Öl

Fasst man Meschkats Buch zusammen, so greift er vieles auf, das an der Politik der Linksregierung zu kritisieren ist. Seine Begründungen für die Kritikpunkte in Form von Analogieschlüssen und seine Fixierung auf den vorgeblichen Marximus-Leninismus in Lateinamerika ermöglichen aber gerade keine „Wiedereroberung der eigenen Geschichte“, die für eine „politische Orientierung in der Gegenwart“ unentbehrlich wäre (Meschkat, S. 98). Um dies zu leisten wäre es nötig, auf die Geschichte der Länder Lateinamerikas zu schauen und auf dieser Basis zu erklären, warum bei den Entwicklungen gewisse Analogien zum Realsozialismus bestehen.

Das Hauptproblem der venezolanischen Gesellschaft ist heute wie mindestens in den vergangenen 50 Jahren die Abhängigkeit von der Ölrente.5 Der Großteil der Staatseinnahmen Venezuelas stammt aus dem Verkauf des Öls. Durch die Abhängigkeit vom Öl ist eine Rentengesellschaft (Stefan Peters)6 entstanden, die der Chavismus geerbt hat. Darauf weisen, wenngleich eher am Rande, Machado und Zibechi hin (Machado/Zibechi, S. 81). Nur durch das Öl konnte Chávez seine eigenständige Politik machen, sich zum einen von der Umklammerung der internationalen Organisationen des Neoliberalismus wie dem IWF und der Weltbank befreien und andere Staaten unterstützen. Nur durch das Öl entstand ein neues von den USA unabhängiges Staatenbündnis in Lateinamerika. Und nur durch die Umverteilung der Öleinnahmen war es möglich, dass in Venezuela die bis dahin Ausgestoßenen, die Menschen am Rande der Gesellschaft, Kraft und Selbstbewusstsein schöpfen konnten und lernten, sich zumindest in Teilen selbst zu organisieren. Die Selbstorganisation endete aber immer beim Öl.

Die Ölwirtschaft musste in der Hand des Staates bleiben, weil die politische Ökonomie des Landes auf der Ausbeutung der Ölrente beruht. Die ganze Organisation des Staates ist auf das Öl ausgerichtet. Und das politische Bewusstsein der Venezolaner geht von der Ölrente aus, vom eigenen Anrecht an einem Teil dieser Ölrente. Die „Verteilungsmentalität“ (Dorothea Melcher)7 der Venezolaner, die sich aus der Erfahrung des Ölreichtums des Landes ergibt, hat sich nicht grundlegend gewandelt. Wenn Raul Zelik im Nachwort zum Buch von Machado und Zibechi schreibt (S. 215), dass die Revolten in Lateinamerika auf die soziale und politische Teilhabe abzielten, dann drückt er dies mit anderen Worten aus.

Das Bewusstsein der Venezolaner hat sich auf Basis der Rentenökonomie gebildet. Dieses gilt es genauer zu analysieren und die politischen wie organisatorischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Chávez und viele aus seiner Bewegung waren sich dessen bewusst, es gab verschiedene Programme zur Selbstorganisation gerade auch im ökonomischen Sektor. Sie scheiterten immer wieder, oft genug am „Rentenbewusstsein“, an der „Verteilungsmentalität“. Zweifellos gibt es auch andere Probleme, viele stammen auch von außerhalb Venezuelas, aber die internen Gründe dürfen beim Blick auf den Imperialismus nicht kleingeredet werden.

Natürlich gab und gibt es massive Versuche sowohl von innen, aber vor allem von außen, die Regierung zu stürzen. In der derzeitigen Krise ist das Land vor allem durch die Blockade der USA in die Armut gestürzt worden. Aber ohne einen inneren Wandel, ohne eine Transformation der Rentengesellschaft in eine produktive Gesellschaft, die nur die Bürger des Landes als Subjekte der Revolution umsetzen können, wird es keine nachhaltigen Veränderungen geben. Und das weder in Venezuela noch anderswo.

Viele Aufgaben und offene Fragen

Eine solche Transformation braucht dann aber auch eine politische Kraft, die sie vorantreibt und die die Dialektik von Selbstveränderung und Veränderung der Umstände verinnerlicht hat. Dass dies schwierig ist, zeigt gerade das Beispiel der PSUV. Statt zu einer Organisatorin der Transformation des Bewusstsein der Venezolaner – einer Organisation politischer und ökonomischer Bildung – und damit auch zu einer wirklichen politischen Kraft der Veränderung (also zu einer revolutionären Partei) ist die PSUV zur Staatspartei geworden. Sie kontrolliert letztlich den Zugang zu den zentral verwalteten Öleinnahmen. Das liegt weder am Erbe des Staatssozialismus (auch wenn er fundierter hätte aufgearbeitet werden müssen) noch ist dies quasi ein Naturgesetz, wie es bei Machado und Zibechi erscheint (S. 83). Wer so argumentiert, macht sich nicht die Mühe, genauer hinzusehen. Auf der anderen Seite hat er einfache Bezugspunkte und Erklärungsmuster, mit denen er die gegenwärtige Krise relativ schnell erklärt hat und, wie im Fall von Machado und Zibechi, das Problem der revolutionären Transformation einer Gesellschaft auch gleich ganz ad acta legt (s.o.).

Um aus der Geschichte zu lernen, um die aktuelle Entwicklung wirklich zu verstehen und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, ist ein genaueres Hinsehen notwendig, zu dem ich an dieser Stelle nur Hinweise mit Blick auf die blinden Flecken der genannten Bücher geben konnte. Es gilt eben, die konkreten Umstände, die Gegenwart wie die Geschichte Venezuelas und Lateinamerikas zu verstehen und die aktuelle Gesellschaft in diesem Zusammenhang zu erklären. Dabei ist die Rentenökonomie die eine Seite, die auch in den historischen Zusammenhang zu stellen ist. Generell ist es wichtig, die Geschichte des Landes und ihr untergründiges Fortwirken zu verstehen. Dabei auf den Caudillismo (Machado/Zibechi, S. 13) bzw. Hyperpräsidentialismus (Meschkat, S. 83ff.) zu verweisen, für den Chávez aber auch Evo Morales oder Rafael Correa Beispiele wären, greift so lange zu kurz, wie diese Phänomene nicht aus der konkreten Geschichte heraus erklärt werden.

Wenn die Analysen der Krise sowohl von Meschkat als auch von Machado und Zibechi in meinen Augen zu kurz greifen, so kann ich an dieser Stelle kaum mehr als dies zum einen konstatieren und zum anderen ein paar Stichworte für eine tiefer gehende Analyse nennen. Denn dass die Linksregierungen nach ihren Erfolgen vor allem im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im zweiten Jahrzehnt in eine existenziellen Krise geraten sind, ist offensichtlich.

Dabei gibt es neben den hier thematisierten Erklärungsmustern auch solche, die auf die verheerenden Auswirkungen der US-Blockade vor allem gegen Venezuela verweisen.8 Andere damit verwandte Analysen verweisen auf die Stellung der Rohstoffökonomie im Weltmarkt und darauf, dass die Verteilung der Ölrente an die ärmeren Bevölkerungsgruppen nicht vorgesehen ist und schon deshalb Widerstand hervorruft.9 All diese Analysen zeigen in meinen Augen einen jeweils spezifischen (und verschieden großen) Ausschnitt der Realität. Sie überschneiden sich an einigen Stellen und gehen einmal mehr einmal weniger auf die Geschichte ein. Welche Aspekte einer Analyse fehlen aber, um die Misere umfassend zu verstehen und darauf aufbauend nach Auswegen zu suchen?

Mir stellt sich unter anderem die Frage nach dem Fortwirken der Geschichte, genauer der traditionellen Produktionsweise.10 Sie ist strukturell vergleichbar mit der bereits erwähnten asiatischen Produktionsweise, so dass eine historisch-kritische Analyse der Geschichte bis hin zur Krise der Linksregierungen durchaus die Frage behandeln könnte, ob die von Meschkat als bloße Analogien behandelten Parallelen der Entwicklung in der Sowjetunion und in Lateinamerika eine Basis in einer ähnlichen Produktionsgeschichte und damit auch in einer ähnlichen Klassensituation hat. Dies wäre vorerst vor allem ein Gedanke, den es weiter zu verfolgen gilt.11 Auch müssten die zahlreichen Überlegungen zur kolonialen Überformung der altamerikanischen Tradition mitbedacht werden, ebenso wie die daraus entstandenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Herrschafts- und Klassenstrukturen.12

Die Auswege aus der Krise, die in den beiden hier besprochenen Büchern im Ansatz genannt werden, sind schon deshalb keine, weil ihnen keine radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse zugrunde liegt. Denn für eine radikale Kritik braucht es ein wirkliches Verstehen, ein Durchdringen von Geschichte und Gegenwart, die auf den konkreten Begriff gebracht werden muss, wofür Theorien wie die marxistische zweifellos helfen können.13 Dies ist natürlich nicht mal eben so gemacht. Es ist ein langer Prozess. Ebenso wie auch eine Revolution ein langer, lang andauernder Prozess ist (Rudi Dutschke). Beide sind unmittelbar miteinander verbunden.

Fussnoten

1.Klaus Meschkat: Krisen progressiver Regime. Lateinamerikas Linke und das Erbe des Staatssozialismus, VSA-Verlag, Hamburg 2010, 109 Seiten, 10 Euro; Decio Machado/Raúl Zibechi: Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern. Eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen, Bertz + Fischer, Berlin 2019, 217 Seiten, 12 Euro. Die beiden Bücher werden im Text künftig abgekürzt mit Autorennamen und Seitenzahl zitiert.

2.John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Hamburg 2002

3.Vgl. Lawrence Krader, Asiatische Produktionsweise. in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Band 1. Hamburg: Argument, 1994, S. 628-638. Die konkrete Ausprägung dieser Grundstruktur hängt mit den geografischen, kulturellen und historischen Eigenheiten zusammen, weswegen es auch einen eigenen Artikel zur „Altamerikanischen Produktionsweise“ im HKWM gibt, der interessanterweise ohne Autorenangabe ist (ebenda, S. 167-177).

4.Rudi Dutschke/Günter Berkhahn: Über die allgemeine Staatssklaverei, in: Carsten Prien: Dutschkismus. Die politische Theorie Rudi Dutschkes, Seedorf 2015, S. 77-138, zuerst veröffentlicht in: L’76, Nr. 6 & 9 (1977/8)

5.Vgl. meine Analyse auf Basis des im vergangenen Jahr erschienenen Buches von Stefan Peters: https://amerika21.de/analyse/226172/venezuela-rentengesellschaft

6.Stefan Peters, Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela. Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez, Stuttgart 2019

7.Dorothea Melcher, Venezuelas Erdöl-Sozialismus, in: Das Argument 262, S. 513.

8.Diese Linie wird vor allem von Vertretern der „traditionellen“ Linken aus der kommunistischen Bewegung, also dem Marxismus-Leninismus vertreten.

9.Vgl. https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/venezuela

10.Die meisten Arbeiten zum Thema beginnen nur kurz vor dem Amtsantritt oder maximal im 19. Jahrhundert. Eine Ausnahme ist Robert Lessmann, der die bolivianische Gegenwart in einen größeren Kontext stellt und bis ins Inka-Reich und die dortige Abwesenheit voN Privateigentum zurückblick, vgl. Das neue Bolivien. Evo Morales und seine demokratische Revolution, Zürich 2010, S. 57ff. Auch Michael Zeuske hat mehr als die letzten 10, 20, 50 Jahre im Blick: Von Bolivar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008.

11.Vgl. auch meinen Text: Zur Klassenfrage in Lateinamerika. Erste Überlegungen zu einem aktuellen und historischen Problem, in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 88 (2011), online: http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/293.zur-klassenfrage-in-lateinamerika.html. Die Kritik von Dieter Boris im nächsten Heft der gleichen Zeitschrift (leider nicht online) gab einige Literaturhinweise und nannte blinde Flecken meiner eigenen noch recht vorsichtigen Argumentation, ohne aber den Kern meiner Kritik aufzunehmen oder zu widerlegen. Ergänzend verweise ich auch auf den Lateinamerika-Historiker Michael Zeuske. Er schreibt in einer knappen Analyse über die Bedeutung von „charismatischen Anführern in Lateinamerika“ davon, dass es in Lateinamerika anders als in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts „keine klar erkennbaren Klassen“ gegeben habe und soziale Bewegungen in der Folge von Militärs, lokalen Eliten, mithin von mythologisierten Führerpersönlichkeiten geleitet wurden (Michael Zeuske, Caudillos, Máximo Líders und Comandantes, in: Hintergrund 4/2013, S. 77).

12.Einen Versuch in diese Richtung, der in eine knappe historische Analyse der Zapatistischen Bewegung in Chiapas mündet, haben zum Beispiel Margarete Tjarden-Steinhauer und Karl Hermann Tjarden unternommen: Maya, Inka und Azteken – Altamerikanische Kulturen und europäische Gewaltherrschaft: Unterwerfung, Anpassung und Widerstand, in: Urte Sperling, Margarete Tjarden-Steinhauer: Gesellschaft von Tikal bis Irgendwo. Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel 2004.

13.An dieser Stelle möchte ich noch auf das umfangreiche Werk des brasilianischen Soziologen Darcy Ribeiro hinweisen, der eine Systematisierung des zivilisatorischen Prozesses insbesondere aus Sicht der Unterentwickelten versucht hat und der bis heute anregend ist. Wie wichtig es ist, die eigene Geschichte auf den Begriff zu bringen, um davon ausgehend eine Theorie der Revolution zu entwickeln, fasst er im Gespräch mit Heinz Rudolf Sonntag zusammen, das 1971 erstmals im Kursbuch erschien und in Ribeiros Werk „Der zivilisatorische Prozess“ abgedruckt ist (Frankfurt a.M. 1971, hier: S. 261ff. Seine knappe Strukturanalyse der Herrschaftsverhältnisse in Venezuela ist abgedruckt in: Amerika und die Zivilisation. Die Ursachen der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Völker, Frankfurt 1985, S. 350-396.

#Bild: Die zwei Leitfiguren der Linksregierungen: Standen Evo Morales und Hugo Chávez einem wirklichen Wandel entgegen oder waren sie dessen Anführer? (Archivfoto aus dem Jahr 2010). QUELLE:ABI.BO

Quelle: amerika21.de… vom 4. März 2021

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