Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie

Zu Trotzkis Konzept der «permanenten Revolution»

Eingereicht on 12. Februar 2016 – 16:07

Michael Löwy. Die Theorie der permanenten Revolution, wie sie zum ersten Mal in seinem Essay Ergebnisse und Perspektiven[i] von 1906 skizziert ist, war einer der erstaunlichsten Durchbrüche des Marxismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Indem er die Auffassung von getrennten historischen Stadien in der zukünftigen  russischen Revolution verwarf – deren erste die «bürgerliche Demokratie» sei – , und die Möglichkeit einer Umwandlung einer demokratischen in eine proletarische / sozialistische Revolution als einen permanenten, ununterbrochenen Prozess erwog, sah diese Theorie nicht nur die Strategie der Oktoberrevolution vorher, sondern lieferte auch entscheidende Einsichten in die anderen revolutionären Prozesse, wie sie sich später in China, Indochina, Kuba und anderswo abspielten. Sicherlich hat auch diese Theorie ihre Mängel und Probleme, aber sie war von unvergleichlich grösserer Bedeutung für die wirklichen revolutionären Prozesse in der Peripherie des kapitalistischen Systems als alles andere, das vom «orthodoxen Marxismus» seit dem Tode von Engels bis 1917 produziert wurde.

In der Tat taucht die Vorstellung der permanenten Revolution bereits bei Marx und Engels auf, insbesondere in ihrer Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, als sich die Deutsche Revolution von 1848 bis 1850 – in einem absolutistischen und rückständigen Lande – sich weiterhin zu entfalten schien. Gegen die unheilige Allianz aus liberaler Bourgeoisie und Absolutismus traten sie für ein gemeinsames Vorgehen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit den kleinbürgerlichen demokratischen Parteien ein.

Aber sie bestanden auf der Notwendigkeit einer unabhängigen proletarischen Perspektive: «Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch …. zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Arbeiterklasse konzentriert sind.»[ii]

Diese bemerkenswerte Stelle verweist auf drei grundlegende Themen, die Trotzki später in Ergebnisse und Perspektiven entwickeln wird: 1) Die ununterbrochene Entwicklung des revolutionären Prozesses in einem halb-feudalen Land, die zu einer Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse führt; 2) die Notwendigkeit zur Ergreifung von anti-kapitalistischen und sozialistischen Massnahmen durch das Proletariat, sobald dieses an die Macht gelangt ist; 3) der internationalistische Charakter des revolutionären Prozesses und der neuen sozialistischen Gesellschaft, die sich von Klassenherrschaft und dem Privateigentum befreit hat.

Die Idee einer sozialistischen Revolution in der rückständigen kapitalistischen Peripherie scheint auch in den Schriften des späten Marx über Russland, wenn auch nicht unter dem Begriff permanente Revolution, durch: der Bief an Vera Sassulitsch von 1881 und, gemeinsam mit Engels, das Vorwort zur russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifestes von 1882. So heist es dort: « Wenn die russische Revolution das Signal zu der Revolution im Westen ertönen lässt, so dass jede die andere ergänzt, dann mag die vorherrschende Form des Gemeineigentums am Boden in Russland den Ausgangspunkt für eine kommunistische Entwicklung abgeben».

Diese Einschätzung scheint im russischen Marxismus, mit Ausnahme Trotzkis, in den Jahren ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917 vergessen worden zu sein. Wenn wir die Halb-Marxisten im populistischen Lager wie beispielsweise Nicolaian, oder die legalen Marxisten wie etwa Piotr Struve, beiseitelassen, so können wir vier klar unterscheidbare Positionen innerhalb der russischen Sozialdemokratie erkennen:

1) Die Position der Menschewiki, die die künftige russische Revolution ihrer Natur nach als bürgerliche auffassten. Von daher betrachteten sie ein Bündnis des Proletariates mit der liberalen Bourgeoisie als die treibende Kraft dahinter. Plechanow und seine Freunde dachten, dass Russland ein rückständiges, «asiatisches» und barbarisches Land sei, das durch eine lange Phase von Industrialisierung und Europäisiserung laufen müsse, bevor das Proletariat nach der Macht streben könne. Erst nachdem Russland die Produktivkräfte hervorgebracht habe und in die geschichtliche Phase des entwickelten Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie eingetreten sei, seien die erforderlichen materiellen und politischen Voraussetzungen für eine sozialistische Umgestaltung geschaffen.

2) Die bolschewistische Auffassung anerkannte ebenfalls den unvermeidlich bürgerlich-demokratischen Charakter der Revolution, aber sie schloss die Bourgeoisie aus dem revolutionären Block aus. Lenin zufolge waren lediglich das Proletariat und die Bauernschaft wirklich revolutionäre Kräfte, die mit ihrem Bündnis zu einer gemeinsamen revolutionär-demokratische Diktatur gezwungen waren. Lenin änderte, wie wir wissen, nach den Aprilthesen von 1917 seine Strategie grundlegend.

3) Parvus und Rosa Luxemburg bestanden auf der hegemonialen Rolle des Proletariates, das durch die Bauernschaft unterstützt wurde, anerkannten aber letztendlich den bürgerlichen Charakter der Revolution. Die Zerschlagung des Zarismus könne ohne die Errrichtung der Arbeitermacht, angeführt von der Sozialdemokratie, nicht gelingen. Eine solche Arbeiterregierung könne in ihren programmatischen Zielen noch nicht über die festen Schranken der bürgerlichen Demokratie hinausgehen.

4) Schlussendlich das Konzept der permanenten Revolution von Trotzki, das nicht nur die hegemoniale Rolle des Proletariates und die Notwendigeit der Machtergreifung beinhaltete, sondern auch die Möglichkeit einer Weiterentwicklung der demokratischen in eine sozialistische Revolution ins Auge fasste.

Eigenartigerweise erwähnt Trotzki in Ergebnisse und Perspektiven keinen der oben erwähnten Texte von Marx und Engels. Wahrscheinlich wusste er nichts von der Ansprache von 1850: die Neu-Herausgabe von 1885 in Zürich, auf Deutsch, war in Russland kaum bekannt. Seine unmittelbare Quelle für den Begriff «permanente Revolution» von 1905 scheint ein Aufsatz von Franz Mehring über die Ereignisse in Russland gewesen zu sein, «Die Revolution in Permanenz», der in die Neue Zeit publiziert wurde, dem theoretischen Organ der Deutschen Sozialdemokratie. Mehrings Aufsatz wurde sogleich in Trotzkis Zeitung Natschalo, die in Petersburg erschien, übersetzt und abgedruckt. In der selben Ausgabe erschien auch Lew Davidowitschs erster Aufsatz, in dem er den Begriff «permanente Revolution» verwendete: «Zwischen dem unmittelbaren Ziel und dem Endziel sollte es eine permanente revolutionäre Kette geben».

Eine aufmerksame Lektüre von Mehrings Text jedoch zeigt, dass der deutsche Marxist zwar die Worte gebrauchte, aber kein wirklicher Verfechter der permanenten Revolution war, wie dies für Trotzki in den Jahren 1905 bis 1906 zutraf. Der eigentliche Kern der Theorie, die Auffassung des ununterbrochenen Übergangs der demokratischen in die sozialistische Revolution, wurde von Mehring zurückgewiesen. Martow, der grosse Führer der Menschewiki, hat dies gut verstanden. In einem viele Jahre später verfassten Werk erinnert er sich an Trotzkis Aufsatz als an «eine störende Abweichung von den theoretischen Grundlagen des Programmes der russischen Sozialdemokratie». Er unterschied dabei klar zwischen der Position von Mehring, die seiner Auffassung nach vertretbar war, und derjenigen von Trotzki, die er als «utopisch» verwarf, da sie jenseits der «historischen Aufgaben lag, die sich aus dem aktuellen Stand der Produktivkräfte» ergeben würden.[iii]

Die in verschiedenen Texten von Trotzki 1905 vorgebrachten Ideen – insbesondere in seinem Vorwort für die russische Übersetzung von Marx’ Schriften zur Pariser Kommune – wurden daraufhin in systematischerer und kohärenterer Form 1906 in Ergebnisse und Perspektiven entwickelt. Dieser kühne Text blieb für lange Zeit ein vergessenes Buch. Allem Anschein nach hat es Lenin nicht gelesen – zumindest nicht vor 1917. Sein Einfluss auf den zeitgenössichen russischen Marxismus war bestenfalls schwach. Wie alle Vorläufer war Trotzki seiner Zeit voraus, und seine Ideen waren zu neu und zu heterodox, um von den Genossinnen und Genossen seiner Partei aufgenommen oder gar studiert zu werden.

Wie war es Trotzki möglich, den gordischen Knoten des Marxismus der Zweiten Internationale zu durchschneiden – die ökonomistische Definition des Charakters einer zukünftigen Revolution aufgrund der «Entwicklungsstufe der Produktivkräfte» – und die revolutionären Möglichkeiten zu erfassen, die über die dogmatische Konstruktion einer bürgerlich-demokratischen russischen Revolution hinausgingen, der unhinterfragten Problematik aller anderen marxistischen Richtungen?

Es scheint eine enge Verbindung zwischen der dialektischen Methode und der revolutionären Theorie zu existieren: Es ist kein Zufall, dass der Höhepunkt revolutionären Denkens im XX. Jahrhundert, die Periode zwischen 1905 und 1925, auch die Periode darstellt mit den interessantesten Versuchen, die hegel-marxistische Dialektik als Instrument der Erkenntnis und der Aktion einzusetzen. Ich möchte versuchen, die Verbindung zwischen Dialektik und Revolution in Trotzkis frühem Werk zu beleuchten.

Ein sorgfältiges Studium der Wurzeln von Trotzkis politischer Kühnheit und der ganzen Theorie der permanenten Revolution zeigt, dass seine Auffassungen durch ein spezifisches Verständnis des Marxismus geprägt waren, einer Interpretation der materialistisch dialektischen Methode, im deutlichen Unterschied von der vorherrschenden Orthodoxie der Zweiten Internaitonale und vom russischen Marxismus.

Der junge Trotzki hat Hegel nicht gelesen. Sein Verständnis der marxistischen Theorie ist vielmehr seinen ersten Lektüren von Werken des historischen Materialismus geschuldet, nämlich denen von Antonio Labriola. In seiner Autobiographie erinnert er sich an die Freude, mit der er zuerst die Werke von Labriola im Jahre 1893 während seiner Gefangenschaft in Odessa gelesen hat. [iv] Er wurde somit durch den vielleicht am wenigsten orthodoxen der wichtigen Führer der Zweiten Internationale in den Marxismus eingeweiht.

Labriola, in der Hegel-Schule herangebildet, kämpfte ohne Unterlass gegen die neo-positivistischen und vulgär-materialistischen Tendenzen, die den Marxismus durchwucherten (Turati!). Er gehörte zu den ersten, die die ökonomistischen Interpretationen des Marxismus zurückwiesen, indem er versuchte, die dialektischen Konzepte von Totalität und Geschichtsprozess wiedereinzuführen und umzusetzen. Laariola verteidigte den historischen Materialismus als ein in sich geschlossenes und unabhängiges theoretisches System, das nicht auf andere Strömungen zurückgeführt werden konnte. Er verwarf den scholastischen Dogmatismus und den Kult des Lehrbuchs und bestand auf einer kritischen Weiterentwicklung des Marxismus.[v]

Trotzkis Ausgangspunkt war deshalb dieses kritische, dialektische und anti-dogmatische Verständnis, von dem Labriola inspiriert war. «Der Marxismus», schrieb er 1906, «ist vor allem eine Methode der Analyse – nicht der Analyse von Texten, sondern der Analyse von sozialen Beziehungen». Wir wollen uns auf fünf der wichtigsten und herausstechendsten Merkmale der Methode beschränken, die Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ausmachen – ganz im Unterschied zu den anderen russischen Marxisten, von Plechanow zu Lenin und von den Menschewiki zu den Bolschewiki (bis 1917).

  1. Vom Standpunkt eines dialektischen Verständnisses der Einheit von Gegensätzen kritisierte Trotzki die starre Unterscheidung der Bolschewiki zwischen der sozialistischen Macht des Proletariats und der «demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern» als einer «logischen, rein formalen Operation». Diese abstrakte Logik wird noch schärfer angegriffen in seiner Polemik gegen Plechanow, dessen ganze Argumentation auf einen «leeren Syllogismus» reduziert werden könne: Unsere Revolution ist bürgerlich, wir sollten deshalb die Kadetten unterstützen, die konstitutionelle bürgerliche Partei. In einer erstaunlichen Textstelle aus einer Kritik gegen den Menschewik Tscherevanin verurteilt er dann den analytischen – d.h. abstrakt-formalen, vor-dialektischen Charakter der menschewistischen Politik: «Tscherevanin baut seine Taktik gleich auf wie Sinoza seine Ethik, d.h. geometrisch».[vi] Selbstverständlich war Trotzki kein Philosoph schrieb kaum je einen spezifisch philosophischen Text; diese Tatsache aber macht seine klarsichtige Einschätzung der methodologischen Dimension dieser Kontroverse über historische Stadien nur umso bemerkenswerter.
  2. Lukàcs bestand in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) darauf, dass die dialektische Kategorie der Totalität das Wesen der Methode von Marx ausmachte, ja, dass dies das eigentliche Prinzip der Revolution im Bereich der Erkenntnis ausmache.[vii] Trotzkis Theorie, die zwanzig Jahre früher niedergeschrieben worden war, ist eine ausnehmend bedeutungsvolle Illustration der These von Lukács. In der Tat besteht eine der wesentlichen Quellen der Überlegenheit von Trotzkis revolutionärem Denken darin, dass er die Sichtweise der Totalität einnahm und den Kapitalismus und den Klassenkampf als weltweiten Prozess auffasste. Im Vorwort zur russischen Herausgabe von Lasalles Artikeln (1905) über die 1848-er Revolution argumentiert er: «Indem er alle Länder mit seiner Produktionsweise und ihrem Handel zusammenbindet, hat der Kapitalismus die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt (…) Dies verleiht den aktuellen Ereignissen einen unmittelbar internationalen Charakter und eröffnet einen weiten Horizont. Die durch die Arbeiterklasse angeführte politische Befreiung Russlands (…) wird sie zum Auslöser der Abschaffung des weltweiten Kapitalismus machen; die Geschichte hat dazu die objektiven Voraussetzungen geschaffen».[viii] Nur indem das Problem auf dieser Ebene formuliert wurde – als Reife des kapitalistischen Systems in seiner Totalität – war es möglich, die traditionelle Perspektive der russischen Marxisten zu überwinden, die die sozialistische-revolutionäre Unreife Russlands ausschliesslich auf Grundlage eines national-ökonomischen Determinismus definierten.
  3. Trotzki wies den undialektischen Ökonomismus ausdrücklich zurück – die Tendenz, in einer unvermittelten und einseitigen Art und Weise alle sozialen, politischen und ideologischen Widersprüche auf die ökonomische Grundstruktur zu reduzieren, wie dies ein Kennzeichen von Plechanows vulgär-materialistischer Auslegung des Marxismus war. Trotskis Bruch mit dem Ökonomismus war tatsächlich ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution. Ein zentraler Abschnitt in Ergebnisse und Perspektiven umreisst mit grosser Genauigkeit, um was es bei diesem Bruch politisch geht: «Aber Tag und Stunde, an denen die Macht an die Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schliesslich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft… Die Vorstellung, dass die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Voruteil eines bis ins Extrem vereinfachten ökonomischen Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein».[ix]
  4. Trotzkis Methode wies die undialektische Auffassung von Geschichte als einer vorbestimmten Entwicklung zurück, wie sie für den Menschewismus typisch war. Er verfügte über ein reiches und dialektisches Verständnis von geschichtlicher Entwicklung als einem Prozess voller Widersprüche, in dem zu jedem Zeitpunkt Alternativen bestehen. Die Aufgabe des Marxismus, so schrieb er, lag gerade darin, «die Möglichkeiten der sich entwickelnden Revolution …. zu erkennen».[x] In Ergebnisse und Perspektiven, wie auch in späteren Schrfften – beispielsweise in seiner Polemik gegen die Menschewiki «Die Arbeiterklasse und die russische Revolution» (1908) analysiert er den Prozess der permanenten Revolution in Richtung auf eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft mithilfe des dialektischen Prinzips der objektiven Möglichkeit; das Resultat dieses Prozesses hängt dabei von zahllosen subjektiven Faktoren und unvorhersehbaren Ereignissen ab, und ist keinesfalls eine unausweichliche Notwendigkeit, deren Triumph (oder Scheitern) von vorneherein feststand. Es war diese Anerkennung der offenen Natur der sozialen Geschichte, die ab 1905 der revolutionären Praxis ihren entscheidenden Platz in der Architektur der theoretisch-politischen Ideen Trotzkis verlieh.
  5. Während die Populisten auf den Besonderheiten Russlands bestanden und die Menschewiki daran glaubten, dass ihr Land notwendigerweise «allgemeinen Gesetzen» kapitalistischer Entwicklung folgen würde, brachte Trotzki eine dialektische Synthese zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zustande, dem globalen Prozess kapitalistischer Entwicklung und den Besonderheiten der sozialen Formation Russlands. In einer bemerkenswerten Passage aus seiner Geschichte der russischen Revolution (1930) formuliert er diese Sichtweise, die bereits in seinen Schriften von 1906 implizit niederglegt war: «Ihrem Wesen nach waren die slawophile Auffassung mit all ihren reaktionären Phantasterein, und der Narodismus mit all seinen demokratischen Illusionen überhaupt nicht nur blosse Spekulationen. Sie beruhten zweifelsohne vielmehr auf tiefen Besonderheiten der russischen Entwicklung, die jedoch einseitig aufgefasst und falsch eingeschätzt werden. Der russische Marxismus ist in seinem Kampf gegen den Narodismus nicht selten in einen dogmatischen Mechanizismus verfallen, wenn er die Übereinstimmung der Entwicklungsgesetzte für alle Länder nachweisen wollte und hat dabei das Kind mit Bade ausgeschüttet».[xi] Trotzkis historische Perspektive war deshalb eine dialektische Aufhebung, imstande, gleichzeitig den Widerspruch zwischen den Populisten und den russischen Marxisten zu negieren-zu bewahren-zu überschreiten.

Es war die Kobination all dieser methodologischen Erneuerungen, die Ergebnisse und Perspektiven so einzigartig in der Landschaft des russischen Marxismus vor 1917 machte; Dialektik stand im Zentrum der Theorie der permanenten Revolution. Wie Isaac Deutscher in seiner Trotzki Biografie zu diesem Text von 1906 schrieb: «Man ist einfach nur beeindruckt vom Schwung und von der Kühnheit seiner Vision. Er erkundete die Zukunft als einer, der auf einem alles überragenden Berg steht und in einen neuen und unendlichen Horizont blickt und auf weite, unerschlossene Marksteine in weiter Ferne verweist».[xii]

Eine ähnliche Verbindung zwischen Dialektik und revolutionärer Politik kann in der Entwicklung Lenins ausgemacht werden. Wladimir Illitsch blieb bis 1914 jedoch ein Anhänger der orthodoxen Auffassungen des russischen Marxismus, als der beginnende Krieg ihn zur Entdeckung der Dialektik trieb: Das Studium der Hegelschen Logik war das Instrument, mit dem er den theoretischen Weg zur finnischen Bahnstation in Petersburg bereitete, wo er zuerst die Losung «alle Macht den Sowjets» verkündete. Im März und April 1917, von den Schranken des vordialektischen Marxismus befreit, konnte Lenin unter dem Druck der Ereignisse in kurzer Zeit dessen logische Folge hinter sich lassen: Den abstrakten und starren Grundsatz, dass «die russische Revolution nur eine bürgerliche sein konnte, weil Russland für eine sozialistische Revolution ökonomisch noch nicht reif wäre».

Als er dann den Rubikon überschritt, machte er sich daran, das Problem aus einem praktischen, konkreten und realistischen Gesichtspunkt aus anzugehen; er kam dabei zu Schlussfolgerunngen, die denjenigen, wie sie Trotzki 1906 gezogen hat, sehr ähnelten: Was sind die Massnahmen, die von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert würden, der Masse der Bauern und Bäuerinnen, den Arbeiterinnen und Arbeitern? Und dies genau der Weg, der zur Oktober-Revolution führte….

Quelle: The Marxism of Trotsky’s „Results and Prospects“: A decisive break with the mechanical Marxism of the 2nd International vom 6. September 2006. Übertragung ins Deutsche durch Redaktion maulwuerfe.ch

———-

[i] Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution. In Buchform z.B. in: Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven. Trotzki-Bibliothek, 1993. Seiten 189 ff.

[ii] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund (März 1850).

[iii] Martov, Geschichte der Russischen Sozialdemokratie, Berlin, 196, pp. 164-165.

[iv] Trotzki, Mein Leben, Berlin, 1961, Seite 121.

[v] Antonio Labriola, Über den historischen Materialismus, Frankfurt a.M., 1974, Seiten 139ff.

[vi] Trotsky, “The proletariat and the Russian revolution”, and “Our Differences”in 1905, London, 1971, p. 289, 306-312. Eine deutsche Ausgabe konnte nicht ausfindig gemacht werden [AdÜ]

[vii] Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution. In Buchform z.B. in: Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven. Trotzki-Bibliothek, 1993. Seiten 189 ff.

[vii] Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund (März 1850).

[vii] Martov, Geschichte der Russischen Sozialdemokratie, Berlin, 196, pp. 164-165.

[vii] Trotzki, Mein Leben, Berlin, 1961, Seite 121.

[vii] Antonio Labriola, Über den historischen Materialismus, Frankfurt a.M., 1974, Seiten 139ff.

[vii] Trotsky, “The proletariat and the Russian revolution”, and “Our Differences”in 1905, London, 1971, p. 289, 306-312. Eine deutsche Ausgabe konnte nicht ausfindig gemacht werden [AdÜ]

[vii] Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt und Neuwied, 1968, 1. Kapitel

[viii] Aus Results and Prospects, London, 1962, p. 240. Eine deutsche Ausgabe konnte nicht ausfindig gemacht werden [AdÜ]

[ix] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, op. cit, pp224f.

[x] Op. cit. 198.

[xi] Trotsky, History of the Russian Revolution, London, 1965, vol. I, p. 427. Die Stelle konnte in der deutschen Ausgabe nicht lokalisiert werden [AdÜ].

[xii] Isaac Deutscher, The Prophet Armed, London, 1954, p. 161.

Tags: , , , ,