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Brasiliens Staatsstreich von Rechtsaußen – der letzte Akt

Eingereicht on 18. August 2017 – 9:26

Dilma Rousseff wurde gestürzt und die korruptesten Figuren des Kapitals eingesetzt – an deren Spitze die Oligarchenschöpfung Michel Temer –, um das brasilianische Politestablishment

vor Korruptionsuntersuchungen zu schützen und den Interessen der heimischen Plutokraten sowie der internationalen Finanz zu dienen. Die Hoffnungen des letzten Jahrzehnts von Hunderten Millionen Menschen wurde von den Dieben und Lügnern der herrschenden Klasse niedergetrampelt und ausgelöscht – meint Glenn Greenwald.

VOR GUT EINEM JAHR fand in Brasília über neun Stunden lang eines der ekelerregendsten und demütigendsten politischen Schauspiele statt, die ich je erlebt habe. Im brasilianischen Unterhaus – einem Organ, in dem die Mehrheit der Abgeordneten in Korruptionsermittlungen verwickelt ist – stellte sich ein niederträchtiger, zwielichtiger Heuchler nach dem nächsten vor den Fernsehkameras auf und erklärte überschwänglich, dass ihr Gewissen, ihre Religion, ihr Gott, ihre Kinder, ihre Hingabe zu Jerusalem, die Erinnerung an ihre Mütter, der Pfarrer, die Reinheit ihrer Seelen es verlangten, dass sie die Korruption bekämpfen, indem sie die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff aus dem Amt entfernen.

Stellt Euch einfach die extremste, primitivste Karikatur eines händereibend-heuchlerischen Moralapostels vor – ein Prediger, der seine wöchentliche Orgie im Bordell um die Ecke verlässt, um direkt zur Sonntagskirche zu gehen und gegen die zur Hölle verdammten Sünder zu hetzen – und Ihr habt das perfekte Abbild dieser scheinheiligen, sich selbst feiernden Mehrheit der Abgeordneten an diesem Tag. Der Schleim, der aus ihren Poren trieft, ist physisch greifbar. Das sind die Leute, die eine nationale Wahl für nichtig erklärten und nun über das fünftbevölkerungsreichste Land des Planeten herrschen.

In einer selbstredenden Symbolik – die so perfekt war, dass kein Drehbuchautor sie sich hätte ausmalen können – wurde diese kitschige und obszöne Schmierenkomödie geleitet vom Sprecher des Unterhauses, Eduardo Cunha (Bild rechts), einem Gangsterboss des organisierten Verbrechens, der sich als Abgeordneter verkleidet hat. Kurz nachdem er Rousseffs Beseitigung dirigiert hatte – die, wie die bedeutenden Medieneliten der Nation einheitlich verkündeten, von einer ernsthaften Besorgnis über die Korruption im Land motiviert war – wurde Cunha ins Gefängnis gesteckt: wegen Bestechung, Geldwäsche, Einschüchterung von Zeugen und organisiertem Verbrechen.

Kurz gesagt riss Brasiliens konkurrenzlos korrupte Medien- und Politklasse das Land auseinander, um das Ergebnis der 2014er Wahl effektiv und vorsätzlich aufzuheben. Ihre hohen ethischen Standards und ihre ehrwürdige Achtung der Rechtsstaatlichkeit – darauf bestanden sie – konnten Rousseffs banale, alltägliche Budgettricks, die zum Ziel haben, die Wirtschaft stärker aussehen zu lassen, als sie tatsächlich ist, einfach nicht tolerieren. Es existieren keine Worte, die beschreiben könnten, was für ein hinterlistiger Betrug all das war.

Spulen wir vor zu vergangener Woche. Nun haben sie selbst die wahre Natur ihrer Taten und ihres Charakters so klargemacht, wie es nur sein könnte. Den mittelmäßigen Karrieristen und seelenlosen Funktionär, den sie installiert haben, um das Land zu regieren – Vizepräsident Michel Temer – ertrinkt seit seiner Einsetzung nun in tatsächlicher Korruption. Vor zwei Monaten tauchten Audiobänder von Temer auf, auf denen er Bestechungsgelder gutheißt, die von einem brasilianischen Geschäftsmann an zahlreiche Zeugen für deren Stillschweigen gezahlt wurden – darunter auch sein erwähnter Parteigenosse Eduardo Cunha.

Stellt Euch das vor: In dem Land, das vor gut einem Jahr vorgab, von Rousseffs Budgettricks moralisch derart entrüstet zu sein, dass sie aus dem Amt geworfen werden musste, hörten sie nun alle den von ihnen installierten Präsidenten, wie er Bestechungsgelder gutheißt, um Zeugen ruhigzustellen. Sie spielten die Aufnahmen im Fernsehen. Jeder konnte Temers Stimme hören, wie er vor wenigen Monaten an eklatanten Verbrechen beteiligt war. Kurz darauf wurde er vom Oberstaatsanwalt angezeigt – der erste amtierende Präsident, dem während seiner Amtszeit offiziell Straftaten zur Last gelegt werden.

Einen Monat später tauchten Beweise dafür auf, dass Temer persönlich enorme Bestechungsgelder erhielt. Außerdem wurde ein Video enthüllt, das einen seiner engsten Helfer zeigt, wie er einen Koffer voller Bargeld bei sich trug, nachdem Temer ihn anwies, Bestechungsgelder zu zahlen. Wir haben es hier mit einem Land zu tun, dessen Eliten wegen ein paar kleineren Budgettricksereien ein Jahr damit zubrachten, die Empörten zu spielen, und nun wird dieses Land von jemandem regiert, der von allen Leuten gesehen und gehört wurde, wie er Zeugen zum Schweigen bringt und bis zum Hals in Korruptionsskandalen steckt. Wie ist das möglich?

IN BRASÍLIA ist alles möglich. Gestern musste dasselbe Unterhaus, das noch im vergangenen Jahr Dilma Rousseff absetzte, entscheiden, ob es Temer suspendiert und ihn wegen Korruption vor Gericht stellen sollte. Mit 263 zu 227 Stimmen weigerten sie sich, und stellten sicher, dass Temer – Bestechungsgelder und alles – an der Macht bleibt. Die Abstimmung wurde von Cunhas Nachfolger geleitet, dem Sprecher des Unterhauses Rodrigo Maia von der rechten Democratas (rechts abgebildet, mit Temer). Fast schon unnötig zu erwähnen: auch Maia ist tief verwickelt in den Korruptionsskandal.

Dieselben aufgeblasenen, schmierigen und selbstverliebten Mitte-Rechts-Verbrecher, die sich vor zwölf Monaten noch schamlos in die flatternden Kostüme der Ethik, Religion und Moral gehüllt haben, taten sich nun zusammen, um sicherzustellen, dass ihr Verbrecherkumpel, der gerade das Land regiert, keinerlei Konsequenzen zu befürchten haben muss. Bis er aus dem Amt scheidet, braucht er sich nun nicht den Anklagen zu stellen.

Mit einer Symbolik, die fast so stark war wie der Umstand, dass ausgerechnet Cunha Dilma Rousseffs Anklage vorsaß, wurden ihre Stimmen von Temer mit öffentlichen Mitteln gekauft. Der Präsident verbrachte die letzten zwei Monate damit, sie einen nach dem anderen in seinen Palast zu schleifen und sie solange mit großzügigen Mitteln aus der öffentlichen Hand zu überschütten, bis sie sich bereit erklärten, jegliche Untersuchung gegen ihn abzuwenden. Es ist diese Figur, der die brasilianischen Medieneliten – im Namen der Korruptionsbekämpfung – verständnisvoll den Rücken stärkten. Der Witz ist so himmelschreiend wie tragisch.

Bemerkenswert ist auch, dass sie sich – im Gegensatz zu letztem Jahr, als sie sich noch im Rampenlicht sonnten – dieses Mal, wie Schaben unter den Küchenschränken versteckten. Wissend, dass buchstäblich fast das gesamte Land (abgesehen von seinen oligarchischen Eliten) Temer verachtet und ihn abgesetzt haben will – er hat Zustimmungswerte von 5 Prozent –, hat der Großteil von ihnen ihre schmutzigen Taten in der schäbigsten und hinterhältigsten Weise ausgeführt. Nur wenige waren bereit, öffentlich in Verteidigung von Temer zu sprechen. Als ihre Namen aufgerufen wurden, krochen sie zum Mikrofon und gaben ihre korruptionsbehütende Stimme mit so wenig Trara wie möglich ab.

Davon abgesehen, dass der Welt die pochende, tiefverankerte und noch immer metastasierende Krankheit im Herzen der brasilianischen politischen Klasse vor Augen geführt wurde – Was für eine herrschende Klasse stellt sich hinter einen Präsidenten, der auf Band zu hören ist, wie er Bestechungsgelder billigt? – so riss die Abstimmung für immer die Maske herunter und offenbarte die wirklichen Gründe, warum Dilma Rousseff abgesetzt wurde.

Im Gegensatz zum trügerischen Skript, das von den hochbezahlten, glänzenden, von den inzestuösen, oligarchischen Medien des Landes eingesetzten Propagandisten kreiert und unermüdlich verbreitet wurde, hatte Dilmas Anklage zwei – und nur zwei – Motive: 1) das brasilianische Politestablishment vor Korruptionsuntersuchungen zu schützen, indem die korruptesten Figuren des Kapitals eingesetzt werden, die die Ermittlungen daraufhin abwürgen, und 2) den Interessen der heimischen Plutokraten sowie der internationalen Finanz zu dienen, indem sie im Namen der „Austerität“ soziale Programme für die ärmsten des Landes „reformieren“.

DER BEMERKENSWERTESTE ASPEKT der letzten zwei Jahre Politdrama ist die Existenz einer Audioaufzeichnung von Temers engstem Verbündeten im Senat, Romero Jucá, die inmitten der Impeachment-Krise auftauchte und in der er in vollkommener Klarheit den wahren Grund und das eigentliche Ziel für Dilmas Amtsenthebung nannte. Dilmas Beseitigung, so sagte Jucá, als er glaubte, im Geheimen zu sprechen, würde einen „nationalen Pakt“ ins Leben rufen – befürwortet vom Obersten Gerichtshof, den Konzernmedien und dem Militär – der die Korruptionsuntersuchungen abwürgt und das Land daraufhin unbekümmert weiterziehen lässt.

Nach dieser peinlichen Aufzeichnung musste Jucá aus Temers Kabinett zurücktreten, doch sein Exil war nur von kurzer Dauer, denn alle – die Richter, die Generäle, die “News Anchor” – wussten, dass der Plot, den er beschrieb, natürlich genau das war, worauf sie sich alle bei der Beseitigung von Dilma verständigt hatten. Kurz darauf wurde Jucá der Kopf von Temers Regierung im Senat. Und der Plot, den er so wunderbar beschrieb – Abwürgen der Ermittlungen, um die Verbrecher zu schützen und zu stärken – wurde bis ins Detail ausgeführt und gipfelte in der jüngsten Abstimmung zum Schutze des Obersten Schwerverbrechers.

Vor ein paar Monaten erließ derselbe Kongress, der die Empörung über Dilmas Budgettricks vorheuchelte, Gesetze, um die Korruptionsuntersuchungen abzuschwächen, und jetzt gibt es sogar Gerede, dass die korrupten Beamten nun den Staatsanwalt anklagen wollen, der sie angeklagt hat. So wie es in den USA an der Tagesordnung ist, dass nur diejenigen für Kriegsverbrechen ins Gefängnis gehen, die sie aufdecken, werden auch in Brasilien einzig die Menschen einen Preis für die systematische Korruption in Brasilien zahlen, die die Korruption anklagen. Das war von Anfang an das dreckige Spiel, das bei Dilmas Beseitigung gespielt wurde – und die Leute machen sich nicht einmal mehr die Mühe, es zu leugnen.

Doch der große Preis von all dem sind – wie immer – die Belohnungen für die Oligarchen und die Bestrafung der Ärmsten im Lande. Ein bemerkenswertes Geständnis von Präsident Temer wurde von den brasilianischen Konzernmedien wortwörtlich ignoriert. Temer flog im September nach New York und sprach mit einer Gruppe von Hedgefonds-Tycoons und außenpolitischen Eliten. Er gab dabei explizit zu, dass der wahre Grund für Dilmas Beseitigung ihr Widerstand gegen härtere Austeritätsmaßnahmen war. Jedes Mal, wenn es so aussieht, als sei Temer in Gefahr, werden die brasilianische Währung und der Aktienmarkt bestraft. Wenn es so aussieht, als würde er überleben, fangen sie sich wieder. Denn er ist das Instrument der Austerität. Temers Finanzminister konnte es kaum erwarten, nach der Abstimmung zu verkünden, dass die Austeritäts’reformen‘, die sie dem Land so sehnlichst aufbürden wollen, nun eingeführt werden – jetzt, da er gerettet wurde.

Temer ist die Schöpfung der brasilianischen Oligarchen und ihrer unterjochten Medien. So sehr haben sie für seinen Machtgewinn gekämpft – und für die Rechtsaußen-Koalition, die zwar mehrfach die Wahlen verloren hat, durch Temer nun aber wie von Zauberhand das Land regiert – das einer ihrer klügsten Medienstars, Eliane Cantanhêde, im vergangenen Jahr die Opposition zu Temer ausdrücklich mit Verrat gleichgesetzt hatte, sie erklärte, dass „jede Versuche, Temer zu stürzen, bedeuten, gegen Brasilien zu arbeiten.“

In gewisser Hinsicht sehen wir hier pure karmische Gerechtigkeit: Brasilien hat die politische Klasse und die kaputten und korrupten Führer, die den Charakter der elitären, oligarchischen Klasse perfekt widerspiegeln, die die Nation Jahrzehntelang mit eiserner Faust beherrscht hat.

Doch in einem tieferen Sinne ist das, was sie getan haben, eine grauenhafte Tragödie, die einfach herzzerreißend mitanzusehen ist: Hunderte Millionen Menschen, die in eine zutiefst hierarchische Gesellschaft hineingeboren wurden, die für Generationen ohne jede Hoffnung waren, haben während des letzten Jahrzehnts nun endlich einen Funken Hoffnung bekommen – nur, um nun mitzuerleben, wie diese Hoffnung niedergetrampelt und ausgelöscht wird, und zwar von den Dieben und Lügnern derselben herrschenden Klasse, die schon die alleinigen Urheber der anhaltenden Not der Vielen sind, der Ungleichheit und des Elends im Lande.

Translated by Jakob Reimann for JusticeNow! and Die Freiheitsliebe with permission from The Intercept.

Quelle: diefreiheitsliebe.de… vom 18. August 2017

 

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