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Neue Strategie, neue Partei?

Eingereicht on 9. Dezember 2015 – 13:01

Willi Eberle. Folgt aus der Feststellung, dass eine neue Periode im Kapitalismus angebrochen ist, auch dass die Strategie revolutionärer Parteien geändert werden muss? Braucht es dazu neue Parteien? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Ein Blick auch in die Geschichte der Arbeiterbewegung.

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Nach dem dramatischen Scheitern des politischen Projektes von Syriza[1] ist eine kritische Einschätzung der Strategie der breiten antikapitalistischen Parteien, wofür Syriza über einige Jahre als Paradebeispiel galt, mehr als dringlich.[2] Zudem steht die Phase von linken Regierungen in Lateinamerika, Regierungen, die von Massenbewegungen vor allem der Arbeiterklasse und, insbesondere in Bolivien, auch von der armen Bauernschaft an die Macht gebracht wurden, vor ihrem Ende. Diese haben, wie Syriza, als ihr organisatorisches Zentrum eine politische Partei, die sich nicht als politische Organisation der kämpfenden Arbeiterklasse  (und Bauernschaft) versteht, sondern auf eine möglichst breite elektorale Abstützung abzielt. Zu ihrem Beginn war dies oft anders, etwa für die brasilianische  PT zu; diese wurde aber im Laufe der 1990er Jahre im Stile der britischen New Labour in eine regierungsfähige Partei umgebaut und stellte sich ebenfalls, einmal an der Regierung, immer häufiger gegen die kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter.

Syriza ist nun, schwer geschwächt nach dem Abstossen der linken Elemente vor allem um die Linke Plattform, die dann die „Volkseinheit“ (!) gründeten, in Griechenland die politische Kraft, die die Ausbeutungspolitik der Troïka umsetzt. Aber es zeichnet sich ab, dass sie fortan auf die Unterstützung der traditionellen Memorandums-Parteien angewiesen ist und eine grosse Koalition mit diesen anstrebt.[3] Denn sie trifft auf den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse, die sich seit Mitte November innerhalb von drei Wochen bereits mit zwei gut befolgten Generalstreiks gegen die Syriza-Regierung gestellt hat.

Eines steht nun fest: Die Syriza Regierung hat den zynischen Leitspruch von Margaret Thatcher, der britischen Premierministerin Ende der 1980er Jahre triumphalistisch zum Leitspruch erhobenen „There is no alternative“ (TINA) einmal mehr praktisch bestätigt. Beispielsweise ist die spanische Podemos — ein anderer Hoffnungsträger für viele Formationen aus der radikalen Linken —  kurz nach dem Einknicken von Alexis Tsipras von Mitte Juli noch mehr abgerückt von einem Programm eines Schuldenmoratoriums, geschweige denn, dass noch irgendwelche Forderungen nach einem einseitigen Schuldenschnitt, die noch vor eineinhalb Jahren hoch im Kurs waren, die Rede wäre.[4]

Neue Periode

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte eine Kampfphase der internationalen Arbeiterklasse ein, die die Strukturen der bürgerlichen Herrschaft weltweit ins Wanken brachte. Sie erlebte ihre Höhepunkte unter anderem im französischen Mai, im italienischen heissen Herbst (1969 bis 1976), in der Nelkenrevolution in Portugal  (1974), in der Rätebewegung unter der Volksfront-Regierung in Chile (1970), im Prager Frühling (1968), in der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung in den USA, den grossen Streiks in England, den Aufständen in Lateinamerika und in Asien und in den Jugendrevolten in Mexico und in Tokio und anderswo. Überall jedoch konnte sich die Bourgeoisie auf die traditionellen  politischen  Organisationen der Arbeiterbewegung und / oder die nationalen Befreiungsbewegungen stützen, um ihr zentrales Herrschaftsinstrument, den bürgerlichen Staat, vor dem Ansturm der Arbeiterklasse und der Bauernbewegungen zu schützen, den neuen Verhältnissen anzupassen und weiterzuentwickeln.

Diese Kämpfe waren in Europa gegen die einsetzenden Angriffe auf Errungenschaften aus der vorangehenden wirtschaftlichen Boomphase gerichtet, oder aber sie zielten darauf, mehr (höhere Löhne, lockerere Arbeitsrythmen, mehr Freiheit, mehr soziale Absicherung usw.) herauszuholen, als die Unternehmer angesichts der heraufziehenden Strukturkrise bereit waren, herzugeben.[5]

Besonders eindrücklich gestaltete sich, nebst anderen, der Aufbruch der Arbeiterklasse in Chile unter der Regierung der Unidad Popular (Volkseinheit, November 1970 bis 11. September 1973). Diese hatte radikale Reformen zugunsten der Lohnabhängigen, der bäuerlichen Bevölkerung und der Armen eingeleitet und gleichzeitig gegenüber den Christdemokraten in einem Geheimabkommen absolute Verfassungstreue gelobt. Dies brachte sie in eine immer stärkere Zwickmühle, da die Arbeiterklasse und die Bauernbewegung  mit der Besetzung von Ländereien und von Fabriken und mit dem Aufbau von Versorgungs- und Selbstverteidigungskomitees begannen, landesweite Rätestrukturen bis hin zu einer Doppelmachtsituation zu entwickeln. Die Armee setzte dieser arbeiter-demokratischen Entwicklung am 11. September 1973 mit tatkräftiger Unterstützung des US-Imperialismus ein äusserst brutales Ende.[6]

General Pinochet, der Führer des Putsches, erklärte kurz nach dem Putsch auch gleich, um was es dabei ging:

„Der Aufbau einer Nation besteht darin, aus Chile ein Land von Eigentümern, nicht Proletariern zu machen… Es sind die Reichen, die Geld schaffen. Sie müssen gut behandelt werden, damit sie mehr Geld hervorbringen.“

Es ist dies das Programm der Austeritätspolitik und des Neoliberalismus, wie es mittlerweile weltweit gegen die Arbeiterklasse und die breite Bevölkerung durchexerziert wird. Man sieht bereits aus dieser brutalen Eröffnungsparade der Bourgeoisie für die neue Periode, dass sie sich keinesfalls auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken will, wenn es um die Sicherung ihrer Herrschaft und die Durchsetzung ihrer Angriffe auf die Arbeiterklasse geht.

In der Tat war der Kapitalismus in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in eine sich auf mehreren Ebenen äussernde strukturelle Krise eingetreten. Die hohen Profite der vergangenen über 20 Jahre begannen abzuflachen, die Wachstumsraten sanken, die Oberhoheit des US-Imperialismus konnte sich zunehmend nur mehr militaristisch halten, was angesichts des hohen Blutzolls und der Gräueltaten im Vietnamkrieg zu einer starken Anti-Kriegs Bewegung an der Heimatfrontfront führte. Und die Unternehmer versuchten, die anziehenden wirtschaftlichen Probleme, oft mit Hilfe des Staates, auf die Arbeiterklasse abzuwälzen, was zu einer schnell anwachsenden proletarischen Militanz führte. Die Jugend aus den aufsteigenden Mittelschichten fand sich zudem nicht mehr ab mit dem autoritären Mief der Nachkriegszeit.

Die Arbeiterklasse, zumindest ihre kombativeren Segmente waren, wenn überhaupt, in den traditionellen staatstragenden Parteien der Arbeiterbewegung organisiert, den kommunistischen Parteien und teilweise der Sozialdemokratie. Eine Avantgarde unter ihnen jedoch suchte eher in den politischen Organisationen der radikalen Linken eine revolutionäre Antwort zu finden. In Frankreich etwa schloss die KPF mit der Bourgeoisie Ende Mai 1968 das Abkommen von Grenelle, das den Arbeitern und Arbeiterinnen zwar bedeutende Lohnerhöhungen zugestand (die dann durch die Inflation bald aufgezehrt waren), aber den bislang grössten Streik in der Geschichte des Kapitalismus abwürgte. Deren Führung hoffte, damit den Eintrittspreis in eine neue Regierung zu begleichen – dieser Dienst sollte allerdings erst über zehn Jahre später unter der ersten Regierung Mitterand belohnt werden. In Italien versuchte die KPI mit ihren Vorschlägen einer Unterwerfung unter die Democrazia Cristiana im Rahmen des sogenannten historischen Kompromisses wieder Regierungspositionen zu erobern, unter dem Versprechen, die «wilde Arbeiterklasse» wieder in den Normalbetrieb bürgerlicher Herrschaft einzuordnen . All dies waren entscheidende Faktoren, diese stürmische Periode von Vorstössen der Arbeiterklasse in anhaltende politische und soziale Niederlagen zu führen.

Fortan gab eine neue Logik unter den Führungen der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der stalinistischen Parteien und ihren Zerfallsprodukten den Ton an. Helmut Schmidt, damals Führer der SPD und Regierungschef einer sozialliberalen Koalition in Deutschland um die Mitte der 1970er Jahre  brachte sie folgendermassen auf den Punkt: „Die Profite von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“. Diese Logik der Kapitulation verstärkte vorerst bei weiten Segmenten der Arbeiterklasse eine um sich greifende Lähmung. Diese litten ab den 1970er Jahren zum ersten Male seit dem Ende der 1940er Jahre unter Massenarbeitslosigkeit und waren durch die fortwährenden Rückschläge in ihren Kämpfen eh schon zurückgeworfen; diese schweren Rückschläge waren zum grossen Teil verursacht durch das hartnäckige Festhalten ihrer traditionellen Führungen an einer Politik der Klassenzusammenarbeit, im Gravitationsfeld der Unterwerfung unter die Regeln des bürgerlichen Staates und der Sozialpartnerschaft.

Linke Regierungen

Ab den 1970er Jahren setzte eine deutliche Rechtsentwicklung der traditionellen, staatstragenden Parteien der Arbeiterbewegung ein. Olaf Palme, der intelligente Führer der schwedischen Sozialdemokratie, der damals zum äusserst linken Flügel der europäischen Sozialdemokratie gezählt wurde, antwortete 1975 auf die Frage, weshalb er als Regierungschef bereits in zwei Amtsperioden eine Austeritätspolitik betrieben habe: „Wir Sozialisten leben gewissermassen in einer Symbiose mit dem Kapitalismus“.[7] Die vielleicht konsequenteste Rechtsentwicklung setzte ab dem Ende der 1970er Jahre bei der britischen Labour-Partei ein, nachdem in Massenstreiks 1974 die konservative Regierung Heath zu Fall gebracht wurde, und das politische System Grossbritanniens in eine tiefe Krise geriet.

Die stalinistischen Parteien verwandelten sich bis auf wenige Ausnahmen in einer weiteren Rechtsentwicklung  in eurokommunistische Parteien, wobei oft die Vorstellung eines linken Pols gegenüber der Sozialdemokratie mitspielte. So würde ihnen ihre  Verankerung in linken Segmenten des Volkes (!) die Kolonialisierung des bürgerlichen Staates ermöglichen, und  insbesondere würde ihre Beteiligung an sogenannten linken Regierungen erlauben, Druck von links auf die Sozialdemokratie und auf das Monopolkapital auszuüben. Eine Vorstellung, wie sie für den Zentrismus seit jeher charakteristisch ist und wie sie in der Volksfrontstrategie seit Mitte der 1930er Jahre zum zentralen Requisit in der Strategie der stalinistischen und später der eurokommunistischen Parteien wurde. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Eurokommunismus stellte Ernest Mandel gegen Ende der 1970er Jahre zu dieser Problematik fest:

“Diese [eurokommunistischen] Parteien können sich nicht unter dem Druck der Massen in revolutionäre Parteien verwandeln. …. Die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie oder gar ein historischer Kompromiss sind nicht mehr möglich auf der Basis neuer Reformen, neuer sozialer Erungenschaften, sondern fordern neue Opfer, die der Arbeiterklasse auferlegt werden, um die Profitrate … zu steigern».[8]

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die damit verbundene schwere Krise der stalinistischen Parteien und der ideologische Niederschlag des vermeintlichen Endes der Geschichte wirkten sich im Zusammenhang mit den schweren wirtschaftlichen Krisen der 1990er Jahre als Faktoren für eine noch weitere Rechtsentwicklung des politischen Spektrums der staatstragenden Linken aus.

Gleichzeitig aber wurde Mitte der 1990er Jahre ein proletarischer Kampfzyklus eröffnet, der bis gegen die Mitte der 2000er Jahre andauern sollte. Dieser Zyklus brachte in Lateinamerika links-populistische Regierungen an die Macht (Brasilien, Venezuela, Bolivien, Ecuador, etc.), die aus politischen Organisationen hervorgingen, die oft ein Bündnis aus verschiedensten Parteien umfassten. In Europa wurden in diesem Zyklus eher die traditionellen staatstragenden Parteien der Arbeiterbewegung gestärkt. Dieser Kampfzyklus konnte letztendlich – mangels einer angemessenen politischen Führung – der Vorwärtsbewegung des Kapitals kaum Widerstand entgegensetzen.

Die Diskussion um eine neue Strategie für die radikale Linke wurde dadurch angefeuert. Es wurde argumentiert, dass es möglich wäre, antikapitalistische Massenparteien über elektorale Prozesse aufzubauen. Dazu aber müsse endlich der alte Ballast, den revolutionäre Parteien mit sich führen, hinter sich gelassen werden. Programm- und Strategiedebatten, vor allem um die Natur des bürgerlichen Staates, das Ziel einer Diktatur des Proletariats, der Begriff des Klassenkampfes und der Arbeiterklasse würden nur den Weg versperren, um den Zugang zu diesen in Bewegung geratenen Massen zu finden. Dann könnten die Voraussetzungen geschaffen werden für linke Regierungen, um sich erfolgreich gegen die Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse der vergangenen Periode stellen zu können.[9] Entsprechend entstanden ab dem Ende der 1990er Jahre solche Formationen, vor allem in Europa, meistens um eurokommunistische Parteien herum gruppiert, wie 2004 beispielsweise Syriza in Griechenland. Die seit den 1980er Jahren zweite, heftigere, aber kürzere Periode von Massenmobilisierungen, die von 2010 bis 1012 dauerte, wo etwa 50 Millionen Menschen in Nordafrika, Syrien, Spanien, Griechenland, Frankreich und anderswo Regimes stürzten oder ins Wanken brachten, verstärkte diese Debatte umso mehr. Nach dem steilen Aufstieg von Syriza bei den beiden Wahlzyklen von 2012 schien vielen Kadern der radikalen Linken klar zu sein, wo’s lang gehen sollte im Widerstand gegen die Austeritätspolitik und wie die oft in einem Ghetto arbeitende revolutionäre Linke ihre Isolation überwinden könnte.

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben unmissverständlich gezeigt, dass eine „linke Regierung die Arbeiterbewegung nur soweit stärkt, als die Arbeiterklasse, oder zumindest deren Avantgarde, sich keine Illusionen über eine solche Regierung macht. Je stärker und unabhängier die Arbeiterbewegung ist, umso mehr Reformen kann sie einer solchen  Regierung abringen. Je mehr sie sich auf ihre eigenen Organisationen vertraut, umso mehr ist der Weg frei für eine grundsätzliche Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten einerseits und der Bourgeoisie andereseits. Je mehr sie sich aber an die staatliche Macht bindet, umso grösser ist die Gefahr einer bürgerlichen Reaktion”.[10]

Eine linke Regierung ist keinesfalls eine revolutionäre Regierung, die sich im Prozess der Zerschlagung des bürgerlichen Staates herausbildet. Sie verbleibt vielmehr in diesem, lässt diesen intakt und funktioniert so – via den Staat – unvermeidlich als Koalition mit der Bourgeoisie.

Strategie

Eine revolutionäre Strategie sollte Antworten geben auf die Frage, wie die Herrschaft der Bourgeoisie zurückgedrängt, eine Doppelmachtsituation geschaffen und dann, in  einer revolutionären Machtergreifung, der bürgerliche Staat zerschlagen werden kann.

Wir stehen angesichts der immer brutaleren Angriffe der Bourgeoisie, die offensichtlich selbst vor grossen Katastrophen nicht Halt machen wird, vor weiteren grossen Wellen von Massenaufständen. Und das Problem wird sein, ob diese Erhebungen – anders als in den vergangenen 40 Jahren – diesen Angriffen etwas entgegensetzen können. Und dies wird nur möglich sein im Rahmen einer Strategie, die geduldig und hartnäckig auf diejenigen Segmente der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiterklasse setzt, die am kampferprobtesten sind und am entschlossensten die Machtfrage ansteuern. Denn, wie Walter Benjamin in seiner 12. These über die Geschichte  bemerkte: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“. Und nicht die Mittelschichten, an denen beispielsweise das Projekt von Syriza und weitere primär elektoral ausgerichtete Projekte, wie beispielsweise Podemos in Spanien, anknüpfen.[11]

Lenin war in all seinem politischen Denken und Handeln mit der Frage beschäftigt, was tatsächlich notwendig wäre, damit das Proletariat die Macht ergreifen könnte. Nicht rhetorisch oder theoretisch, sondern tatsächlich, und dann genau das zu tun. Die primäre Aufgabe der bolschewistischen Partei lag darin, den entscheidenden Beitrag für den Aufbau eines politischen Instrumentes zu schaffen, das dem klassenbewussten, organisierten Proletariat erlaubt, den Staat und die herrschenden Machtverhältnisse umzustürzen und an dessen Stelle eine sozialistische Demokratie aufzubauen. Dies bedeutete für ihn bei weitem mehr, als über Wahlverfahren im bürgerlichen Staat an die Regierung zu gelangen; ja, der bürgerliche Staat musste durch die Arbeiterklasse in der Schaffung von arbeiter-demokratischen Strukturen der proletarischen Selbstorganisation, in einer proletarischen Klärung der geschaffenen Doppelmachtsituation, zerschlagen werden.[12] Diese strategische Orientierung war entscheidend für den Erfolg der Oktoberrevolution.

In einem Aufsatz aus dem Jahre 2006 bezieht sich der marxistische Intellektuelle und Führer der damaligen LCR, Daniel Bensaïd, auf die Auswirkungen in den Reihen des Marxismus des nachhaltigen Rückzugs der internationalen Arbeiterbewegungen seit der Mitte der 1970er Jahre als „Nullpunkt der Strategie“, d.h., des Verschwindens von Auseinandersetzungen und politischen Kämpfen zwischen den Strömungen der extremen Linken um entscheidende Probleme wie die proletarische  Selbstorganisation, den Fokismus, die Teilnahme oder Nichtteilnahme von Revolutionären an Volksfronten usw.[13]

Laut Bensaïd stehen sich seit der zweiten Nachkriegszeit zwei große „strategische Hypothesen“ gegenüber. Eine der beiden nennt er „aufständischen Generalstreik“, die trotz aller Ungenauigkeit oder Vereinfachung auf eine Revolutionsstrategie mit Vorbild in der russischen Oktoberrevolution von 1917 hinweist. Dies bedeutet eine Revolution, die von der Arbeiterklasse im Bündnis mit den subalternen Klassen angeführt wird. Diese stützt sich auf die Sowjets oder die Arbeiter- und Bauernräte als Organe der Selbstbestimmung und eignet sich die Macht mit Hilfe eines bewaffneten Aufstandes an, der von einer revolutionären marxistischen Partei angeführt wird. Die andere nennt er die „graduelle Strategie“, das was gemeinhin als Reformismus bezeichnet wird. Dieser stützt sich auf den Syndikalismus und den Parlamentarismus als Methoden, um teilweise Verbesserungen zu erreichen. Hierbei handelt es sich bis heute um das wichtigste politische Phänomen, das nicht nur traditionelle reformistische Parteien umfasst – Sozialdemokraten, Stalinisten, Labouristen – sondern auch die Gewerkschaftsführungen, durch die die bürgerliche Ideologie weiten Teilen der Lohnabhängigen übermittelt wird.

Ohne hier weiter auf das Argument von Bensaïd eingehen zu können, wollen wir kritisch seine Schlussfolgerung herausstreichen, dass das „Modell des Oktober“ heute keine angemessene strategische Hypothese mehr darstelle. Dieses Argument hat in der Tat eine erdrückende Breitenwirkung erlangt, und hat sich unter anderem in den Strategien zum Aufbau sogenannter  breiter antikapitalistischer Massenparteien niedergeschlagen, die primär elektoral die Regierungsmacht erobern wollen, um die Angriffe z.B. die Austeritätspolitik abzuwehren. Dies war ja genau das Projekt von Syriza.[14]

Diese Diskussion ist nicht von geringerer Bedeutung. Nach vier Dekaden eines tiefgreifenden Rückgangs des ideologischen Bewusstseins ist die soziale Revolution als Alternative zum kapitalistischen System und im Besonderen die Hypothese des aufständischen Generalstreiks gründlich hinterfragt und aus den strategischen Debatten gelöscht worden, nicht nur von (post)marxistischen Intellektuellen, sondern auch von Organisationen der marxistischen Linken selbst. Von daher etwa die Bedeutung des chavistischen Regimes in Venezuela und der Debatte um einen «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» oder neuerdings des Syriza-Projektes.

Partei

Eine revolutionäre Strategie muss erstens den Willen eines politisch erfahrenen, massgebenden, kämpfend nach vorne drängenden Teiles des Proletariates, einer Avantgarde, ausdrücken, zweitens braucht es ein politisch-organisatorisches Instrument, das diese Strategie praktisch repräsentiert und dessen Verwirklichung, dessen praktische Umsetzung, anführt. Und drittens muss diese Strategie organisch verankert sein in dieser Avantgarde.

Die kollektiv, demokratisch erarbeitete, ja erstrittene politische Handlungsorientierung, um die sich diese Avantgarde sammelt, das revolutionäre Programm, ist  massgebend für eine revolutionäre marxistische Partei. Ob sie breit ist oder nicht, wird – neben anderen Faktoren – durch die Reife der Arbeiterklasse bestimmt. Sind wir bereit, uns für den Sturz des Kapitalismus zu organisieren? Sind alle unser täglichen Interventionen in den Kämpfen, Kampagnen und Debatten darauf ausgerichtet, eine Bewegung zu entwickeln, die anstelle der herrschenden Despotie eine befreite, auf demokratischer Planung beruhende Gesellschaft hervorbringen kann? Sind wir für ein Programm, das diese Orientierung als Grundlage hat? Der Ansatz der breiten antikapitalistischen Parteien jedenfalls scheint in eine andere Richtung zu gehen.[15]

Trotzki schrieb 1937 in Bolschewismus und Stalinismus:

„Reaktionäre Epochen wie die unsere zersetzen und schwächen nicht nur die Arbeiterklasse und isolieren ihre Avantgarde, sondern drücken auch das allgemeine ideologische Niveau der Bewegung herab und werfen das politische Denken auf bereits längst durchlaufene Etappen zurück.

Die Aufgabe der Avantgarde besteht unter diesen Umständen vor allem darin, sich nicht von dem allgemeinen, rückwärts flutenden Strom davontragen zu lassen – es heißt gegen den Strom schwimmen. Wenn ein ungünstiges Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die früher eroberten politischen Positionen zu wahren, gilt es, sich wenigstens auf den ideologischen Positionen zu halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer bezahlten vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine solche Politik als Sektierertum. In Wirklichkeit bereitet sie nur einen gigantischen neuen Sprung vorwärts vor, zusammen mit der Welle des kommenden historischen Aufschwungs.“

Ich denke, dies trifft gerade auch auf unsere Periode zu.

Der Aufbau einer echten revolutionären Partei mit Massencharakter ist nur möglich auf der Grundlage eines breiten, klassenbewussten Teils der Arbeiterklasse. Inmitten des revolutionären Aufschwungs von 1905 in Russland argumentierte Lenin gegen einen Aufruf an alle revolutionären Gruppen, ihre inhaltlichen Differenzen in den Hintergrund zu drängen und sich in einer einzigen Organisation zu vereinen. Er schrieb: „Im Interesse der Revolution sollte unser Ideal keinesfalls sein, alle Strömungen und Auffassungen in einem revolutionären Chaos zu verschmelzen“. (Zitat in LeBlanc). Ich denke, dass die Bedingungen für ein erfolgreiches Projekt von Massen-Anti-Austeritätsparteien auf parlamentarischer Grundlage, geschweige denn von revolutionären Parteien mit Massencharakter vorläufig nirgends gegeben sind. Momentan gilt es, „gegen den Strom  zu schwimmen“, die historischen Erfahrungen einzuverleiben und in den Interventionen aus diesem unverzichtbaren Schatz zu zehren. Um immer und überall in den Kämpfen darauf hinzuweisen, dass die sich türmenden Probleme, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht, eng mit der Eigentumsfrage zusammenhängen. Dass deren Lösung nur durch eine proletarische Lösung, mit der Errichtung einer proletarischen Demokratie, durch einen langen und heftigen Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Staat zu erreichen sein wird. Und nicht durch den Marsch durch die Institutionen des vorderhand immer noch bürgerlichen Staates.

Und in Was tun? (1902) schreibt Lenin über die Eigenschaften der Vertreterinnen und Vertreter dieser Avantgarde:

„Man kann nicht genug betonen, dass … das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muss, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistische Überzeugung und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariates klarzumachen.“

Nun, dies sind nicht gerade Eigenschaften von Leuten und Parteien, die nach Parlamentsmandaten und Regierungspositionen streben und zu diesem Zwecke zu allen möglichen Zugeständnissen an die Bourgeoisie und /oder an die retardierende Segmente der Lohnabhängigen und der Mittelschichten bereit sind.

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Der Autor animiert die Webseite maulwuerfe.ch,  ist Mitglied der Schweizer Gauche anticapitaliste / Antikapitalistische Linke und lebt in Zürich.

Erscheint in inprekorr   vom Januar-Februar 2016.

[1] Siehe etwa : Willi Eberle: Das Syriza-Debakel und die verkannte Machtfrage unter maulwuerfe.ch vom 16. September 2015. Siehe auch den Beitrag in Inprekorr Nr. 2/2014 {508/509] (März/April 2014) „Breite Parteien“ und die Machtfrage in geschichtlicher Perspektive.

[2] Siehe den Vorschlag der belgischen LCR-SAP: L’épreuve de force grecque et l’urgence du débat stratégique à gauche unter www.lcr-lagauche.org vom 15. Juli 2015.

[3] Stathis Kouvelakis: ¿Hacia una gran coalición proausteridad? unter vientosur.info vom 25. November 2015. Diese Entwicklung von Syriza war eigentlich spätestens einige Tage nach dem Regierungsantritt von Ende Januar 2015 absehbar. Siehe dazu den unter Fussnote 1 aufgeführten Beitrag, der einige einschlägige Quellen anführt.

[4] Siehe z.B. Antonio Maestre: El fracaso de Podemos en su intento por huir de la etiqueta extrema izquierda auf www.lamarea.com vom 9. August 2015. Siehe dazu auch den Beitrag von Michel Husson: Podemos tras la rendición griega unter vientosur.info vom 13. November 2015.

[5] Siehe dazu etwa: Chris Harman: The Fire last Time. 1968 and after. Second edition. 1998; Philip Armstrong, Andrew Glyn, John Harrison: Capitalism since 1945. 1984. Michel Husson: Misère du capital. Une critique du néolibéralisme. 1996. Zu der Entwicklung bis hin zu Doppelmachtsituationen und den verfehlten politischen Ansätzen der Linken, vor allem in Rahmen der Volksfrontstrategie,  die diese zum Scheitern brachte: Colin Barker (ed.): Revolutionary Rehearsals. 1987.

[6] Siehe dazu u.a. den Beitrag von Mike Gonzalez in Colin Baker, op. cit. Und die sehr gute Broschüre: AL-Antifaschistische Linke: Chile 1973. Der Putsch der Generäle und das Versagen der Regierung Allende. 2003.

[7] Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century. 1996, Seite 747.

[8] Ernest Mandel: Kritik des Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus? 1978, Seite 53.

[9] Diese hier etwas polemisch verkürzt wiedergegebene Position über «breite antikapitalistische Parteien» kann vielerorts ausführlich nachgelesen werden, z.B. bei  Murray Smith, dem Gründer der Scottish Socialist Party, unter ‚Broad left parties‘: Murray Smith replies to Socialist Alternative’s Mick Armstrong unter links.org vom  23. Juni 2014. Die Nummern 169 (2003) bis 188 (2008) von Critique Communiste, der theoretischen Zeitschrift der damaligen französischen LCR, geben ein breites und nuanciertes Spektrum dieser Debatte. Ein interessanter aktueller Austausch nebst vielen anderen ist etwa der zwischen Catarina Principe (aus dem portugiesischen Bloco de Esquerda) & Dan Russell: Asking the Right Questions unter  www.internationalviewpoint.org  vom 18. September 2015 und der Replik von Todd Chretien: What parties? – A debate: where do socialists belong?  unter www.europe-solidaire.org  vom 19. September 2015.

[10] Chris Harman and Tim Potter: The workers government unter isj.org.uk . Dieser Aufsatz stammt aus dem Jahre 1977 aus Anlass einer Debatte in der italienischen radikalen Linken, dem historischen Kompromisses der PCI eine alternative linke Strategie zur Bildung einer linken Regierung gegenüberzustellen. Siehe auch Paul Blackledge: Once more on left reformism: A reply to Ed Rooksby unter  isj.org.uk vom 9. Januar 2014.

11] Hierzu auch : Nico Biver: Ist Syriza eine politische Formation der Mittelschichten?  unter maulwuerfe.ch vom 8. August 2015.

[12] Paul LeBlanc : Organising for 21st century socialism — Reflections on the history and future of Leninism unter links.org.au vom 8. Juni 2013. Dazu auch sein Buch: Lenin and the Revolutionary Party. 1990.  Siehe dazu natürlich weiterhin W.I.Lenin : Staat und Revolution. 1917.

[13] Sur le retour de la question politico-stratégique in Critique Communiste 181, Seiten 102ff.  Siehe auch die kritische Intervention von Claudia Cinatti: Welche Partei für welche Strategie? Unter www.ft-ci.org vom 2. November 2008.

[14] Beispielsweise Antoine Artous: La LCR et la gauche: sur quelques questions stratégiques. Critique communiste Nr 176, Seiten 175ff.

[15] Siehe unter anderem: Mick Armstrong: A response to Peter Boyle’s ‚What politics to unite the left?‘ unter  www.greenleft.org.au vom 14. Dezember 2012

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