Uiguren: Warum wird China gerade jetzt des ‚Völkermordes‘ beschuldigt?
Daniel Lazare. Im vergangenen August erklärte Joe Biden in seiner Präsidentschaftswahlkampagne, dass «die unsägliche Unterdrückung, die die Uiguren und andere ethnische Minderheiten durch Chinas autoritäre Regierung erlitten haben, Völkermord ist». Nicht zu übertreffen, gab Aussenminister Mike Pompeo in den letzten Stunden der Trump-Administration eine Erklärung ab, dass
«… die Volksrepublik China (VRC) unter der Führung und der Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) mindestens seit März 2017 Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber den überwiegend muslimischen Uiguren und Angehörigen anderer ethnischer und religiöser Minderheitengruppen in Xinjiang begangen hat.»
Dies seien Verbrechen, so heisst es weiter in der Erklärung, die auf einen «systematischen Versuch der Vernichtung der Uiguren durch den chinesischen Einparteienstaat» hinauslaufen.
In dem durch zwei Parteien regierten Land, herrscht ein unhinterfragter Konsens, dass in Xinjiang ein Völkermord im Gange ist, und jeder, der etwas anderes behauptet, muss als Holocaust-Leugner der Neuzeit schuldig angesehen werden. Aber entspricht dies der Wirklichkeit?
Die Antwort ist nein. Offensichtlich ist ein stalinistischer Staat wie die Volksrepublik China kein Engel, wenn es um ethnische Diskriminierung oder bürgerliche Freiheiten im Allgemeinen geht. Aber Diskriminierung ist nicht dasselbe wie Völkermord, und es gibt keine Beweise dafür, dass Massenmord, erzwungene Bevölkerungsreduzierung oder etwas auch nur annähernd Ähnliches stattfindet.
Im Gegenteil, was wirklich vor sich geht, ist allem Anschein nach eine weitere Propagandakampagne gegen Washingtons aktuellen Hauptfeind. Einmal war es Panamas Manuel Noriega, der sich unaussprechlicher Verbrechen schuldig gemacht hat. Dann waren es Muammar Gaddafi, Bashar al-Assad, Nicolás Maduro und Wladimir Putin. Jetzt ist es Xi Jinping, und da die USA ihr rhetorisches Arsenal so gut wie ausgeschöpft haben, sehen sie sich gezwungen, ihre ultimative rhetorische Waffe in Form des G-Worts hervorzuholen.
Aber das wird nicht funktionieren. Die Motivation ist allzu durchschaubar und die Quellen sind unzuverlässig, während die Beweise sich verschieben und widersprüchlich sind. Schliesslich ist Pompeo der Mann, der seine eigene Glaubwürdigkeit permanent untergrub, indem er über seine 15 Monate als Leiter der CIA sagte: «Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben gestohlen … wir hatten ganze Trainingskurse.»[1] Wenn er damals gelogen hat, gibt es allen Grund anzunehmen, dass er auch jetzt lügt. Was Biden betrifft, so ist er nicht nur in ständiger Angst, von den Republikanern überholt zu werden, sondern er hat auch zu Protokoll gegeben, dass er sowohl Putin als auch Xi als «Schläger» bezeichnet – eine gedankenlose, pseudo-harte Bemerkung, die nichts zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit beiträgt.
Aber das ist noch nicht alles. Adrian Zenz – ein deutscher Anthropologe, der eine Schlüsselfigur in der Anti-China-Bewegung ist – ist ein christlicher Fundamentalist, der Homosexualität und Gleichberechtigung ablehnt und sagt, er werde «von Gott geführt», um den Kreuzzug anzuführen.[2] Zenz ist auch ein leitender Mitarbeiter der Victims of Communism Memorial Foundation, einem Auswuchs des National Captive Nations Committee. Diese Gruppe wurde 1959 unter anderem von Jaroslaw Stetsko gegründet, einem ukrainischen Exilanten, der ein Anhänger von Stepan Bandera war und kurzzeitig eine pro-nazistische ukrainische nationalistische Regierung führte, die im Gefolge der Operation Barbarossa gegründet wurde.[3]
Seine rechtsradikalen Verbindungen sind also gut belegt. Das beweist nicht, dass alles, was Zenz sagt, eine Lüge ist, aber es legt nahe, dass seine «Erkenntnisse» mit Vorsicht zu geniessen sind. In einem Artikel aus dem Jahr 2018 behauptete er, dass die Chinesen mehr als eine Million Uiguren in staatlichen Haftanstalten festhalten – eine Zahl, die er später auf 1,5 und dann auf insgesamt 1,8 Millionen erhöhte.[4] Doch wie Ajit Singh und Max Blumenthal auf der in den USA ansässigen Grayzone-Website betonen, war seine einzige Quelle ein Artikel in der japanischen Ausgabe von Newsweek, die die Geschichte von Istiqlal TV aufgeschnappt hatte – einem in der Türkei ansässigen uigurischen Medienunternehmen mit engen Verbindungen zu Al Qaida.[5]
Dies ist kaum eine vertrauenswürdige Quelle. Die in Washington ansässige Gruppe Chinese Human Rights Defenders, die von dem China-Wissenschaftler Perry Link geleitet wird, berichtete 2018 ebenfalls, dass 12,8 % der Bevölkerung in Umerziehungslagern inhaftiert seien – eine Schätzung, die in etwa mit der von Zenz übereinstimmt. Aber CHRD stützte ihre Ergebnisse auf Interviews mit nur acht Personen, die über acht Dörfer im ländlichen Xinjiang verstreut waren – eine Datenbasis, die niemand als solide bezeichnen würde.[6] CHRD stellte in einem Bericht von 2018 ausserdem fest:
- «Die Regierung scheint sich zu bemühen, die Möglichkeiten für ethnische Minderheiten in Xinjiang, insbesondere für Uiguren, zu erweitern, um Zugang zu Grund-, Sekundar- und Hochschulbildung zu erhalten.»
- «Eine auf Mandarin-Chinesisch ausgerichtete Bildung kann den Uiguren bessere Beschäftigungschancen bieten, insbesondere ausserhalb von Xinjiang.»
- «Eine Hauptursache für die Jugendarbeitslosigkeit ist, dass Xinjiangs wirtschaftliche Entwicklung hinter den meisten anderen Teilen Chinas zurückbleibt.»[7]
Die Gegenseite
Ob die Regierung die Rechte der uigurischen Minderheit vollständig respektiert, ist unbekannt. Aber ihr allgemeines Ziel in Xinjiang scheint klar zu sein: wirtschaftliches Wachstum zu fördern, Arbeitsplätze und Bildung bereitzustellen und die Uiguren in die chinesische Gesellschaft insgesamt zu integrieren.
Was auch immer man von der KPCh halten mag, dies ist das Gegenteil von Völkermord. In einem Bericht vom Juni 2020 für die Jamestown Foundation, eine rechtsgerichtete Washingtoner Denkfabrik mit starken CIA-Verbindungen, beschuldigte Zenz die Volksrepublik, die Geburtenrate der Uiguren gewaltsam zu unterdrücken. Doch seine eigenen Daten zeigen, dass die Uiguren das Bevölkerungswachstum der Han in Xinjiang zwischen 2005 und 2015 um das Zweieinhalbfache übertroffen haben, während das Bevölkerungswachstum der Uiguren das der Han im ganzen Land seit 2010 übertrifft. Chinas Ein-Kind-Politik war von 1979 bis 2016, als sie endlich abgeschafft wurde, ein Albtraum des Missbrauchs. Was Zenz jedoch nicht erwähnt, ist, dass nationale Minderheiten teilweise ausgenommen waren, weshalb Uiguren in städtischen Gebieten zwei Kinder pro Paar haben durften und auf dem Land drei.[8]
Wenn die KPCh versucht, den Uiguren das anzutun, was die Nazis den Juden angetan haben, dann muss sie eine der unfähigsten politischen Parteien der modernen Geschichte sein, denn was sie erreicht, ist das Gegenteil: nämlich ein starkes Bevölkerungswachstum, gekoppelt mit einem von der Regierung gesteuerten Wirtschaftswachstum.
Das Gleiche gilt für Anschuldigungen von Massenvergewaltigungen und andere derartige Schauermärchen – auch sie ergeben keinen Sinn. Letzten Monat erzählte eine uigurische Exilantin namens Tursunay Ziawudun der BBC, dass weibliche Häftlinge «jede Nacht» aus den Zellen geholt und von einem oder mehreren maskierten chinesischen Männern vergewaltigt würden.[9] Doch Ziawudun erwähnte in einem früheren Interview mit Radio Free Asia keine Vergewaltigung, und obwohl sie später Buzzfeed sagte, dass sie «Angst hatte, vergewaltigt zu werden», erwähnte sie kein solches tatsächliche Verbrechen. In der Tat sagte sie vielmehr das Gegenteil über ihre Erfahrungen in chinesischer Haft:
«Ich wurde nicht geschlagen oder missbraucht. Das Schlimmste war psychisch. Es ist etwas, das ich nicht erklären kann – man leidet mental. Irgendwo festgehalten zu werden und gezwungen zu sein, dort zu bleiben, ohne Grund. Man hat keine Freiheit. Man leidet.»[10]
Da mentales Leiden keinen Propagandawert hat, beschloss sie (oder ihre Betreuer), dass sie sich etwas Sensationelleres einfallen lassen musste, als die Zeit für ein Gespräch mit der BBC kam. Und das tat sie auch.[11]
Die stimmwuchtige Geheimdienstpropaganda spielt also weiter und spuckt Verzerrungen, Halbwahrheiten und offene Lügen aus, die dann von einer begierigen Presse verschlungen werden. Aber was ist wirklich los?
Zum einen hat China seit jeher Probleme mit seinem «Wilden Westen», die bis zu den Xiongnu zurückreichen – Steppenmarodeure, die vielleicht das gleiche Volk waren, das im Westen als Hunnen bekannt ist. Gebiete wie Xinjiang, Tibet und die Mongolei sind geografisch weit entfernt, ethnisch und religiös unterschiedlich, militärisch bedrohlich und politisch turbulent – und daher Orte, die das Kaiserreich nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Zum anderen hat Zentralasien seit der afghanischen Revolution 1978, dem sowjetischen Einmarsch 1979, dem von der CIA geförderten Dschihad und dann dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991/92 neue Bedeutung erlangt. Plötzlich waren Kasachstan, Usbekistan und die anderen «Stans» – eine Gruppe, zu der auch Ostturkestan, der alte Name für Xinjiang, gehört – im Spiel, was bedeutete, dass andere Imperien nun ebenfalls versuchten, sie zu kontrollieren.
Damit sind in erster Linie die Vereinigten Staaten gemeint. 1998 sagte Zbigniew Brzezinski gegenüber einer französischen Zeitung, dass die geheime Operation der CIA in Afghanistan «eine ausgezeichnete Idee» gewesen war, weil:
«… sie hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle zu locken … Was ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige aufgewiegelte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?»
Ein Jahr später erklärte Graham Fuller – ehemaliger stellvertretender Direktor des Nationalen Geheimdienstrates der CIA und später Analyst bei der RAND (Research and Development) Corporation:
«Die Politik, die Entwicklung des Islam zu lenken und ihnen gegen unsere Gegner zu helfen, hat in Afghanistan gegen die Rote Armee wunderbar funktioniert. Dieselben Doktrinen können immer noch eingesetzt werden, um das, was von der russischen Macht übriggeblieben ist, zu destabilisieren und vor allem, um dem chinesischen Einfluss in Zentralasien entgegenzuwirken.»[12]
Konsequenzen
Dies die Perspektive für zwei, drei, viele Afghanistans, nicht nur in den ehemaligen Sowjetrepubliken, sondern auch in der VR China. Innerhalb weniger Jahre waren die blutigen Folgen nur allzu offensichtlich. Im Jahr 2009 wurden bei einem Aufstand in der uigurischen Hauptstadt Urumqi fast 200 Menschen getötet und 1.700 weitere verwundet. Im Oktober 2013 fuhr ein militanter Uigure einen Jeep auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking, tötete fünf Menschen und verletzte 40. Fünf Monate später griffen acht mit Messern bewaffnete uigurische Dschihadisten einen Bahnhof in der südchinesischen Stadt Kunming an, töteten wahllos 31 Menschen und verletzten mehr als 140 weitere. Zwei Monate später fuhren Dschihadisten zwei Autos in einen überfüllten Markt in Urumqi und töteten 39 Menschen. Im September 2015 erstachen Dschihadisten in der westlichen Xinjiang-Stadt Aksu mehr als 50 Bergarbeiter und Sicherheitsbeamte mit Messern.
War der westliche Geheimdienst involviert? Angesichts der Vorliebe der CIA für die Aufrechterhaltung der «plausiblen Bestreitbarkeit» lautet die Antwort vielleicht: nicht direkt. Aber in jeder anderen Hinsicht lautet sie: ja. Die Islamische Partei Turkistans, die dazu beitrug, den Aufstand in West-Xinjien 1990 auszulösen, wurde von den Taliban inspiriert und verlegte 1998 ihr Hauptquartier nach Kabul. Während die Europäische Union, Grossbritannien, Russland und die USA sie nach dem 11. September 2001 wegen ihrer Verbindungen zu Al Qaida offiziell als terroristische Organisation einstuften, haben die USA sie im Oktober letzten Jahres zum Leidwesen Chinas von dieser Liste gestrichen.
Seit 2011 hat diese islamische Partei eine grosse Präsenz in Syrien aufgebaut, zweifellos mit Washingtons Einverständnis. Bewaffnet mit TOW-Raketen aus US-Produktion, die von Saudi-Arabien geliefert wurden, führte sie eine Al-Qaida-Offensive an, die im April 2015 die nordwestliche Provinz Idlib überrannte. Schätzungsweise 5.000 uigurische Gotteskrieger haben sich seitdem mit ihren Frauen und Kindern in Idlib niedergelassen, verändern das Land und schmieden zweifelsohne Pläne für den weiteren Dschihad, sobald sie nach Hause zurückkehren.[13] Westliche Geheimdienste sind zweifelsohne auf der Hut vor den Möglichkeiten, die ein solcher „Blowback“ bieten könnte, und die chinesische Regierung ist es natürlich auch.
Mehr und mehr sieht Xinjiang wie eine Version der «Operation Zyklon» in Afghanistan aus, bei der sich die USA mit islamischen Milizionären zusammentaten, um den Dschihad gegen eine Regierung zu schüren, die ihnen nicht gefiel. Völkermordgeschichten, die die Seiten westlicher Zeitungen füllen, klingen daher wie eine gesteigerte Version der berühmten mit Sprengfallen versehenen Spielzeuge, die die Sowjets in den 1980er Jahren angeblich in der afghanischen Landschaft verteilten, um unschuldige Kinder zu töten und zu verstümmeln – Geschichten, die für Aufsehen sorgten, als sie von der New York Times, der Los Angeles Times, der Zeitschrift Mother Jones, Human Rights Watch und anderen aufgegriffen wurden, die sich aber ebenfalls als unwahr erwiesen.[14]
Der Völkermord in Xinjiang fällt zweifelsohne in die gleiche Kategorie. Die Rechte der Uiguren sollten bis zum Äussersten verteidigt werden. Aber die US-Propaganda sollte als das entlarvt werden, was sie ist: eine Verzerrung beinahe von Anfang bis Ende.
Endnoten
[1]. youtube.com/watch?v=qfrhATD4nM0.︎
[2]. wsj.com/articles/the-german-data-diver-who-exposed-chinas-muslim-crackdown-11558431005.︎
[3]. thegrayzone.com/2019/12/21/china-detaining-millions-uyghurs-problems-claims-us-ngo-researcher.︎
[4]. Siehe (1) academia.edu/37353916/NEW_Sept_2018_Thoroughly_Reforming_Them_Towards_a_Healthy_Heart_Attitude_Chinas_Political_Re_Education_Campaign_in_Xinjiang; (2) reuters. com/article/us-china-xinjiang-rights/15-million-muslims-could-be-detained-in-chinas-xinjiang-academic-idUSKCN1QU2MQ; und (3) rfa.org/english/news/uyghur/detainees-11232019223242.html.︎
[5]. rfa.org/english/news/uyghur/detainees-11232019223242.html.︎
[6]. nchrd.org/2018/08/china-massive-numbers-of-uyghurs-other-ethnic-minorities-forced-into-re-education-programs.︎
[7]. ‚Joint Civil Society Report‘, 16. Juli 2018: tbinternet.ohchr.org/Treaties/CERD/Shared%20Documents/CHN/INT_CERD_NGO_CHN_31915_E.pdf.︎
[8]. thegrayzone.com/2021/02/18/us-media-reports-chinese-genocide-relied-on-fraudulent-far-right-researcher; und jamestown.org/wp-content/uploads/2020/06/Zenz-Internment-Sterilizations-and-IUDs-UPDATED-July-21-Rev2.pdf.︎
[9]. bbc.com/news/world-asia-china-55794071.︎
[10]. buzzfeednews.com/article/meghara/china-uighur-xinjiang-kazakhstan.︎
[11]. Für einen allgemeinen Überblick siehe moonofalabama.org/2021/02/they-dont-only-rape-but-also-bite-all-over-your-body-horror-stories-told-by-chinese-defectors-contin.html.︎
[12]. R Labévière Dollars for terror: the United States and Islam New York 2000, S. 6.︎
[13]. apnews.com/article/591f9b238c84477b87cfac68bfe169fc.︎
[14]. quora.com/Did-the-USSR-really-drop-toys-filled-with-explosives-on-Afghanistan. Siehe auch R. Braithwaite, Afghantsy: The Russians in Afghanistan 1979-89 Oxford 2011, S. 234-35.︎
#Bild: Berufsausbildung‘ ist zweifellos drakonisch, aber kaum genozidal
Quelle: weeklyworker.co.uk… vom 24. März 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Afghanistan, China, Imperialismus, Repression, Sowjetunion, Stalinismus, Syrien, USA
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