Venezuela – eine letzte Warnung
Jorge Martin. Der Bolivarischen Revolution drohen tödliche Gefahren. Alle Errungenschaften stehen auf dem Spiel. Gescheitert ist nicht der Sozialismus, sondern der Versuch einer Regulierung des Kapitalismus.
Die Offensive gegen die Bolivarische Revolution hat sich die letzten Wochen und Tage intensiviert. Leitartikel und Schlagzeilen in Zeitungen aus den USA und Spanien empören sich über Hunger in Venezuela und fordern das Absetzen des „diktatorischen Regimes“. Anhaltende Probleme mit Mangel und Güterverknappung haben zu Fällen von Plünderungen geführt. Die rechte Opposition versucht, den Präsidenten mithilfe eines Referendums abzusägen. Sie ruft aber auch zu Gewalt auf und bittet fremde Mächte bis hin zu einer militärischen Intervention. Was geschieht tatsächlich in Venezuela und wie kann diesen Bedrohungen begegnet werden?
Am Freitag, den 13. Mai, verlängerte der venezolanische Präsident Maduro das „Dekret über den wirtschaftlichen Notstand“, welches ihm im Januar zusätzliche Vollmachten verschafft hatte. Im Rahmen eines für weitere sechzig Tage andauernden Notstands hat er weitreichende Befugnisse, um sich der feindlichen, militärischen Bedrohung von außen, aber auch der Krise um die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung zu stellen.
Wie es zu erwarten war, stimmten die kapitalistischen Medien weltweit in den Chor der Denunziation mit ein, empörten sich über die „Diktatur“, während einer der wesentlichen Führer der rechten Opposition, Capriles Radonski, die Bevölkerung öffentlich aufrief, sich dem Dekret zu widersetzen. Die Bedrohungen sind nichtsdestotrotz sehr real. Lasst mich dafür einige Beispiele heranführen. Einen Monat zuvor rief ein Leitartikel der Washington Post offen dazu auf, eine „politische Intervention“ gegen den venezolanischen Nachbar in Gang zu setzen. Am Wochenende forderte der ehemalige kolumbianische Präsident Alvaro Uribe auf einer „Einigkeits-Sitzung“ in Miami den Putsch des venezolanischen Militärs oder, falls dies scheitern sollte, eine ausländische militärische Intervention gegen die „Tyrannei“.
Die rechte Opposition Venezuelas hat wiederholt die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) dazu aufgefordert, ihre „demokratische Carta“ anzuwenden, um gegen Präsident Maduro zu intervenieren. Sie fühlen sich bestätigt durch die erfolgreiche Absetzung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien und wollen nun so schnell wie möglich den gleichen Weg gehen, wobei ihnen jedes Mittel Recht ist, legal oder illegal. Der einflussreiche, rechte Blogger und venezolanische Journalist Francisco Toro (Herausgeber der Caracas Chronicles) hat vor kurzem einen Artikel geschrieben und darin offen das Pro und Kontra eines Putsches erörtert. Der Putsch wäre nach seiner Lesart „verfassungsmäßig und „das Gegenteil eines Verbrechens“. Mitte Mai hat die venezolanische Regierung die Verletzung des venezolanischen Luftraums durch Luftstreitkräfte der USA gemeldet.
In einem Versuch, aus den schweren wirtschaftlichen Problemen Nutzen zu schlagen, hat die reaktionäre Opposition eifrig versucht, Chaos und Gewalt herbeizuführen und dadurch einen Putsch oder eine Intervention zu rechtfertigen und die Absetzung des Präsidenten Nicolas Maduro zu erwirken. Es gab Fälle von Gewalt in Zulia und Tachira. Es gibt konstante, überwiegend falsche Gerüchte um Plünderungen und Aufstände.
Eine ernste Krise
Der Verfasser dieses Artikels ist seit dreizehn Jahren bei der Verteidigung der bolivarischen Revolution engagiert, hat das Land oft besucht und regelmäßig darüber geschrieben. Nichts davon, was eben beschrieben worden ist, ist neu. Schon am Anfang der bolivarischen Revolution, als Hugo Chávez 1998 erstmals gewählt wurde, und besonders seit den Ermächtigungsgesetzen vom Dezember 2001 haben die venezolanische Oligarchie und der Imperialismus sich an einer ständig laufenden Kampagne von Verleumdung, Gewalt, Destabilisierung, Putschen, Lügen und Verdrehungen, diplomatischem Druck und ökonomischer Sabotage beteiligt.
Dieses Mal ist aber etwas anders. In all den vorherigen Situationen hat es der revolutionäre Wille der bolivarischen Masse von Arbeitern, Bauern und Armen vermocht, dem konterrevolutionären Versuch zum Abwürgen der bolivarischen Revolution zu widerstehen.
Das war sogar der Fall während des Putsches im April 2002 und dann während dem Embargo und der Sabotage an der Ölindustrie im Dezember desselben Jahres, also noch bevor die Revolution fähig war, spürbare Verbesserungen des Lebensstandards zu realisieren. Die Errungenschaften kamen hauptsächlich, nachdem die Regierung 2003 die volle Kontrolle über die staatseigene Ölindustrie erlangt hatte.
Zehn Jahre lang gelang es der Revolution, weitreichende Reformen und massive Verbesserungen des Lebensstandards der Bevölkerung zu erreichen. Das war begleitet von einem Prozess der politischen Radikalisierung, in welcher schließlich Präsident Chávez und die revolutionären Massen sich gegenseitig vorantrieben. Der Sozialismus wurde zum Ziel der Bolivarischen Revolution erklärt, es gab viele Erfahrungen mit Arbeiterkontrolle, Fabriken wurden besetzt und die alten Besitzer enteignet, Firmen wurden wieder verstaatlicht. Millionen wurden auf allen Ebenen aktiv beim Bestreben, die Zukunft in ihre eigenen Hände zu nehmen. Der Motor der Revolution und die Quelle ihrer Stärke, welche es ihr erlaubte, alle Angriffe der Oligarchie und des Imperialismus abzuwehren, waren die revolutionären Massen. Sie waren aktiv, politisch bewusst und auf allen Ebenen engagiert.
Sicherlich wurde diese Periode abgesichert durch den hohen Rohölpreis (welcher 2008 seine Spitze bei über 140 Dollar pro Barrel erreichte). Die Regierung konnte eine große Menge an Geld aus den Einnahmen der Ölindustrie für Sozialprogramme einsetzen, die Millionen Menschen zugutekamen (Bildung, Gesundheitswesen, Lebensmittel, Wohnungen, Renten usw.). Die Frage der Übernahme der Produktionsmittel wurde nicht sofort gestellt.
Der Kapitalismus lässt sich nicht regulieren
Es wurden Maßnahmen getroffen, die dem normalen Funktionieren des freien Marktes im Kapitalismus Grenzen setzten, damit die Revolution gegen die Sabotage der herrschenden Klasse verteidigt werden konnte. Dazu gehörte die Kontrolle über Devisen und den Zahlungsverkehr mit dem Ausland (um Kapitalflucht aus Venezuela zu verhindern) und Preiskontrollen über Grundnahrungsmittel (um die Kaufkraft der Armen zu erhalten).
Schnell fanden die Kapitalisten Mittel und Wege, um diese Maßnahmen zu umgehen. Die Kontrolle des Zahlungsverkehrs wurde ein Schwindel und führte dazu, dass harte Währung aus den Öleinnahmen direkt in den Taschen der skrupellosen Kapitalisten landete. Wie war das möglich? Die Regierung subventionierte den Wechselkurs, mit dem Grundnahrungsmittel ebenso wie Teile für die Industrie importiert werden sollten.
Die privaten Kapitalisten rissen sich um Vorzugsdollars, die sie dann wieder in den Schwarzmarkt schleusten (der eine zwangsläufige Nebenwirkung der Währungskontrollen war) oder auf ausländische Bankkonten einzahlten. So erlebten wir die unglaubliche Situation, dass das Importvolumen abnahm, während die Importe dem Wert nach (in Dollar) massiv stiegen. Der marxistische Ökonom Manuel Sutherland hat die Zahlen für die Importe der pharmazeutischen Produkte ermittelt.
2003 importierte Venezuela Pharmaprodukte für 1,96 US-Dollar pro kg. Bis 2014 war der Preis auf 86,80 US-Dollar pro kg gestiegen. Das Importvolumen war um 87% eingebrochen, aber gleichzeitig versechsfachte sich der Preis! Ähnliche Zahlen lassen sich auch aus anderen Wirtschaftsbereichen heranführen, in denen private Kapitalisten subventionierte Dollars erhielten, um Waren zu importieren.
Eine ähnliche Lage ergab sich auch bei den Preiskontrollen. Der private Sektor, der immer noch annähernd eine Monopolstellung bei der Produktion und -verarbeitung von zahlreichen Grundnahrungsmitteln und Waren des täglichen Bedarfs hat, sträubte sich gegen die Produktion von Waren, die unter Preiskontrolle gestellt wurden. So kam es etwa dazu, dass die Preiskontrollen für Reis dadurch umgangen wurden, dass die Kapitalisten farbliche oder geschmackliche Variationen produzieren ließen, für die es keine Preiskontrollen gab.
Diese Blockade der Produktion durch die Privatkapitalisten überließ dem Staat die gesamte Last der Produktion und Verteilung von Grundnahrungsmitteln. Der Staat importierte Lebensmittel aus dem Weltmarkt, zahlte dafür Weltmarktpreise mit Öldollars und verkaufte die Waren zu stark subventionierten Preisen in staatlichen Supermarktketten (PDVAL, MERCAL, Bicentenario).
Eine Zeitlang funktionierte die aufgrund hoher Rohölpreise mehr oder weniger. Sobald sich der Ölpreis jedoch im freien Fall befand und die Wirtschaft in eine tiefe Rezession abglitt, stürzte das gesamte Konstrukt wie ein Kartenhaus zusammen. 2014 verkaufte sich venezolanisches Öl immer noch für 88 Euro pro Barrel. 2015 halbierte sich der Preis auf 44 Dollar. Im Januar 2016 erreichte der Ölpreis mit 24 Dollar sein Zehn-Jahres-Tief.
Um die Sozialprogramme (einschließlich der subventionierten Lebensmittel) weiterhin zu finanzieren, begann der Staat massive Geldmengen ohne realen Gegenwert zu drucken. Von 1999 bis 2015 steigerte sich die Geldmenge M2 um über 15.000 Prozent!
Die Kombination aus eine massiven Kapitalflucht, der Herausbildung eines riesigen Dollar-Schwarzmarktes, einer massiven Ausweitung der Geldmenge zu Zeiten der wirtschaftlichen Rezession (2014 -3.9; 2015 -5.7%) löste zwangsläufig eine Hyperinflation aus. 2014 erreichte die Inflationsrate nach Angaben der Venezolanischen Zentralbank das Rekordniveau von 68 Prozent, aber 2015 war sie mit 180% deutlich höher. Dabei war die Inflation bei Lebensmittel und nichtalkoholischen Getränken noch überdurchschnittlich.
Der Schwarzmarkt-Wechselkurs für den Dollar schnellte von 187 Bolivares pro Dollar im Januar 2015 auf derzeit über 1.000 Bolivares pro Dollar hoch (im Februar 2016 lag er zeitweilig sogar bei 1.200 Bolivares). Das ist der Wechselkurs, auf dessen Grundlage jetzt die meisten Preise für Produkte kalkuliert werden.
Eine weitere Folge dieser massiven wirtschaftlichen Verwerfungen ist der massive Abbau der Währungsreserven. Sie sind nach offiziellen Angaben der Zentralbank von 24 Mrd. US-Dollar Anfang 2015 auf mittlerweile 12,7 Mrd. US-Dollar geschrumpft.
Diese ernste Notlage hat zur Folge, dass die Lebensmittelimporte durch die Regierung stark zurückgegangen sind. Das gesamte Importvolumen ist 2015 um 18.7% geschrumpft. Dadurch wurde eine permanente Knappheit an Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs ausgelöst, die in den staatlichen Supermärkten zu regulierten Preisen verkauft werden. Dadurch wiederum entstand für diese Waren ein riesiger Schwarzmarkt. Die Wurzel hierfür liegt in der Güterknappheit, die dann wiederum durch die Existenz des Schwarzmarkts weiter vertieft wird. Der riesige Unterschied zwischen den regulierten Preisen (mit immer knapperen Waren) und den Schwarzmarktpreisen wirkt wie ein riesiger Magnet für den Schwarzmarkt.
Die Regierung hat den staatlichen Mindestlohn in den beiden vergangenen Jahren mehrfach angehoben – von etwa 10.000 Bs im November 2015 auf derzeit 15.000, wobei dann noch Lebensmittelzuschläge in Höhe von 18.000 Bs. hinzukommen. Doch das reicht immer noch nicht aus, wenn man die meisten Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt erwerben muss. Die staatlichen Lebensmittelimporte sind stark zurückgegangen und die Knappheit an preisregulierten Produkten hat zugenommen, so dass die Menschen immer mehr Güter des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt kaufen müssen.
Die Knappheit hat die Korruption auf allen Ebenen gefördert. So werden Produkte von staatlichen Lebensmittelketten auf den Schwarzmarkt „umgeleitet“. Korruption fängt bei der Familie an, die stundenlang Schlange steht und dann die eingekauften Waren weiterverkauft. Sie berührt die Geschäftsführer der staatlichen Supermärkte, die Lkw-Ladungen voller Produkte umlenken (dabei drücken die Offiziere der Nationalgarde, die den Laden bewachen sollen, alle Augen zu.). Korruption erfasst kriminelle Vereinigungen, die Leute anstellen, damit sie stundenlang Schlange stehen und alle verfügbaren subventionierten Waren aufkaufen (dabei bedrohen und bestechen sie die Angestellten des Supermarkts, die Angehörigen der Nationalgarde, die Geschäftsführer etc.). Korruption ist auch, wenn der Direktor der staatlichen Supermarktkette Bicentenario ganze Schiffsladungen voller Waren „umlenkt“.
Dazu kommen 1001 verschiedene Methoden, mit denen der private Sektor das System der Preisregulierungen aufbricht. Maismehl ist dauernd knapp, aber die Arepa-Restaurants haben immer reichlich Lagerbestände. Hähnchenfleisch gibt es zu regulierten Preisen eigentlich kaum zu kaufen, aber Imbissbuden haben immer genug im Angebot. Weizenmehl gibt es zum amtlich regulierten Preis nicht zu kaufen, aber für Bäckereien ist der Mangel an Mehl ein Vorwand, um nicht den normalen Brotlaib herzustellen, dessen Preis reguliert ist, sondern auf wundersame Weise andere Variationen von Brot, Kuchen und Keksen, die natürlich auch mit Mehl hergestellt werden. Was steckt hinter diesen geheimnisvollen Erscheinungen? Einfach die Tatsache, dass private Großhändler diese Firmen beliefern, allerdings nicht zu den regulierten Preisen.
Jeder Versuch, mit repressiven Maßnahmen gegen den Schwarzmarkt vorzugehen, auch wenn dies nötig wäre, ist zum Scheitern verurteilt. Die Ursache und Wurzel der Probleme liegt darin, dass die Regierung nicht imstande ist, die gesamte Menge der nachgefragten Waren aufzutreiben und gleichzeitig der private Sektor nicht bereit ist, Waren zu den von der Regierung vorgegebenen Festpreisen zu produzieren oder zu verkaufen.
Ein Hauptgrund der unhaltbaren wirtschaftlichen Verwerfungen liegt daher in der „natürlichen“ Rebellion der kapitalistischen Produzenten gegen jeglichen Versuch einer Regulierung der normalen Funktionsweise des „freien Marktes“. Genau darin liegt die wirkliche Bedeutung des „Wirtschaftskrieges“, den die bolivarische Regierung seit vielen Jahren anprangert. Ja, es gibt zweifellos ein Element der wirtschaftlichen Sabotage, mit der die arbeitende Bevölkerung getroffen und von ihrer Unterstützung für die Revolution abgelenkt werden soll. Aber gleichzeitig ist es nachvollziehbar, dass es vom Klassenstandpunkt der Kapitalisten betrachtet keinen Sinn macht, preisregulierte Produkte herzustellen und zu mäßigen Gewinnen oder auch unter Verlust zu vertreiben, solange sie auf dem Schwarzmarkt Profitspannen von 100, 1000 oder noch mehr Prozent erzielen können.
In Venezuela ist nicht der „Sozialismus“ gescheitert, wie es die bürgerlich-kapitalistischen Medien in ihren Propagandakampagnen behaupten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gescheitert ist der Versuch, den Kapitalismus mit Regulierungen wenn auch nur teilweise im Interesse der arbeitenden Menschen zum Funktionieren zu bringen. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Der Kapitalismus lässt sich nicht regulieren. Dieser Versuch hat massive wirtschaftliche Verwerfungen ausgelöst.
Die Reaktion der Regierung: Appelle an die Privatwirtschaft
Die Mehrzahl der Bevölkerung ist sich mehr oder weniger der schändlichen Rolle bewusst, die die privaten Unternehmen wie der Polar-Konzern derzeit spielen, indem sie Waren horten, Schwindel und Wucher betreiben, von Schwarzmarkt und Spekulation profitieren. Das Problem ist nicht, dass die Menschen etwa nicht sähen, dass die Privatwirtschaft die Volkswirtschaft ruiniert. Das Problem ist vielmehr, dass die Massen nicht erkennen, dass die Regierung überhaupt fähig oder willens ist, die notwendigen Schritte zur Lösung der Probleme einzuleiten.
Zu den Problemen der Lebensmittelverknappung und Kriminalität kommen noch die Auswirkungen der extremen Dürre hinzu, die das Land als Folge des Klimaphänomens El Niño erfasst haben. Dadurch ist die Stromproduktion am Staudamm und Wasserkraftwerk El Guiri ins Stocken gekommen. So kommt es seit Monaten zu Stromausfällen. Im April verhängte die Regierung eine Zwei-Tage-Woche für den öffentlichen Dienst, um somit Strom einzusparen.
Selbst in dieser Frage müssen wir eine gezielte Kampagne zur Sabotage der landesweiten Energienetze feststellen. Seit Jahren gibt es regelmäßige Bombenanschläge auf Kraftwerke und Umspannwerke in verschiedenen Landesteilen. Meistens fallen sie mit Wahlkämpfen und Zeiten erhöhter politischer Spannungen zusammen. Ihr Zweck liegt darin, Stromausfälle zu provozieren und eine Stimmung von Zusammenbruch, Chaos und Instabilität zu schüren.
Wie hat die Regierung auf diese extremen Probleme reagiert? Mindestens seit 2014 war offenkundig, dass das vorherige Modell einer Regulierung des Kapitalismus und des Umlenkens der Öleinnahmen zur Finanzierung von Sozialprogrammen gescheitert war. Eigentlicher Wendepunkt war das Ausscheiden der früheren Finanzministers Giordani aus der Regierung im Juli 2014. Seither zielt die vorherrschende Linie der Wirtschaftspolitik der Regierung darauf ab, den Kapitalisten noch mehr Zugeständnisse zu machen. Man hofft damit ihr Vertrauen zu erlangen und sie dazu zu bringen, dass sie mit der Regierung an einem Strang ziehen und die Lage mit verbessern. Diese Orientierung schlägt sich in einer Reihe von konkreten Maßnahmen nieder. So wurde der Außenhandel teilweise liberalisiert. Die Subventionen für Benzin wurden teilweise abgeschafft. Eine Sonderwirtschaftszone wurde eingerichtet, um direkte Auslandsinvestitionen anzulocken. Venezolanisches Privatkapital, dass im Ausland gebunkert war, soll wieder ins Land geholt werden. 111.000 Quadratkilometer Land im Orinoco-Gebiet wurden für den umstrittenen Bergbau im Rahmen des Projekts Arco Minero (Minen-Bogen) freigegeben.
Keine diese Maßnahmen hat funktioniert. Die Regierung redet regelmäßig mit Geschäftsleuten, macht ihnen große Zugeständnisse und ruft sie zu Investitionen auf. Bei der nächsten Gesprächsrunde verlangen die Geschäftsleute dann ein noch größeres Entgegenkommen. Aber die Wirtschaft kommt nicht aus der tiefen Krise heraus.
Um fair zu sein, sollten wir nicht unerwähnt lassen, dass die Zugeständnisse der Regierung an die Privatwirtschaft hin und wieder einhergehen mit der Androhung von Enteignungen. Aber diesen Drohgebärden folgen nie Taten. So verlängerte Präsident Maduro am 13. Mai den wirtschaftlichen Notstand und kündigte Sondervollmachten für weitere 60 Tage an. Dabei droht er den Eigentümern stillgelegter Fabriken ausdrücklich mit Enteignung und Überführung unter die Kontrolle kommunaler Räte. Keine 48 Stunden später beruhigte der auch für Wirtschaftspolitik zuständige Vizepräsident Perez Abad in einem Interview das internationale Kapital mit der Aussage, dass er eine Enteignung und Übernahme von Betrieben ausschließe, die aufgrund von Rohstoffmangel stillstehen. Gleichzeitig unterstrich er die Entschlossenheit seiner Regierung, ihren Zahlungsverpflichtungen aus den Auslandsschulden voll und pünktlich nachzukommen. Dies werde natürlich auch einen Rückgang der Importe im Jahr 2016 nach sich ziehen.
Auch wenn Präsident Maduros Enteignungsdrohung in den internationalen Medien ein starkes Echo fand, nehmen die Menschen in Venezuela solche Worte kaum ernst. Denn er hat schon so oft der Kapitalistenklasse und dem Polar-Konzern mit der Enteignung gedroht, dass ihm das keiner mehr abnimmt. Denn wo immer in den letzten Monaten und Jahren Belegschaften ihre stillgelegten Betriebe besetzt und übernommen haben, waren sie mit unendlichen bürokratischen Hindernissen oder direkter Repression durch die bolivarische Polizei konfrontiert. Auch wenn die unter Hugo Chávez eingeführten Gesetze arbeiterfreundlich sind und eine Enteignung stillgelegter Betriebe und Arbeiterkontrolle zulassen, sind in den meisten Fällen die zuständigen Aufsichtsbehörden auf der Seite der Kapitalistenklasse. Anstatt die Enteignung umzusetzen, geben sie den Eigentümern eine Fristverlängerung für die Zahlung ausstehender Löhne und Wiederinbetriebnahme der Produktion und demoralisieren somit die kämpfenden ArbeiterInnen.
Perez Abad ist ein prominenter Repräsentant dieses Flügels, der auf Zugeständnisse an die Kapitalistenklasse setzt. Er ist von Haus aus Geschäftsmann und ehemaliger Präsident eines Unternehmerverbands. Er hat erst im Februar das Wirtschaftsministerium übernommen. Sein Vorgänger Luis Salas galt für die Kapitalistenklasse als „radikal“. Kurz bevor Maduro eine Verlängerung der wirtschaftlichen Notstandsvollmachten ankündigte, hatte Perez Abad nach Rücksprachen mit den betreffenden Kapitalisten bereits eine weitere Preiserhöhung für regulierte Waren angekündigt.
In jüngster Zeit versuchte die Regierung mit der Förderung örtlicher Versorgungs- und Produktionsausschüsse das Problem der Warenknappheit anzupacken. Dabei sollen diese organisierten dezentralen Ausschüsse selbst die Verteilung der subventionierten Lebensmittel an die Familien übernehmen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung und könnte zur Stärkung von Basisorganisationen dienen. Allerdings war die Wirkung bisher sehr begrenzt, zumal es hier nur um die Frage der Verteilung geht, nicht aber um die viel wichtigere und zentralere Frage der Produktion und Verarbeitung.
Auswirkung auf das Bewusstsein
Wie bereits erwähnt ist jetzt die Stimmung in Venezuela nicht mehr wie früher. Was hat sich im Vergleich zu früheren Vorstößen der Konterrevolution geändert, die erfolgreich abgewehrt wurden? Die ständige Anspannung der Menschen, wenn sie stundenlang für Grundnahrungsmittel Schlange stehen müssen, die Unsicherheit durch Knappheit und Hyperinflation. Und diese Zustände dauern jetzt über ein Jahr an, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Im Gegenteil wird es noch schlimmer. Und die Massen erkennen, dass diejenigen, die sich als „bolivarisch“ bezeichnen und an den Schaltstellen der Macht sitzen, selbst massiv von der Korruption profitieren. Der Kampf gegen die Bürokratie in der eigenen Bewegung ermüdet sehr. All dies schlägt sich im Bewusstsein einer wichtigen Schicht der Bevölkerung nieder, die bislang die Revolution unterstützt hat. Dies erklärt die wesentliche Ursache für die Wahlniederlage der Sozialistischen Partei PSUV in den Parlamentswahlen im Dezember 2015. Erstmals seit 18 Jahren hat die rechte Opposition landesweite Wahlen gewonnen. Das Lager der bolivarischen Revolution verlor etwa zwei Millionen Stimmen, so dass die rechte Opposition eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung errang.
Diese Niederlage hat zu einem institutionellen Patt im Staatsapparat geführt. Die rechte Parlamentsmehrheit hat bereits einige reaktionäre Gesetze beschlossen – so etwa ein skandalöses Amnestiegesetz oder die Privatisierung von Sozialwohnungen. Aber die Umsetzung dieser Gesetze wurde bisher durch den Präsidenten oder das Oberste Gericht ausgebremst. Gleichzeitig werden Vorstöße und Initiativen des Präsidenten vom Parlament außer Kraft gesetzt.
Derzeit arbeitet die Opposition auf ein Abwahlreferendum gegen den Präsidenten hin. Dies war übrigens eine demokratische Errungenschaft der Bolivarischen Revolution unter Hugo Chávez. Um das Begehren anzustoßen, ist eine bestimmte Anzahl von Unterschriften nötig. Dann müssen in einer zweiten Stufe 20 Prozent der Wahlberechtigten, also rund 3,9 Millionen Menschen, sich in die Unterschriftsbögen eintragen. Schließlich müsste die Opposition in einer dritten Stufe in der eigentlichen Abstimmung über die Abwahl mehr Stimmen mobilisieren als Maduro in der letzten Präsidentschaftswahl errungen hat. Kommt es zur Abwahl, so übernähme der rechte Parlamentspräsident bis zu einer Neuwahl des Staatspräsidenten die Amtsgeschäfte. Aber Maduro wird alles daransetzen, den Termin für das Referendum auf 2017 zu verschieben, denn dann würde laut Verfassung nach seiner Abwahl der amtierende Vizepräsident für die Dauer der Amtszeit bis 2019 die Amtsgeschäfte übernehmen. Solche Kalkulationen zeigen auch, dass die bolivarische Führung den Kampf rein aus gesetzlich-institutioneller und verfassungsrechtlicher Sicht angeht.
Die venezolanische Oligarchie fühlt sich natürlich durch die Wahlniederlagen in Argentinien und Bolivien sowie die Amtsenthebung von Dilma in Brasilien bestärkt. Sie sehen sich auf der Seite des „Siegers“ und wollen jetzt in Venezuela „das Regime stürzen“. Sie ist von Ungeduld erfasst und will am liebsten nicht einmal das Abwahlreferendum gegen Maduro abwarten, geschweige denn das offizielle Ende seiner Amtszeit.
Aber auch die Geduld der Massen ist am Ende. Vor einer Woche beschrieb ein Genosse aus Catia, einer revolutionären Hochburg in Caracas, die Situation folgendermaßen: „Bis vor wenigen Wochen konnte man vier, sechs oder acht Stunden anstehen und dann aber die Vorräte für die nächsten zwei bis drei Wochen einkaufen. Jetzt gibt es gar nichts mehr zu kaufen. Am Montag stand ich mit meiner Mutter in der Schlange und wir konnten nur Reis und Nudeln kaufen. Jetzt gibt es nichts mehr. Den Rest kriegst du nur noch auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen. Der Lohn reicht nicht mehr zum Leben. Die Nationalgarde bewacht mit Gewehren in der Hand die Supermärkte und hat schon die Schlange ein paar hundert Meter zurückgedrängt, um Plünderungen zu verhindern. In Aragua und Guarenas hat es schon kleinere Plünderungen gegeben.“
Unter diesen Umständen besteht die Gefahr, dass die Aufrufe an die Massen zur Mobilisierung gegen die drohende Konterrevolution auf taube Ohren stoßen. Die Massen haben immer wieder ihre Kampfbereitschaft und Entschlossenheit unter Beweis gestellt, die Revolution voranzutreiben. Aber sie sind absolut nicht überzeugt, dass ihre Führer wissen, wohin sie wollen oder wie sie dorthin kommen.
Militärputsch?
Die Kombination aus dem institutionellen Patt, einer tiefen Wirtschaftskrise und der von der Opposition herbeigesehnten zunehmenden Gewalt auf den Straßen könnte auch einen Teil der Armee dazu veranlassen, zu intervenieren, „um Recht und Ordnung wiederherzustellen“. Über die letzten Wochen gab es Gerüchte über einen baldigen Putsch. Am Dienstag, 17. Mai, rief der reaktionäre Oppositionsführer Capriles die Armee dazu auf, gegen den Präsidenten revoltieren, „um die Verfassung zu schützen“. Capriles kennt sich natürlich bei Putschen aus. Er war schon aktiv in dem kurzlebigen reaktionären Putsch im April 2002 verwickelt. Die obere Heeresleitung hat erneut ihre Loyalität zur bolivarischen Bewegung erklärt. Aber alles hat seine Grenzen.
Das ist eine sehr gefährliche Etappe für die bolivarische Revolution. Eine militärische Intervention, welche Form sie auch immer annehmen würde, wäre ein Vorspiel für die volle Übergabe der Staatsmacht in die Hände der Oligarchie. Ein Teil der bolivarischen Führung, allesamt korrupte, bürokratische und reformistischen Kräfte, bereitet sich schon auf einen „Seitenwechsel“ und ihre Mitwirkung an einer Art Übergangsregierung der „nationalen Einheit“ vor, so ihnen eine Art Immunität zugebilligt wird.
Während die eine Schicht der Bevölkerung müde und erschöpft ist, ist eine andere Schicht von fortgeschrittenen Aktivisten sauer und wütend und hat sich in Folge der Wahlniederlage im Dezember radikalisiert. Es gab eine Bewegung von unten, die die Radikalisierung der Revolution forderte.
Falls die bolivarische Regierung starke und entschiedene Taten gegen den alltäglichen Mangel in Angriff nehmen würde, könnte dies der revolutionären Begeisterung enormen Aufwind verschaffen. Solche Maßnahmen wären ein staatliches Außenhandelsmonopol; die Enteignung der Nahrungsmittelproduktion und eine Verteilungsstrategie der Güter unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter, Kommunalräte und der kleinbäuerlichen Produzenten; die Streichung der Auslandsschulden; die Enteignung der Banken und großen Unternehmen; ein nationaler, demokratischer Produktionsplan, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stillen. Dieses Programm würde bei energischer Umsetzung natürlich sofort einen noch größeren Konflikt und Zusammenstoß mit der Oligarchie Venezuelas und den Imperialisten hervorrufen, aber es hätte schlussendlich den Vorteil, dass damit die Unterstützung der Massen für die Revolution abgesichert und gefestigt würde, zumal die Menschen dann sähen, dass ihre Probleme ernsthaft angegangen werden.
Lasst uns keinen Illusionen anhängen. Falls die politische Rechte wieder die volle Kontrolle über den Staatsapparat erlangt (mit welchen Mitteln auch immer), wäre Venezuela keine „normale“, bürgerlich-kapitalistische Demokratie. Nein. Das Programm der herrschenden Klasse in einem von einer massiven ökonomischen und sozialen Krise geschüttelten Land liefe auf einen Krieg gegen die arbeitende Bevölkerung hinaus. Sie würden jede einzelne soziale Errungenschaft der Revolution zunichtemachen. Aber sie müssten auch mit dem äußersten Widerstand der Massen rechnen und daher würden sie die Bewegung mit Gewalt zu zerschlagen versuchen. Unter diesen Bedingungen wäre eine neue Massenerhebung wie im Caracazo von 1989 möglich.
Toby Valderrama und Antonio Aponte haben es sehr treffend in einem ihrer Artikel formuliert: „Die Regierung muss verstehen, dass Wirtschaftskrieg, Invasionen aus dem Ausland, Angriffe von ausländischen Wortführern, sei es [OAS-Generalsekretär] Almagro, sei es [Kolumbiens Ex-Präsident] Uribe, dass sie alle denselben Namen haben: Kapitalismus! Und sie lassen sich einzig und allein nur mit einer Waffe bekämpfen: dem Sozialismus. Es ist nicht möglich, sie mit dem Kapitalismus zu bekämpfen, weil dies keinen einzigen überzeugt und man so keinen Sieg erringen kann. Es gibt Zeiten der Entschlossenheit, egal ob du Revolutionär bist oder Kapitalist. Die Zeiten der Sozialdemokratie, in denen man feurige Reden halten und dann als Feuerwehrmann den Brand löschen und die Bewegung zurückhalten kann, sind beendet.“
Das stimmt. Der Versuch, den Kapitalismus zu regulieren, ist erneut fehlgeschlagen. Es gibt nur zwei Wege aus dieser Situation: Entweder zurück zum „normalen“ Kapitalismus (das bedeutet, die Arbeiter für die Krise zahlen zu lassen), oder vorwärts zum Sozialismus (das bedeutet, die Kapitalisten zur Kasse bitten).
Es ist noch nicht zu spät. Dies ist die Stunde äußerster Gefahr. Sie kann nur mit äußersten Maßnahmen und äußerster Stärke überwunden werden. Genug mit der Wankelmütigkeit. Führt die Revolution weiter bis zum siegreichen Ende!
Quelle: www.derfunke.ch… vom 30. Mai 2016 mit kleinen sprachlichen Korrekturen und Weglassung der Bilder durch die Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Breite Parteien, Lateinamerika, Neoliberalismus, Venzuela
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